Nach dem Attentat auf das indische Parlament

Die kriegerische Unversöhnlichkeit Indiens und Pakistans passt nicht zum Anti-Terror-Krieg der USA

02/02
 
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Mitten im Vernichtungsfeldzug Amerikas gegen Al-Kaida und Taliban verüben Islamische Fundamentalisten einen Selbstmordanschlag auf das indische Parlament. Es ist sofort klar, worum es geht: um das so genannte "ungelöste Kaschmirproblem". In den Augen der Attentäter handelt es ist dabei um ein großes nationales Unrecht, um die illegale Okkupation eines eigentlich zu Pakistan gehörenden Landesteiles durch Indien. Darum wollen die Angreifer einen möglichst symbolträchtigen Ort, ein Zentrum indischer Macht treffen. Gleichzeitig richtet sich das Attentat aber auch gegen die pakistanische Regierung, weil die sich von Amerika in den Kampf gegen die Taliban hat einspannen lassen. Die Muslim-Opposition wirft ihr vor, ihren nationalen Auftrag zu verraten, nämlich Kaschmir mit muslimische Bevölkerungsmehrheit heim ins pakistanische Vaterland zu holen. Die Einbindung in die Anti-Terror-Front hat Pakistan zwar eine deutliche Aufwertung in der Staatenwelt beschert und die Phase der internationalen Ächtung so gut wie abgeschlossen, aber was ist der Preis dafür? – Um den neuen Status zu wahren, nimmt der pakistanische Staat zum "gerechten muslimischen Befreiungskampf" neuerdings eine distanzierte Stellung ein, unterstützt– so unterstellen die Attentäter – diesen "Befreiungskampf" gerade in Kaschmir nicht mehr so wie früher, weicht seinen Hoheitsanspruch auf Kaschmir auf – und das ist in den Augen dieser Fundamentalisten Verrat an der nationalen Sache. Für die patriotische Gesinnung, derzufolge auf indischer Seite "(Staats-)Terrorismus", auf kaschmirisch-pakistanischer hingegen der gerechte Freiheitskampf zu Hause ist, hat die Regierung nach wie vor Verständnis, sie teilt sie sogar. Indien dagegen behauptet, dass hier genau der "Terrorismus" vorliege, der unter den "Anti-Terror-Krieg" fällt, also von allen Staaten in der Welt zu bekämpfen ist. Die indische Definition der kaschmirischen Separatisten als "Terroristen" will der pakistanische Präsident Muscharraf auf keinen Fall akzeptieren und er weigert sich zunächst auch, diese von Indien so genannte "Terroristen" – denen er den Ehrentitel "muslimische Freiheitskämpfer" nicht aberkennen will – bei sich zu verhaften zu lassen, geschweige denn an Indien auszuliefern.

Die ganze Sache rührt nämlich an den Kernbestand pakistanischen Selbstverständnisses, stellt all das in Frage, was diese Nation sich als nationalen Weg vorgenommen hat. Ihr Programm der nationalen Größe heißt: Pakistan will der Staat der südasiatischen Muslime sein und darüber hinaus eine Führungsmacht in der muslimischen Welt, die ein gewichtiges Wort bei der Ordnung der süd- & zentralasiatischen Staatenwelt mitzureden hat. Daher befindet sich diese Nation in einem unversöhnlichen Gegensatz zu Indien. Denn erstens ist der Anspruch, Heimat der Muslime auf dem indischen Subkontinent zu sein, solange nicht eingelöst, wie sich ein wesentlicher Volksteil unter indischer "Knechtschaft" befindet. Auf einem von Pakistan beanspruchten Gebiet herrscht widerrechtlich eine andere Macht – eine Folge der britischen Kolonialherrschaft, gegen die Pakistan schon drei Kriege geführt hat. Pakistan ist daher als Nation nicht fertig, die nationale Einheit ist nicht hergestellt, solange der hinduistische "Annexions- und Unterdrückerstaat" nicht aus Kaschmir hinausgeworfen ist. Zweitens ist damit auch Pakistans weitergehende Ambition, nämlich muslimische Führungsmacht zu sein, dauernd gefährdet, weil die Indische Union gerade an der Kaschmir-Frage immer neu vor Augen führt, dass sie Pakistans Anspruch, regionale Ordnungsmacht zu sein, an ihrer überlegenen Macht scheitert. Es ist also für Pakistan von elementarer Wichtigkeit, die "Kaschmirfrage" zumindest ‚offen‘ zu halten und sich dem status quo, dass Kaschmir de facto zu Indien gehört, niemals zu beugen. Wenn sich Pakistans Präsident Muscharraf nun doch auf indische Forderungen einlässt, also auch bei sich die von Indien beschuldigten "Terroristen" verfolgt, dann tut er dass, weil er einerseits die im Anti-Terror-Krieg gewonnene Aufwertung nicht gleich wieder aufs Spiel setzen, andererseits Amerika dazu bewegen will, auf Indien mäßigend einzuwirken. Gleichzeitig stellt er aber auch klar, dass ein Sich-Einlassen auf indische Forderungen kein Nachgeben ist: Der Anspruch auf Kaschmir wird nicht aufgegeben, die Truppen werden in Bereitschaft versetzt.

Das Problem, noch Landesteile einsammeln und eigene Bevölkerung von fremder Herrschaft befreien zu müssen, hat Indien nicht. Sein Programm der nationalen Größe geht davon aus, dass ihm die Vorherrschaft in Südasien zusteht, weil es über die dazu nötigen Mittel bis hin zur Atomwaffe verfügt. Daher verlangt Indien von den anderen Weltmächten, ihm in einem großen Bereich Asiens eine regionale Führungsrolle zuzugestehen. Gegenüber Pakistan nimmt die Indische Union den Standpunkt ein, dass der westliche Nachbar nicht im entferntesten den gleichen Rang wie sie beanspruchen kann. Er ist mit seinen territorialen Ansprüchen für Indien ein Störenfried für seine regionalen Vormachtinteressen, der entsprechend zu behandeln ist. Deswegen kommt es für Indien auch nicht in die Tüte, im "Konflikt" mit Pakistan irgendeine "internationale Vermittlung" zu akzeptieren: Ganz im Unterschied zu Pakistan beharrt Indien darauf, dass der von ihm besetzte Teil Kaschmirs ein untrennbarer Bestandteil der Indischen Union ist, über dessen staatliche Zugehörigkeit es daher nichts zu verhandeln gibt. Mit der Zustimmung zu einer Vermittlung durch andere Mächte würde Indien ja den Standpunkt Pakistans anerkennen, dass die Zugehörigkeit Kaschmirs noch eine "offene Frage" sei. Für Indien muss das "Kaschmirproblem" ein für allemal vom Tisch: Pakistan hat seine Ansprüche aufzugeben und die Unterstützung der "Terroristen" einzustellen. – Der "Krieg gegen den Terrorismus" ist für Indien ein passender Berufungstitel, da der "Freiheitskampf" um Kaschmir angesichts der indischen Überlegenheit nach drei von Pakistan verlorenen Kriegen nur noch als Guerilla-Krieg geführt wird – und so etwas Ähnliches bekämpfen die USA ja seit dem 11. September als "internationalen Terror". Wie Israel den von ihm so genannten "Terrorismus" der Palästinenser, so möchte auch Indien die Kaschmir-Kämpfer als Teil des "internationalen Terrorismus" endgültig erledigen.
Es stehen sich also zwei Staatsprogramme unversöhnlich gegenüber, die bis hin zur Atombombe über einiges an Gewaltmitteln verfügen und bereit sind, diese Unversöhnlichkeit mit eben diesen Gewaltmitteln auszutragen. Das passt den USA überhaupt nicht in den Kram. Nicht, dass ihnen eine solche Unversöhnlichkeit fremd wäre – da kennen sie sich selbst bestens aus. Zur Weltmacht sind sie ja genau dadurch geworden, dass sie in der Vergangenheit ihre Kriege mit überlegener Gewalt gewonnen haben. Aber gepasst hat ihnen diese Unversöhnlichkeit schon länger nicht, weil damit die Region immer wieder "destabilisiert" wurde, was ihren Ordnungsansprüchen störend in die Quere kam und was sie deshalb immer wieder eindämmten.
Mit ihrem als "Kampf gegen Terror" geführten Krieg in Afghanistan rühren die USA und ihre Verbündeten die Kräfteverhältnisse in der Region nun zusätzlich auf: Sie etablieren sich als direkt im Zentrum Asiens operierende Macht und beanspruchen von den Staaten vor Ort Unterordnung unter das amerikanische Programm "Ausrottung des internationalen Terrors". So zwangen sie Pakistan eine Änderung seiner regionalen Politik auf, über die Taliban-Regierung Afghanistan unter seinen Einfluss zu bekommen. Und jetzt erinnern sie Indien und Pakistan daran, dass sie doch wohl noch immer untergeordnete Mächte sind, die sich an das Szenario zu halten haben, das für ihre Gegend als Hauptszenario vorgesehen ist. Amerika und seine Verbündeten befinden sich in voller kriegerischer Aktion und verlangen von Pakistan, dass seine Armee als Grenzschutz fungiert, der den Feinden aus Afghanistan den Fluchtweg abschneidet. Daran gemessen ist der Einsatz dieser Armee gegen Indien eine Zweckentfremdung. Für Indien gilt Ähnliches: Jetzt unter dem Titel "Terrorismusbekämpfung" Pakistan militärisch schwächen zu wollen, würde die Hilfsdienste gefährden, für die Pakistan im Anti-Terror-Krieg eingespannt ist. Beide Mächte sollen ihre Ambitionen am Bedürfnis der USA relativieren, die die weltweit entscheidende Richtlinienkompetenz für sich reklamieren. Amerika und seine Verbündeten dirigieren den ihren Interessen entsprechenden Einsatz von Gewalt, andere Staaten haben ihren Gewalthaushalt nach amerikanischem Bedarf ein- und auszurichten.

Wenn die so zurechtgewiesenen Staaten sich diesem Anspruch fügen, dann nennt man das "Frieden": Den haben jetzt Indien und Pakistan zwischen sich einzuhalten. Als erstes sollen sie anerkennen, dass Amerika alle Staaten unter dem Gesichtspunkt seines "Kriegs gegen den Terror" durchmustert und beurteilt, also auch deren selbständige Definitionen, was sie unter "Terror" oder "Befreiungskampf" verstehen, nicht gelten lässt. Beiden Staaten wird bedeutet, dass das Wichtigste für sie sein muss, Freunde Amerikas zu bleiben, oder umgekehrt: dass sie sich die Feindschaft Amerikas zuzögen, wenn sie ihre Streitigkeiten über das amerikanische Interesse an einer stabilen südasiatischen Front im Anti-Terror-Krieg stellten. Die USA ergreifen für keinen der beiden Staaten Partei, sondern verlangen von beiden Staaten, dass sie ihre existenzielle Feindschaft zurückstellen, weil sie zum Interesse Amerikas, seine "Terroristen auszurotten", nicht passt: Pakistan soll sich mit dem status quo abfinden und den "terroristischen" Befreiungskampf um Kaschmir unterbinden. Damit muten sie Pakistan zu, es sich de facto abzuschminken, seine islamische Staatsgründung mit der "Befreiung" Kaschmirs zu vollenden. Indien soll sich bei der militärischen Bekämpfung der kaschmirisch-pakistanischen "Terroristen" auf sein Territorium beschränken und sich bei ihrer Verfolgung auf pakistanischem Boden mit dem Nachbarn ins Benehmen setzen. Die USA billigen Indien das Recht nicht zu, das sie sich als Weltmacht bei der Verfolgung der Kaida Bin Ladens genommen haben, nämlich das Land mit Krieg zu überziehen, das sie zum "sicheren Hafen des Terrors" erklärt haben. Damit weisen die USA den Anspruch Indiens auf den Status einer asiatischen Führungsmacht zurück, die es sich herausnehmen dürfte, aus eigenem Recht zu definieren, was "Terror" ist und mit welchen Mitteln sie dessen "Urheber und Unterstützer" ohne Rücksicht auf internationale Grenzen bekämpfen will.

Editoriale Anmerkung:

Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags wurde in Radio Lora am  14. Januar 2002 gesendet. Das Partisan.net erhielt den Text zur weiteren Verbreitung, dort erschien er als Kommentar der Woche.