Editorial
Begriff & Praxis

von M.I.R.I.A.M.

02/02
 
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1966. Rudi Dutschke erarbeitet für den SDS ein Schulungsprogramm, mit dessen Hilfe der Einfluss der anti-autoritären Kräfte im Verband gegenüber den "Traditionalisten" gestärkt werden soll. Rudi investiert, wie Gretchen Dutschke in ihrem Buch "Wir hatten ein barbarisch schönes Leben" schreibt, viel Zeit und Mühe, um diesem Anspruch zu genügen. Etliche verschollene und vergessene, linkskommunistische und anarchosyndikalistische Schriften werden entdeckt und in die Leseliste aufgenommen. Als Raubdrucke sollten sie später "vermasst" werden.

Liest man Rudi Dutschkes Literaturliste aus heutige Perspektive, dann fällt auf, dass für die theoretisch-analytische Begründung der damaligen politische Hauptaufgabe, nämlich in den Metropolen die Solidarität mit dem Vietcong zu organisieren, nur Lenins Schrift "Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus" (1917) genannt wird, während die anderen imperialismuskritischen Schriften, die Rudi auflistet, wie etwa das von ihm besonders hervorgehobene Buch von  Baran/Sweezy "Monopoly Capitalism", letztlich nur deskriptive Verlängerungen der Leninschen Imperialismustheorie darstellen.

Dies ist freilich nicht verwunderlich. Denn die Leninsche Imperialismustheorie war mit ihrer Fokussierung auf den "Monopolkapitalismus" nicht nur der konsequent zu Ende geführte Versuch, den Kapitalismus im Niedergang und als Imperialismus zu analysieren, wie dies in der II. Internationale begonnen wurde (Kautzky, Hilferding), sondern schien auch 50 Jahre später die theoretisch adäquate Erklärung der "Weltlage" zu sein, wo in den Metropolen das bestochene Proletariat vor sich vegetierte, während in den Peripherien der "revolutionäre Volkskrieg" tobte.

Ziemlich zeitgleich brodelten in der Halbweltstadt Westberlin in der Jugendszene Aufruhr & Revolte. Ralf Reinders beschreibt 1995 rückblickend in dem Buch "Die Bewegung 2.Juni, Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast" anschaulich dieses Klima anhand des legendären Rolling-Stones-Konzert im Jahre 1965, als die westberliner Waldbühne - ansonsten Treffpunkt von Heimatvertriebenen und Kirchentagen - zu Bruch geht. Rund 200 Jugendliche werden verhaftet. Darunter etliche, die wenige Jahre später abtauchen werden, um in den Metropolen den "bewaffneten Kampf" aufzunehmen - gemäß der Losung Che Guevaras, den US-Imperialismus weltweit anzugreifen und zwar überall, wo es möglich ist.

Dutschkes theoretische Anstrengungen eine antiimperialistische Politik aus der korrekten Analyse der realen Verhältnisse abzuleiten, auf der einen Seite; die jugendliche Revolte gegen die "Bullen" und alle andere "Charaktermasken" der Unterdrückung, auf der anderen Seite - Begriff und Praxis; wie kam das zusammen?

Dieser Frage werden Günter Langer, Bommy Baumann, Till Meyer und Karl-Heinz Schubert in den Februar Nachtgesprächen mit dem Titel "Der ultimative Anti-Imperialismus" am 15.2.2002 nachgehen.

Die trend-Redaktion unterstützt dieses Anliegen, indem wir mit einem "trend-spezial"(*) Imperialismus - Begriff & Praxis vergessene und/oder nicht mehr zugängliche Texte veröffentlichen, um sie dieser Diskussion zuzuführen.

Natürlich macht ein Blick zurück nur Sinn, wenn er getragen ist von dem Anspruch, ihn dadurch besser - d.h. politisch wirksam - nach vorn richten zu können. Von dieser Intention werden die Februar-Nachtgespräche bestimmt sein, wie ihre Bezugnahme auf den "11.September" aufweist.

Wir sehen uns am 15.2. im Mehrighof!

 

*) In der Januar-Ausgabe gab es bereits ein trend-spezial zu Frantz Fanon, das im direkten inhaltlich Zusammenhang mit dieser Veranstaltung steht.