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Der vorliegende Artikel war als Reaktion auf die erbittert geführte Debatte um Wertkritik, Postmoderne und die korrekte Analyse des Nationalsozialismus in der Jungle World Mitte letzten Jahres gedacht. Angesichts des kreuzzugsartigen Charakters der wertkritischen Polemiken gegen die postmoderne Verwelschung des deutschen Linksradikalismus konnte man den Eindruck gewinnen, daß einige die Frage ‘links oder deutsch’ wieder gerne etwas traditioneller übersetzen würden. Z.B. als weitgehend argumentfrei und a priori zu treffende Entscheidung zwischen wertkritisch-adornitischen und poststrukturalistischen peergroups. Inzwischen erscheint mir diese Frontstellung – auch vor dem Hintergrund der politischen Situation abseits der linken Debatten – bizarrer denn je und mein Argumentieren gegen den wertkritischen Furor etwas zu geduldig. Liegt das Hauptquartier des intellektuellen Neofaschismus wirklich in Paris? Umgekehrt: Hätte Ignatz Bubis seine Worte gegenüber Martin Walser mäßigen sollen, wo er doch beim Marx- und Adorno-Spezialisten Wolfgang Pohrt in Konkret hätte nachlesen können, daß es in Deutschland eigentlich keine Nationalisten mehr gibt, sondern nur Vasallen des US-Imperialismus? Da aber inzwischen sogar schon Buchprojekte angekündigt sind, die auf dem vorgegebenen Niveau den ‘Postmodernismus’ erledigen sollen, lohnt es sich vielleicht auch mit einiger Verspätung noch, einen Blick auf die Aporien neuerer Rezeptionen von Kritischer Theorie und Wertkritik zu werfen.

Für das ‘Nie wieder Deutschland’-Spektrum im Umfeld der Zeitschriften Konkret, Bahamas, 17°C et al. war es zunächst nicht selbstverständlich, ihre Einschluß-/Ausschlußkriterien an der theoretischen Präferenz von Foucault und Butler oder Marx und Adorno auszurichten. Die Reaktionen der traditionsmarxistischen und bewegungsorientierten Linken auf die deutsche Einheit waren so hilflos und desaströs, daß sich die Konkret-Redaktion im Dezember 1994 sogar zu der Bemerkung hinreißen ließ, daß man "von der als postmodern verpönten bohemistischen Linken und ihrem dekonstruktivistischen Ansatz gerade in der Diskussion über Nation und Nationalismus einiges lernen kann und einiges bereits stillschweigend übernommen hat. Hier wäre in der nächsten Zeit über die Tragweite dieser Importe und ihre Folgen für erkenntnistheoretische Aspekte des Materialismus weiterzudiskutieren, was dann auch für die Rassismus- und Sexismusfrage von Bedeutung sein wird". Staat, Volk und Nation waren auch für viele Linke vor 1989 unhinterfragte Realitäten, die lediglich mit dem richtigen Inhalt zu füllen seien. Die kritische Destruktion dieser vorgängigen Evidenzen war die Vorbedingung für jede weitere linksradikale Theorie und Praxis gegen Deutschland.

Von einer antinationalen Kritik an poststrukturalistischen und postmodernen Theorien war zu erwarten, daß sie nicht die Zersetzungsphobien reaktionärer Kulturkritik reproduziert, sondern daß sie im Gegenteil nachweist, warum diese Theorien nicht zu einer Kritik gesellschaftlicher Ontologien taugen oder diese sogar reproduzieren. Eine solche Beweisführung ließ das Gros der ‘endgültigen Abrechnungen’ des letzten Jahres vermissen. Eher wirken sie wie Versuche der Kritiker, die kursierenden Klischees über die jeweiligen eigenen theoretischen Präferenzen noch zu überbieten. "Die allgemeine und anhaltende Faszination der Postmoderne verdankt sich wohl der Tatsache, daß man keinen Text von Derrida, Lyotard oder Butler gelesen haben muß, um an der ‘Postmoderne’ teilzuhaben. Ausschlaggebend ist nicht deren Inhalt ... sondern ein bestimmter Gestus des ‘Aufräumens’, ‘Tabula-rasa-Machens’, der sich in bestimmten Stichworten indiziert"1 – wie z.B. ‘Wert’, ‘(Un-)Wesen’ oder ‘Kritik’.

Dabei ist keineswegs klar, welche ‘Substanz’ denn nun eigentlich von welcher ‘Zersetzung’ bedroht ist. Wohlwollend könnte man als Ausgangspunkt des Streits die wertkritische Verteidigung der ‘Wertsubstanz’ gegen deren unterstellte ‘postmodernistische’ Auflösung im Diskurs sehen. So wäre hinter den antifranzösischen Tiraden der Versuch zu vermuten, die positivistische Negation der Realabstraktion des Werts bzw. dessen Interpretation als selbstreferentielle ‘Zeichenökonomie’ (Baudrillard) zu kritisieren. Bereits Marx mußte sich mit den Frühformen der gegen Ricardo ins Feld geführten subjektiven Wertlehre auseinandersetzen, die kein bestimmtes "Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit" als gemeinsames Drittes der Waren gelten lassen wollte, sondern nur eine willkürliche, durch Angebot und Nachfrage definierte quantitative Relation. Marx wendet sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Ökonomen Samuel Bailey gegen eine "Art der Kritik, die die in den widersprechenden Bestimmungen der Dinge selbst liegenden Schwierigkeiten gern als Reflexionsprodukte oder Widerstreit der definitions wegschwatzen will. [...] Die Widersprüche, die daraus hervorgehn, daß auf Grundlage der Warenproduktion Privatarbeit sich als allgemeine gesellschaftliche darstellt [...] liegen in der Sache, nicht in dem sprachlichen Ausdruck der Sache"2.

Der Begriff der ‘Wertsubstanz’ macht also nur Sinn im Zusammenhang der "widersprechenden Bestimmungen der Dinge selbst". Einigkeit müßte deshalb über den von Slavoj Zizek als Gemeinsamkeit von Marx und Freud konstatierten Versuch bestehen, "to avoid the properly fetishistic fascination of the ‘content’ supposedly hidden behind the form [...] the real problem is not to penetrate to the ‘hidden kernel’ of the commodity – the determination of its value by the quantity of the work consumed in its production - but to explain why work assumed the form of the value of a commodity, why it can affirm its social character only in the commodity-form of its product"3 . Es ist die Marxsche Strukturanalyse des Kapitals selbst, die sich hart am Abgrund des ‘Strukturalismus’ bewegt, da sie keinen positiven ‘wirklichen Menschen’ oder eine frühbürgerliche Idylle mehr als positiven Maßstab gegenüber einer kapitalistischen Verfallsgeschichte zur Verfügung hat.

Die Kritik der politischen Ökonomie fällt im Kampf gegen die "Philosophie des Nazismus und seine postmodernen Parteigänger"4 jedoch etwas schlichter aus, als die von dem zu Unrecht vereinnahmten Hans-Georg Backhaus geforderte ‘Bestimmung ihres Gegenstandes als Ganzes verrückter Formen’. Im Eifer des Gefechts gegen Foucaults Nominalismus definiert die Freiburger ISF (ich unterstelle einmal: wider besseren Wissens) den Wert so, wie sie es dem traditionellen Marxismus vorwirft: als "Okkultwissenschaft des Blicks hinter die Kulissen". Dem postmodernen "Konsum des schönen Scheins der Zirkulation" werden die arbeitsontologisch bestimmte "reale Produktion von Wert" oder Gebrauchswerte, "die unter der Ware sich verstecken",5 entgegengehalten. An anderer Stelle wird gegen "Foucaults unfreiwillige Anthropologie" ausgerechnet das lebensphilosophische Argument ins Feld geführt, "daß der kapitalistische Produktionsprozeß die Lebendigkeit der Individuen in das leblose Funktionieren einer abstrakten Form von Vergesellschaftung verkehrt".6

Die Wertkritik ist ‘wahr’, weil der Wert der ISF im Gegensatz zum Diskurs "etwas zur Basis hat, das in der Wertform gerade nicht erscheint"7: die ‘reale Produktion von Wert’, oder: Arbeit schlechthin im vorkritischen Sinne Ricardos. Die abstrakte Negation des poststrukturalistischen Nominalismus führt sozusagen Ricardos ‘substantielle’ Arbeitswerttheorie gegen den ‘postmodernistischen’ subjektiven Idealismus Baileys ins Feld, anstatt beide Theorien als immanente Reflexionsformen desselben ‘real-idealen’ ‘sinnlich-übersinnlichen’ gesellschaftlichen Verhältnisses zu kritisieren. Es interessiert also weder der Wert als gesellschaftliches Verhältnis noch die Besonderheit der Erscheinungsform kapitalistischen Reichtums. Stattdessen wird eine willkürliche Dichotomie von Schein und Sein, eines positiven ‘Inhalts’ hinter der negativen ‘Form’ des Kapitals konstruiert. Aus dem Problem, daß im Kapitalismus die Form des Produktionsverhältnisses zum gesellschaftlichen Inhalt wird, ist aber nicht durch die Beschwörung gesunder Inhaltsbezüge gegen die Seuche des postmodernen Formalismus herauszukommen, sondern nur durch immanente Kritik.

Gegen die ableitungs- und subsumtionslogische Wertkritik bleibt festzuhalten, was diese selbst einmal wußte. Daß die Darstellung des objektiven Zwangscharakters der gesellschaftlichen Reproduktion "ihren kritischen Gehalt erst dann gänzlich einlöst, wenn sie ihre Grenzen kennt, wenn sie angeben kann, wodurch die Quasi-Naturgesetze der kapitalistischen Reproduktion entbunden – und wodurch sie im Falle krisenhafter Störungen und Stockungen wieder in Kraft gesetzt werden."8 Es ist gerade die komplementäre Differenz von Kapital und Staat (Familie, Geschlechterverhältnis etc.), die Wertproduktion – auch im Zeitalter der postmodernen Ware-Geld-Monade – erst möglich macht. ‘Der Wert’ ist nicht an sich, sondern nur als vermittelt Konstituiertes das Konstituens der Gesellschaft.

Die Kritische Theorie, und insbesondere Adornos Schriften, dienen in diesem Zusammenhang eher als Fundus für Merksprüche aus dem dialektischen Schatzkästlein denn als theoretische Basis. Es läßt sich jedoch nicht wegdiskutieren, daß die verkürzte Wertkritik auch einen Referenzpunkt im amorphen und zivilisationsgeschichtlich universalisierten Tauschbegriff zumindest der frühen Kritischen Theorie hat. Der Tausch ist nach der Dialektik der Aufklärung die rationalisierte Form des Opfers, Opfermythologie mit den Mitteln der Aufklärung. "Ist der Tausch die Säkularisierung des Opfers, so erscheint dieses selber schon wie das magische Schema rationalen Tausches, eine Veranstaltung der Menschen, die Götter zu beherrschen, die gestürzt werden gerade durch das System der ihnen widerfahrenden Ehrung."9 Es ist häufig genug auf die fundamentale Differenz zwischen dem Tauschbegriff bei Horkheimer/Adorno und der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie hingewiesen worden.10 Als Vorwurf an die Kritische Theorie ist diese Feststellung insofern ungerecht, als es sich bei der Dialektik der Aufklärung nicht um einen Fortsetzungsroman des Kapital, sondern um eine radikale Kritik der Formen bürgerlicher Rationalität handelt. Allerdings verschwimmen in einer Analyse, die die Homersche Odyssee zum – nicht nur metaphorischen – Modell herrschaftlicher Subjektkonstitution macht, die Unterschiede zwischen kapitalistischen und vorkapitalistischen Formen der Herrschaft. Als historischer ist der kritisch-theoretische Tauschbegriff nicht weniger unspezifisch als der verfemte Machtbegriff bei Foucault.

Horkheimers 1940 am Beispiel des deutschen Faschismus ausgeführte These, im Spätkapitalismus werde das "Dorado der bürgerlichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation" durch die Monopole beseitigt11, steht nicht im Widerspruch zum universalisierten Tauschbegriff, sondern ergänzt ihn. Ihr gemeinsames Drittes ist laut Horkheimer/Adorno die ‘alte (Willkür-)Herrschaft’, die im 19. Jahrhundert lediglich für einen minoritären Teil der Gesellschaft – die liberale Bourgeoisie – suspendiert war und nun mit voller Macht zurückkehrt. "[Konkurrenz-]Ökonomie ist ein Sonderfall der Ökonomie. Nicht haben die Tauschgesetze zur jüngsten Herrschaft als der historisch adäquaten Form der Reproduktion der Gesamtgesellschaft auf der gegenwärtigen Stufe geführt, sondern die alte Herrschaft war in die ökonomische Apparatur zuzeiten eingegangen, um sie, einmal in voller Verfügung darüber, zu zerschlagen und sich das Leben zu erleichtern. [...] Die Geschichte ist, nach dem Bilde der letzten ökonomischen Phase, die Geschichte von Monopolen. Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und Arbeit heute verübt wird, ist sie die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Rackets."12

Es ist nicht ganz klar, wie mit dieser Monopoltheorie die von den WertkritikerInnen aller Couleur geforderte "Rekonstruktion eines Begriffs der kapitalistischen Zusammenbruchskrise"13 geleistet werden soll. Trotzdem brachten Horkheimer, Adorno und erst recht deren Epigonen die Dialektik der Aufklärung immer wieder in einen unmittelbaren, unvermittelten Zusammenhang mit Marx. An einem Amalgam beider Theoriestränge haben sich bereits in den 70er Jahren Stefan Breuer, Wolfgang Pohrt, Frank Böckelmann u.a. versucht.

Die Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie in der bundesdeutschen Linken ist höchst ambivalent. Am Anfang der antiautoritären Revolte von 1968 stand die Distanzierung von der ‘Praxisfeindschaft’ der Überväter aus Frankfurt, die bald in die ‘organisationspraktischen Stabilisierungen’ des Neoleninismus und Reformismus mündete. Auch diejenigen Intellektuellen, die dieser Dogmatisierung nicht folgen wollten, legten bei dem Versuch, das Scheitern der Neuen Linken zu erklären z.T. eine ähnliche Naivität an den Tag wie ihre innerlinken Gegner, die Anhänger der volkstümelnden ‘revolutionären Praxis’. Der mißlungenen praktischen Aufhebung der Kritischen Theorie sollte nun ihre theoretische Überbietung folgen. In Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts und Stefan Breuers Krise der Revolutionstheorie erhält Adornos Begriff der ‘Nichtidentität’ (wider Adornos Warnung vor dessen Verdinglichung) als ‘Gebrauchswert’ Subjektstatus: "Und solange die Kritik auf ihn sich berufen konnte, solange die Wertabstraktion mit einem anderen Prinzip konfrontiert war, auf das sich eine mögliche Neuorganisation der Produktion stützen konnte – solange war die kapitalistische Produktionsweise als eine bloß transitorische gekennzeichnet."14 Diese begriffliche Operation diente nun jedoch nicht mehr dem Ziel gesellschaftsumwälzender Praxis, sondern dem Nachweis, daß der einst die revolutionären Potentiale des Kapitalismus repräsentierende Gebrauchswert im Spätkapitalismus endgültig vom Wert und/oder den Monopolen zerstört worden sei. Bei Adorno ist die Tatsache, daß radikale Gesellschaftskritik weder ein Subjekt a priori noch eine ‘historische Notwendigkeit’ ihrer praktischen Umsetzung kennt, Ausgangspunkt der Fragestellung, wie eine solche Kritik trotzdem möglich sei. Pohrt, Breuer und anderen dient dieser Zustand lediglich als Anlaß melancholischer Spekulationen und ist damit der Endpunkt der Reflexion.

Die Aporien der 68er-Rezeption der Kritischen Theorie zeigen nur besonders deutlich deren theoretische Unschärfen auf: Die von Adorno konstatierte totalitäre Harmonie der ‘formierten Gesellschaft’ ist keine ökonomische, sondern eine politische. Beides gleichzusetzen schien nicht nur in Bezug auf die Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus, sondern auch auf die fast krisenfreien Nachkriegsjahrzehnte des postfaschistischen Volksstaats BRD plausibel. Die von Frank Böckelmann vermutete ‘Durchbrechung der Warenform’ zugunsten einer politischen Kontrolle des Wertgesetzes15 hat jedoch nie stattgefunden.16 Eine ‘Neue Ordnung’ war der Nationalsozialismus, weil er die antisemitische Interpretation des Werts als Dichotomie von gebrauchswertschaffendem und tauschwertraffendem Kapital in eine umfassende Weltanschauung und schließlich in einen mörderischen ‘Rassenkampf’ gegen die Juden transformierte, und nicht, weil er die kapitalistische Wertproduktion abgeschafft hätte.

Adorno nahm die Unhaltbarkeit der These einer politischen Ökonomie des staatskapitalistischen Monopols nach 1945 durchaus wahr. Er reagierte darauf jedoch nicht mit der offensiven Neuformulierung einer Kritik der politischen Ökonomie im Rahmen des Instituts für Sozialforschung. Vielmehr ließ er die unbrauchbar gewordenen Begriffe ‘Monopol’, ‘Rackets’ etc. stillschweigend fallen oder stellte sie zumindest nicht mehr ins Zentrum seiner Überlegungen. Stattdessen arbeitete er an einer Methodologie negativer Dialektik, die den Stand kapitalistischer Vergesellschaftung nicht durch den unmittelbaren Zugriff auf das "ausgesparte Zentrum" der Ökonomie analysiert, sondern durch eine konstellativ vorgehende Philosophie- und Erkenntniskritik.17 Adorno weist an verschiedenen Stellen darauf hin, daß die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik nicht allein davon abhängt, daß die Totalität der Gesellschaft erfaßt werde. Nur die Erfahrung und kritische Durchdringung des Einzelnen kann die Perspektive einer Kritik jenseits des vorgängig bestimmten Außenstandpunkts (der Arbeiterklasse oder anderer revolutionärer Subjekte) offenhalten. Marx konnte Kritik noch als ‘Kopf der Leidenschaft’, d.h. der revolutionären Praxis formulieren, damit stellten sich die erkenntnistheoretischen Fragen der Kritischen Theorie für ihn nicht. Je fragwürdiger die ‘historische Mission’ des Proletariats wurde, desto trickreicher mußte der kritische Marxismus seit Lukács agieren, um das Phantasma einer harmonischen Einheit von Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten. Die Kritische Theorie Adornos verwirft diese Vorannahme, womit sich ihr theoretischer Blickwinkel im Vergleich zu Marx fundamental verändert. Wo Gesellschaftskritik keinen Weg zu ihrer unmittelbaren praktischen Umsetzung zeigen (und sich deshalb nicht als ‘wahres Ganzes’ aufspielen) kann, stellt sich die Frage nach ihren Prämissen und den Bedingungen ihrer Möglichkeit. "Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rückhaltlos zu kritisieren."18

Wenn Negative Dialektik weder positivistische Wissenschaft noch ML-Geschichtsmetaphysik sein soll, kann die immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nur in begrifflichen "Konstellationen" formuliert werden, als "Versuche, durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht, anstatt ihn für operative Zwecke zu umreißen."19 Ein Verfahren, das mit dem ‘kritisch Erledigen’ von Bahamas, ISF oder auch der Krisis wenig zu tun hat. Dort wird das Problem der Repräsentation des Besonderen im Allgemeinen mit dem Verweis auf das ‘automatische Subjekt’ Wert beiseitegewischt. Die Metaphysik der Substanz wird in eine Metaphysik des Werts transformiert. Als Gegenspieler einer so verstandenen ‘totalen Vergesellschaftung’ dürfen dann ab und an sogar wieder völlig unvermittelt ‘die Lebendigkeit der Individuen’ oder wenigstens deren ‘Natursubstrat’ auftreten.

Spätestens nach 1989 stellte sich jeder ernstzunehmenden linksradikalen Theorie in der BRD die Aufgabe, das historische und aktuelle ‘Wesen’ des wieder souverän gewordenen Monstrums ‘Deutsche Nation’ zu erkunden. Die Mehrheit der Personen, die dafür in den Zeugenstand gerufen wurden (Jean Améry, Hannah Arendt oder Bomber Harris) waren alles, nur keine MarxistInnen. Die Vermittlung von kapitalistischem Allgemeinen und deutschem Besonderen muß vor diesem Hintergrund völlig neu bestimmt werden. Die Ausgangsfrage, worin das spezifische german problem besteht, ist schließlich eine strikt ‘nominalistische’, die sich mit dem theoretischen Instrumentarium des traditionellen Marxismus nicht beantworten läßt. Es ist deshalb kein Wunder, daß poststrukturalistische Mikroanalysen des deutschen Rassismus und Antisemitismus zunächst nicht weniger Bestand hatten als die mühsam erarbeitete antideutsche Staats- und Wertkritik.

Wo der Wert aber die Ursuppe bürgerlicher Vergesellschaftung ist, die alles weitere subsumiert, werden historische Zäsuren wie der Nationalsozialismus zwangsläufig zu beliebigen Ereignissen oder folgenlosen ‘Übergangsphänomenen’ kapitalistischer Modernisierung banalisiert, wie es die Krisis 1991 anläßlich des Golfkriegs tat: "Die eigenwillige, mörderische Verknüpfung von Kritik der gesellschaftlichen Abstraktion und Verallgemeinerung der abstrakten Arbeit bleibt historisch ebenso ein Übergangsphänomen wie die Herausbildung allgemeinverbindlicher Staatsideologien und die staatliche Massenmobilisierung überhaupt. [...] Selbsttragendes Wirtschaftswachstum und Massenkonsum boten dem [nach 1945] weiter vorrückenden Regiment der deutschen abstrakten Wertarbeit ein verläßlicheres und ungefährlicheres Terrain, und so war der Judenhaß als Staatsdoktrin überflüssig geworden."20 Auch die sich antideutsch wähnende Wertkritik von Bahamas und ISF nähert sich dieser Postion in dem Maß an, wie sie zwanghaft versucht, nicht nur die antisemitische Ideologie, sondern auch die Praxis der deutschen TäterInnen umstandslos unter eine allgemeine Logik warenproduzierender Gesellschaften zu subsumieren. Während Deutschland für den normallinken Alltagsverstand immer noch ein "stinknormaler Imperialismus" und der deutsche Rassismus und Antisemitismus eine "blutige Fußnote" (Karl Held) dieses Imperialismus sind, drehen Bahamas und ISF den Spieß um: Die ganze kapitalistische Welt ist ein potentieller Nationalsozialismus und "erklärungsbedürftig" ist nicht mehr die Shoah, sondern "die Umstände, die in anderen autoritären Staaten die mörderische Dialektik des fixen Kapitals daran gehindert haben, sich einen derart adäquaten Ausdruck zu verschaffen, wie es Auschwitz war"21. Die nationale Differenz zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern wird in eine universalhistorische zwischen fortschrittlich-liberalem Ursprung und völkischer Regression der bürgerlichen Gesellschaft überführt. "Die Auflösung frühbürgerlicher Zivilisation in panische Gemeinschaften von getriebenen Wertanhängseln läßt vom selbstbewußten citoyen, den es in einer längst zurückliegenden Periode gegeben hat, nichts mehr übrig. Die räsonierenden Waren und Argumententauscher des 18. Jahrhunderts sind längst zu kulturalistischen, regionalistischen oder ethnischen Zwangskollektiven mutiert."22

Nimmt man dagegen die These eines spezifisch deutschen Wegs in den Kapitalismus ernst, dann liegt die Annahme näher, daß gerade hier, wo der preußisch-deutsche Staat die Bourgeoisie von Anfang an als Staatsbürgertum organisierte und als Treuhänder von Kapital und Arbeit zugleich auftrat, die antisemitische und autoritäre Charaktermaske ‘gleichursprünglich’ mit der ihr entsprechenden kapitalistischen Formierung entstand. ‘Der Jude’ war von Anfang an das Gegenbild zur national-sozialen Produktivgemeinschaft der Deutschen, ihr Antisemitismus kein Verfallsprodukt goldener Zeiten ‘frühbürgerlicher Zivilisation’. (Das war nicht zuletzt einst eine zentrale These der Bahamas.)

Bestimmte wertkritische Erwägungen zum Nationalsozialismus bemühen immer wieder die Bilder angstgeplagter, wahnsinniger, also irgendwie doch bedauernswerter TäterInnen. Es scheint um (psychisch) leidende Menschen zu gehen, die die Ursache ihres kapitalistisch bedingten Leids auf die Juden projizier(t)en und diese deshalb vernichten wollten. Der historische Ort der Shoah wird zur Nebensache, wenn bloß die Scheintotalität des Weltkapitalismus erhalten bleibt: "Antisemitismus ist in allen warenproduzierenden Gesellschaften angelegt, weil sie das am Verwertungsprozeß Unbegreifliche verfolgungswahnsinnig rationalisieren müssen und auf die Konkretion des unverstandenen Prinzips drängen und [es] stellvertretend totschlagen wollen."23 In dieser in einem Satz ‘auf den Punkt’ gebrachten Psychologie des bürgerlichen Subjekts erscheint Auschwitz als spontanes Pogrom schizophrener Ware-Geld-Monaden. Unterschlagen wird, daß der Nationalsozialismus sich gerade als Radikalkur jenes deutschen Leidens am ‘unverstandenen Prinzip’ des Kapitals verstand und von den VolksgenossInnen so verstanden wurde.

Die historischen Konkretionen treten im Orbit der ‘Totalität der Wertvergesellschaftung’ aber zwangsläufig in den Hintergrund und bleiben den ‘Positivisten’ überlassen. Gerhard Scheits verdienstvolle Würdigung von Jean Améry24 in der Bahamas hätte z.B. schlecht in die eine Nummer zuvor unternommene endgültige Abrechnung mit den Todfeinden der Wertkritik gepaßt. Schließlich war Améry Schüler des Wiener Positivisten Carnap, der laut Bahamas-Redaktion "seine ideologische Nähe zum Freiburger Existentialontologen" Heidegger nur notdürftig kaschieren konnte und deshalb – wertkritisch–konsequenzlogisch gedacht – wohl eine Art Nazi gewesen sein muß.25 Améry hat als Auschwitz-Überlebender nach 1945 immer wieder über die Selbstaufhebung der bürgerlichen Aufklärung im Nationalsozialismus reflektiert, ohne deshalb sein eigenes emphatisches Bekenntnis zu dieser Aufklärung in Frage zu stellen. Er hat aus diesem Widerspruch heraus offensichtlich einen schärferen Blick auf die Spezifik der deutschen Verhältnisse entwickelt als die Kritische Theorie. In diesem Punkt war Améry "der radikalere Denker der negativen Dialektik" (G. Scheit), ohne daß er deswegen als "der radikale Denker der negativen Dialektik" (Bahamas) in die Gemeinschaft der ‘fundamentalen Wertkritik’ zu integrieren wäre.

Wenn die Metapher der panisch getriebenen, atomisierten Wertanhängsel etwas trifft, dann das Grauen der anständigen Deutschen vor dem ‘Chaos’ und der ‘Selbstzerfleischung’ der Nation in der Weimarer Republik. Der Nationalsozialismus beseitigte diesen Zustand, und es stellt sich die Frage, ob die ‘schweren Jahre zwischen 33 und 45’ für die Mehrheit der Deutschen nicht eine glückliche Zeit nie gekannter Harmonie waren, wo gerade die physischen Strapazen von Arbeitsdienst bis Stalingrad den psychischen Mehrwert ("Unsere Ehre heißt Treue") enorm steigerten. Das von den deutschen TäterInnen in ihren Vernichtungsfeldzügen ausgelebte Phantasma des Antisemitismus war die Kehrseite dieses Genießens. "Zu Arbeit und Tod ‘gewillt und geeignet’: Schärfer läßt sich kaum fassen, was nicht nur Nazis ‘deutsch’ sein soll".26 Die Vernichtung um der Vernichtung Willen als Projekt deutschen Arbeitsfleisses stellt die immer wieder bemühte Kategorie des ‘notwendig falschen Bewußtseins’ über Verhältnisse in Frage, ‘die sich hinter dem Rücken’ der Subjekte vollziehen. ‘Falsches Bewußtsein’ – als mit den klassischen Instrumentarien der Ideologiekritik zu dekuvrierende verzerrte Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität – hätte wenigstens einen Rest an zweckrationalem Selbsterhaltungstrieb seitens der deutschen Bevölkerung vorausgesetzt, der zumindest angesichts der drohenden Kriegsniederlage mit dem Vernichtungseifer der Volksgemeinschaft in Konflikt geraten wäre.

Die Shoah selbst ist auch für die Kritische Theorie nicht ‘auf den Begriff zu bringen’, sondern höchstens die allgemein kapitalistischen und konkret deutschen Voraussetzungen ihrer Möglichkeit. ‘Ideologisch’ ist bei den Deutschen vor und nach 1945 nicht "the ‘false consciousness’ of a (social) being but this being itself in so far as it is supported by ‘false consciousness’"27. Es geht nicht mehr um das ideologische Verkennen der deutschen Subjekte, sondern um die Art ihres Funktionierens und um die Frage, wie dieses unheimliche Funktionieren wenigstens ansatzweise zu sabotieren wäre.

"Wo eine Kategorie – durch negative Dialektik die der Identität und der Totalität – sich verändert, ändert sich die Konstellation aller und damit wiederum eine jegliche."28 Mit dem Ende des Realsozialismus und der deutschen Einheit wurde nicht nur eine linke Kategorie über den Haufen geworfen. Die Bemühungen der antinationalen Minderheit, sich mit diesem Zustand adäquat auseinanderzusetzen, scheinen mehr und mehr in das Bedürfnis nach Ruhe und vor allem Ordnung umzuschlagen. Es ist zweifelhaft, ob nach dem mißglückten Start in der Jungle World in absehbarer Zeit noch etwas von theoretischen Grundsatzdebatten innerhalb der Restlinken zu erwarten ist. So wird sich der Wert linker Theorieinterventionen in Zukunft wieder ganz konkret daran bemessen, ob sie etwas zur theoretisch–praktischen Destruktion der deutschen Verhältnisse beitragen oder ob sie sich lieber mit der Traditionalisierung ihres eigenen ‘Ansatzes’ beschäftigen.

Andreas Benl

1 Clemens Nachtmann: O Herr, deleuze uns von dem Übel. Warum der materialistische Kritiker mit der Postmoderne nie glücklich werden kann, in: Jungle World 46/1997

2 Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Dritter Teil, Berlin 1962, S.130, 135

3 Slavoj Zizek: How Did Marx Invent the Symptom? in: Ders. (Hg.): Mapping Ideology, London, New York 1994, S.296

4 Initiative Sozialistisches Forum (ISF): Heideggerisierung der Linken. Die Ideologie vom Diskurs. Über die Nutzlosigkeit Foucaults für die antinationale Linke, in: Jungle World 7/1998

5 Ebd.

6 Manfred Dahlmann: Das Rätsel der Macht. Michel Foucaults unfreiwillige Anthropologie, in: Bahamas 26/1998, S.49

7 ISF, a.a.O.

8 Clemens Nachtmann: Kapitalistische Krise und Gesellschaftsplanung, in: J.Bruhn, M.Dahlmann, C.Nachtmann (Hg.): Geduld und Ironie. Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag, Freiburg 1995, S.73

9 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1991, S.56

10 Vgl. z.B. Rudolf Wolfgang Müller: Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und bürgerlicher Rationalität seit der Antike, Frankfurt/M. 1981, S.190-202

11 Max Horkheimer: Autoritärer Staat, in: H. Dubiel, A. Söllner (Hg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt/M. 1981, S.55

12 Theodor W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Gesammelte Schriften 8, Frankfurt/M. 1980, S.381

13 Vgl. Clemens Nachtmann: Wenn der Weltgeist dreimal klingelt. Zur Geschichtsmetaphysik der Krisis-Gruppe, in: Bahamas 21/1996 und Krisis 20/1998

14 Stefan Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1977, S.243

15 Vgl. Frank Böckelmann: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit (1966), Freiburg 1987

16 Diese Schwäche macht es z.B. Norbert Trenkle in der Jungle World leicht, sich über die die Rede der Bahamas/ISF von Auschwitz als 'negativer Aufhebung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage' zu mokieren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob der Nationalsozialismus vielleicht wirklich eine substantielle Transformation bewirkte – allerdings nicht des Kapitals, sondern der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland.

17 Rolf Johannes: Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: G.Schweppenhäuser (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie T.W.Adornos, Darmstadt 1995

18 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1992, S.15

19 Ebd., S.168

20 Ernst Lohoff: Von Auschwitz nach Bagdad, in: Krisis 11/1991, S.70f

21 Uli Krug: Ewiges Rätsel Auschwitz. Über die Unfähigkeit, den säkularen Zivilisationsschwund auf den Begriff zu bringen, in: Bahamas 25/1998, S.36

22 Justus Wertmüller: Abschied vom Kommunismus? – Ein antideutscher Showdown, ebd., S.25

23 Ebd., S.26

24 Gerhard Scheit: Antideutsche Ressentiments. Zum 20. Todestag von Jean Améry, in: Bahamas 27/1998

25 Das postmoderne Bedürfnis. Woher kommt es und was will es in der Welt?, in: Bahamas 26/1998, S.34

26 Jochen Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994, S.107

27 Slavoj Zizek: How Did Marx Invent the Symptom?, a.a.O., S.305

28 Adorno: Negative Dialektik, S.169