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BAHAMAS 30/1999

Die Verschwörung der Gleichen

Über 200 Jahre Menschenrecht

Von Tina Heinz 

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Der Krieg gegen Serbien war der erste postmoderne Krieg. Die im vergangenen Jahr in der Berliner Ausstellung “Mythen der Nation” mit erheblichem theoretischen Aufwand zur Schau gestellten Erkenntnisse von der Existenz der Nation als bloßer diskursiv zustandegekommenen “Konstruktion” bewiesen hier erstmals ihre praktische Nützlichkeit. Einig waren sich der rechte wie der linke Stammtisch über die Antiquiertheit sogenannter “Opfermythen” wie der zu Tode zitierten Schlacht am Amselfeld und über eine zivilgesellschaftlichem Standard längst nicht mehr genügende Befangenheit in nationaler Identität. Nach dem Motto “Die glauben doch tatsächlich, sie seien ein Volk!” hatten die Feuilletons für die in die Luftschutzkeller geflüchteten Serben schon vier Tage nach Kriegsbeginn nichts als Verachtung übrig. “Sie scheinen der offiziellen Propaganda zu glauben, wonach die NATO dem ,serbischen Volk‘ und nicht dem Regime den Krieg erklärt hat und eine Bombardierung ziviler Ziele jederzeit möglich ist”, schrieb voller Hohn der Berliner Tagesspiegel vom 28. März.

Einer Projektion der Haltung der deutschen Luftschutzkeller-Volksgemeinschaft von 1944 in die serbische Nation folgend führte man den ersten wirklich gerechten deutschen Krieg. Demonstrativ wurde in den Kommentaren der FAZ darauf verwiesen, daß eine Unterscheidung zwischen straffällig gewordener Führung und dem Volk in Serbien unmöglich sei und sich darum das serbische Volk wie weiland das deutsche die Folgen der “in seinem Namen” verübten Taten selbst zuschreiben müsse. Wie die Serben vor diesem Hintergrund noch auf ein ihnen kollektiv angetanes Unrecht verweisen konnten, erweckte in der deutschen Kriegspresse scheinbar das gleiche angewiderte Erstaunen wie die Reaktionen der besiegten Deutschen beim sie interviewenden Padover 1945. Pars pro toto schrieb in der FAZ (6. 4. 99)  Matthias Rüb: “Schlimmer als befürchtet haben die seit fast zwei Wochen andauernden Luftangriffe der Nato auf militärische Ziele die serbischen Intellektuellen auf die nationalistische Propaganda der politischen Führung eingeschworen. ... Selbst die Mitarbeiter unabhängiger und regierungskritischer Wochenzeitungen schreiben umstandslos von der ,amerikanischen Aggression‘ und behaupten ernsthaft, die Einwohner Jugoslawiens würden jetzt kollektiv für die Untaten der politischen Führung bestraft... Kein Mensch in Serbien sagt, was klar vor aller Augen stehen müßte: ,Was wir jetzt in Belgrad und anderswo erleben, ist die Quittung für die in serbischem Namen begangenen Verbrechen der letzten Jahre!‘... Sollte der Mann im Präsidentenpalast sein Volk eben doch besser gekannt haben als all die Wohlmeinenden aus dem Westen, die trotz allem bis heute hartnäckig zwischen der politischen Herrschaftsclique und der Bevölkerung unterscheiden?”

Bei so viel Antinationalismus samt genuin deutscher Projektion wollte auch der opportunistischste Teil der deutschen Linken nicht beiseite stehen. Ebenso wie das deutsche Feuilleton entdeckten auch sie in Serbien jenes völkische Element, das als Kern deutscher Vergesellschaftung zu kritisieren ihnen bisher als Ausdruck intellektueller Überspanntheit erschienen war. Offenkundig in der Überzeugung, man habe es im Falle Serbiens nicht mit tatsächlich national vergesellschafteten Menschen, sondern mit einem bloßen gedanklichen Konstrukt zu tun, erging man sich in der Jungle World in höchst kritischen Betrachtungen über das serbische “Volk”, während die Scharpings und Fischers die serbische Nation ganz praktisch dekonstruierten. Verbindlich war für nahezu alle der positive Bezug auf das Menschenrecht als Gegengift zum “Völkischen”. Grünen Kriegsgegnern fiel nichts besseres ein als den staatlichen Exekutoren des Menschenrechts die Kompetenz zu bestreiten und sich selbst als konsequentere anzubieten. Aber auch radikale Linke ließen auf die Menschenrechte nichts kommen und häuften mit Verbissenheit dafür Beweise auf, daß es im Kosovo auf jeden Fall um andere “Interessen” ginge – und seien es die abstrusesten. (1)

Doch hatte das Bekenntnis zum Menschenrecht schon vorher Konjunktur. Das offizielle Jubiläum “50 Jahre Menschenrecht” wurde auch von Linken gefeiert. Kampagnen wie “Kein Mensch ist illegal” demonstrierten die Bereitschaft zur Loyalität zum eigene Souverän ebenso wie linken Unverstand. Denn wirklich ist gerade kein Mensch illegal, sondern – positiv wie negativ – Subjekt einer Staatsgewalt, und selbst der einer Abschiebung Unterworfene wird keinesfalls illegalisiert, sondern vielmehr dem für ihn zuständigen Souverän überantwortet. Auf das entscheidende Motiv für den Krieg war man so schon vorher eingestimmt. Mit dem Menschenrecht als Forderung nach internationaler Gerechtigkeit konnte man sich identifizieren, als handelte es sich dabei nicht bereits im innerstaatlichen Bereich um ein Kriegsprogramm.

Naturrecht und Menschenrecht

“In gewisser Art geht’s dem Menschen wie der Ware. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem anderen Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch. Damit gilt ihm aber auch der Paul mit Haut und Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als Erscheinungsform des Genus Mensch” – so Marx im “Kapital”. (2) Was als natürliche Voraussetzung des menschlichen Miteinanders erscheint – die gegenseitige Anerkennung als Freie und Gleiche – ist Resultat eines historischen Prozesses. Nur als Forderung einer Gesellschaft, die zum ersten Mal Reichtum in Form von nicht mehr zum bloßen Überleben nötigen Gebrauchswerten kannte und Waren zu produzieren begann, konnte die Forderung nach Gleichheit entstehen. Gleichheit war in diesem Zusammenhang eine Kampfparole gegen die ständische Hierarchie, die jedem das Seine zuwies und die göttliche Gnade zum letzten Grund allen Rechts erklärte. Das Feudalrecht sicherte zwar das Überleben und machte das Leben eines Bauern dank der vielen kirchlichen Feiertage und eines verbrieften Rechts auf Existenz zum Bestandteil jenes im Nachhinein als glücklich abgefeierten Zeitalters, das die bürgerliche Herrschaft mit der ursprünglichen Akkumulation zerstörte. Doch Gnade hieß beides: überleben zu dürfen und vegetieren zu müssen, nämlich auf der Stufe eines infantilen und ohnmächtigen Verhältnisses zum jeweiligen Herren zu verharren. Demgegenüber pochte das Bürgertum auf das eine und für alle gültige Recht gegen die vielen partikularen Rechtsverhältnisse und suchte der Abhängigkeit von persönlicher Herrschaft ein Ende zu bereiten zugunsten der Anerkennung der tatsächlich ökonomisch und gesellschaftlich Ungleichen als Gleiche vor dem Recht.

Nur unter der Voraussetzung eines Überschusses an Gebrauchswerten konnte auch jenes von Adorno gegenüber einer Soziologisierung des Kapitalverhältnisses immer wieder betonte “überschießende Moment” innerhalb der bürgerlichen Ideologie entstehen. Enthalten war im frühbürgerlichen Naturrecht noch der Anspruch auf ein von keinerlei staatlicher Gängelung verhindertes persönliches Glück. Des Staates galt es sich zu entledigen und der Gesellschaft zu ihrem Recht zu verhelfen: ein für die Vorstellung des frühen Bürgertums überaus kennzeichnendes Paradox. Im Rückblick mag man diese Vorstellung als illusorisch abtun: als ob die Forderung nach Rechten nicht schon die Anerkennung ihrer gewaltsamen Durchsetzung implizierte. Doch handelt es sich um eine Illusion, ohne die sich die Größe des bürgerlichen Anspruchs gar nicht recht begreifen läßt. Das leidenschaftliche Einfordern natürlicher Rechte, gegen die kein anderer jemals etwas unternehmen dürfe, entsprach der optimistischen Erwartung eines Endes von Herrschaft schlechthin.

Gleichheit und Tausch

Das Naturrecht wandte sich gegen den Staat und meinte doch nur einen anderen. Aus dem Naturrecht wurde positives Recht und aus dem Menschenrecht ein Ersatz für Glück und Ideologie. Das Subjekt des Menschenrechts ist der “Gleiche”, doch ist die Frage nach der möglichen Gemeinsamkeit von Menschen in der im Menschenrecht fixierten Gleichheit schon vorab entschieden. Nicht die gegenseitige Anerkennung als jeweils besondere und sich spezifisch voneinander unterscheidende wie ergänzende Wesen meint das Menschenrecht; nicht ihre mögliche Gemeinsamkeit als vernunftbegabte – erfindungsreiche und emanzipationsfähige – Geschöpfe, welche allein die Voraussetzung einer befreiten Gesellschaft wäre. Ebenso wie sich die gesellschaftliche Existenz der Ware allein der Abstraktion von ihrem spezifischen Gebrauchswert verdankt, so ist auch das im Menschenrecht als gleich definierte Subjekt nur eine Abstraktion von jeder individuellen Besonderheit. Die im Menschenrecht fixierte Gleichheit ist das Resultat einer Reduktion menschlicher Fähigkeiten auf eine einzige abstrakte Gemeinsamkeit. In der Gleichsetzung jeweils besonderer menschlicher Arbeit zu einer abstrakten, rein quantitativ erfaßbaren Arbeit als Substanz des Werts meint “Gleichheit” deren Reduktion zu einem allein zur Produktion von Wert nützlichen Ding. Als Recht auf ungestörte Verwertung von formal gleicher menschlicher Arbeitskraft sind die Menschenrechte keine Rechte von Menschen, sondern Rechte an Menschen, und die gegenseitige Anerkennung als Freie und Gleiche nur das blinde Resultat einer realen Vergleichung, die ohne menschliches Wissen und ohne menschlichen Willen geschieht. Das ist der ganze Sinn der berühmten Marxschen Formulierung: “Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.” (3)

Die Geschichte des Kapitals läßt sich so gleichsam als die Geschichte einer fortschreitenden Entrechtlichung von Menschen lesen, als der gewaltförmig durchgesetzte und in den Menschenrechten abgesicherte Entzug aller feudalen Rechte auf Existenz zugunsten eines einzigen menschlichen Substrats – der Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeit schlechthin. Als Zweiteilung des Subjekts in einen empirischen Körper und in eine für den Tausch einzig relevante stofflose Gallerte menschlicher Arbeitskraft ist diese Gleichheit reale Schizophrenie und der materielle Gehalt des bürgerlichen horror vacui. Die Gleichheit nach Maßgabe von Äquivalenz meint die buchstäbliche Gleichgültigkeit aller Menschen vor dem Ausdruck ihrer Gleichheit, dem Wert, auf daß nur noch die “Würde” des Menschen übrigbleibt, d.h. das Recht und die Pflicht, von keinem besonderen Menschen abhängig zu sein, sondern vom zufälligen Resultat der Tauschhandlungen aller Menschen im Rahmen eines nationalen Zwangsverbands. Vergesellschaftung unter den Wert heißt darum zunächst auch nichts anderes als Isolation. Auf den Einzelnen kommt es tatsächlich nicht an: weder negativ als persönliche Abhängigkeit noch positiv als unmittelbaren, nicht durch den Tausch vermittelten Bezug auf einen anderen. Jeder linke Appell nach mehr Gleichheit, sei es die von Frauen, Behinderten oder Schwulen, ist darum auch kaum mehr als der Ruf nach Integration und nach der totalen Herrschaft des Rechts, der Appell also, dem Rest der bürgerlichen Subjekte gleichgemacht zu werden und zur Vernutzung für die gleichen ökonomischen und staatlichen Zwecke bereit zu sein.

Menschenrechte und Nation

Ganz dem auf Zerschlagung fremder Staaten zielenden antinationalen Zeitgeist gemäß ist das linke Hohngelächter darüber, wie einer nur so dumm sein könne, an so etwas wie eine Nation zu glauben. Die Nation ist aber keine Glaubensfrage: Weder ist sie ein bloßer Denkfehler im Sinne einer Halluzi-Nation noch eine staatsbürgerliche Fehlkalkulation im Sinne der MG und schon gar keine rein diskursiv zustandegekommene “Konstruktion”. Immer noch hat die Nation ihren Grund nicht in einer falschen Abstraktion, die sich allein im Hirn von Staatsbürgern vollziehe, sondern in einer realen Abstraktion, die sich in der Sphäre des freien und gleichen Tausches vollzieht und eine fein säuberliche Unterscheidung in rationale oder irrationale Handlungen respektive Denkformen unmöglich macht.

Entgegen der beliebten schematischen Gegenüberstellung von formalem und konkret-völkischem Recht ist es gerade die Formalität des Menschenrechts, die seine substanzhafte “Aufladung” nicht nur schlechthin möglich, sondern nötig macht. Schon aus schierer Angst vor einem schlechten Abschneiden im realen Vergleich muß dem bürgerlichen Subjekt an Garantien seiner Existenz gelegen sein. Diese Versicherung erheischt Konkretion gegenüber der als feindlich erlebten Voraussetzung seiner Existenz, die in der von ihm selbst in Gang gehaltenen Akkumulation von Kapital zum Zweck des Ersatzes von Arbeitskraft durch Maschinen tatsächlich nichts anderes als Selbstmord auf Raten ist. Es ist der reale Vollzug von Freiheit und Gleichheit, der die Unfreiheit und Ungleichheit völkischer Kollektive erschafft. Was Gemeinsamkeit zwischen den “an sich” isolierten bürgerlichen Subjekten stiftet, ist die kollektive Suche nach einer natürlichen, weil nur so gesellschaftlich unwiderrufbaren Versicherung gegenüber der Abstraktion. Nur weil das bürgerliche Subjekt von der permanenten Gefährdung seiner Existenz empirisch weiß – ohne ihren Grund zu verstehen –, muß es sich überhaupt seiner Existenz durch Loyalität zu einem als naturhaft vorgestellten Kollektiv versichern. So trägt die Gleichheit von Anfang an eine widersprüchliche Bestimmung in sich: als formale führt sie durch die panische Angst der Subjekte praktisch zu ihrem naturhaften Gegenteil.

Die für die empirische Existenz schlechthin entscheidende Frage nach dem Subjekt der Gleichheit führt schließlich zu einem gerüttelten Maß an Zwangsvorstellungen und Projektionsleistungen in der Suche nach dem Ungleichen als dem eigentlichen “Fehler im System”. Ist historisch wie logisch einzig der Tausch von Äquivalenten die Voraussetzung einer Anerkennung von Menschen als Gleiche im Menschenrecht, kann umgekehrt das Scheitern individueller Reproduktion nur das Ergebnis eines “Mißbrauchs” des gleichen Rechts durch unbefugte Dritte sein. Die Tauschabstraktion, die dem bürgerlichen Subjekt aufgrund ihrer völligen Unbegreifbarkeit als natürlich erscheint, ist ihm im Fall ihres Scheiterns erst recht unbegreiflich und schlägt um in die fanatische Suche nach der für die Misere verantwortlichen Widernatur. Kollektiv treten die Bürger die Suche nach dem Ungleichen an und lassen es in der Selektion von Wert und Unwert in der menschlichen Natur dem Menschen noch einmal wie der Ware ergehen.

Exemplarisch für den Wahn, daß es persönlich Schuldige für die von allen verursachte Misere gäbe und Verelendung das Resultat ungerechter Bereicherung sei, steht immer noch die jakobinische Volksherrschaft – nicht weil die Jakobiner das Menschenrecht gering geschätzt, sondern weil sie es ernst genommen haben als Grundlage gesicherter materieller Existenz. Überzeugt von der gesellschaftlichen Harmonie als natürlichem Resultat des freien und gleichen Tauschs, konnte materielles Elend nur das Resultat von Saboteuren und Schmarotzern und die Antwort auf diese Störung allein die Guillotinierung der Ungleichen sein. Der nüchtern legalistischen Form der bürgerlichen Herrschaft setzten schon die Jakobiner die Verpflichtung der Bürger auf das Gemeinwohl entgegen und beriefen sich zwecks Liquidierung vermeintlicher Feinde der natürlichen Harmonie auf die Nation als Ausdruck höheren Rechts. Im Widerspruch zwischen der vom Bürgertum eingeforderten Harmonie und ihrer realen Basis im Menschenrecht erkannte Marx die Voraussetzung und Tragik des jakobinischen terreur: “Welche kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität – in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annulieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise nachbilden zu wollen!” (4)

Von einer bloßen und durch Aufklärung behebbaren “Täuschung” im Sinne der Selbsttäuschung der bürgerlichen Gesellschaft über ihren Klassencharakter zu reden war sinnvoll, solange diese “Täuschung” noch ein erkennbarer Widerspruch innerhalb der bürgerlichen Ideologie selber war. Dieser Widerspruch setzt aber – um ihn als Täuschung überhaupt erkennen zu können – eine nicht nur vorhandene, sondern auch gewußte Differenz zwischen den bürgerlichen Subjekten und dem als Garant gesellschaftlicher Harmonie gedachten Staat voraus. Mit anderen Worten: eine von ihnen selbst vorgenomme Definition als keiner staatlichen Gängelung bedürftiger Individuen.

Der Staat des Menschenrechts

 Demgegenüber kreist das deutsche Denken seit 1789 besonders manisch um die immer gleiche Frage, wie denn auf rechtlichem Wege die Bedürfnisse des Einzelnen mit denen des Staates zu harmonisieren seien. Statt die ganze Sache von ihrer Anlage her als völlig verfehlt aufzugeben und das individuelle Glück gerade im fundamentalen Dissens mit dem Staat aufblitzen zu sehen, zeichnet sich die deutsche Ideologie durch ein besonders verbissenes Beharren auf Verrechtlichung aus. Der Formwandel des Menschenrechts vom Recht des Individuums gegenüber seinem staatlichen Repräsentanten zu einem Identität mit dem Staat einfordernden Recht eines völkischen Kollektivsubjekts läßt sich am “Modell Deutschland” exemplarisch aufweisen. Nicht nur ist Deutschen jede emphatische Betonung von Menschenrechten als individuelle und womöglich gar staatlichen Zwecken zuwiderlaufende – wie es ihrer historischen Entstehung entspricht – von je her fremd gewesen. Sondern positiv zeichnet das deutsche Erfolgsmodell gerade seine schier unendliche Fähigkeit zur Integration und Absorption widersprüchlicher Interessen aus. Zur Vorgeschichte des NS gehört darum ebenso die notorische Staatsfixiertheit des einzelnen Bürgers wie die fortschreitende Integration von – gar oppositionellen – Gruppen bis hin zu deren totaler Nivellierung im volksstaatlichen Dachverband. Schon die von den Nazis zu Unrecht als formalistisch geschmähte Weimarer Reichsverfassung war voll von sogenanntem Pluralismus, d.h. des in den Rang eines Verfassungsrechts erhobenen Schutzes von Organisationen zu Lasten des Schutzes der Einzelnen vor eben diesen. Gedacht als Basis eines gesellschaftlichen Kompromisses war dieser Pluralismus das Ende klassisch liberalen Rechts. Diese Verrechtlichung meinte die Reduktion der Individuen zu Bestandteilen klar erfaßbarer sozialer Gruppen, gegen die individuell sich zu behaupten oder ihnen gegenüber gar staatlichen Schutz einzufordern am Ende der Weimarer Republik schon nahezu unmöglich war, und die ihre Entsprechung in einer dem NS bereits adäquaten Mentalität von rackets fand. Über die Entwicklung der in der Weimarer Reichsverfassung verankerten Gruppenrechte zur faschistischen Herrschaft schrieb Franz Neumann 1937: “Das pluralistische System, das den ,Volksstaat‘ verwirklichen will, das heißt die Rolle einer selbständigen Bürokratie, der Armee und Polizei reduzieren und die Erledigung der Staatsangelegenheiten dem Consensus freier Verbände übertragen will, steigert in Wahrheit die Macht der Bürokratie, drängt die politische und soziale Bedeutung der gesellschaftlichen Organisationen zurück und stärkt somit alle zum autoritären Staat führenden Tendenzen.” (5)

Die im Faschismus erfolgte Liquidierung des bürgerlichen Subjekts als eines mit den Ansprüchen seines Souveräns nicht unmittelbar identischen Individuums ist das historische Resultat des deutschen Faschismus und als solches im “Wertekern” des GG nach 1945 kollektiv anerkannt. Nicht liquidiert wurde jedoch das Menschenrecht. Nunmehr ohne seine einstige Schutzfunktion vor staatlicher Gewalt triumphiert es im GG nach Maßgabe des faschistischen Verfassungsrechtlers Carl Schmitt, dessen völkischer Wahn nur die Kehrseite seines fanatischen Willens zur Zementierung des formalen Menschenrechts in der Verfassung war. Wie alle präfaschistischen Rechtstheoretiker hatte sich Schmitt seit den 20er Jahren immer wieder die Frage gestellt, wie sich die “überlegale Würde” (Schmitt) des Menschenrechts vor den empirischen Menschen schützen ließe und letzteren die individuelle Berufung auf die “Buchstaben des Gesetzes” auf legale Weise zu entziehen sei. Gelöst wurde dieses für die bürgerliche Gesellschaft zentrale Problem praktisch im deutschen Faschismus und rechtlich im GG: durch die Fixierung eines völkischen Kollektivsubjekts, das seine konkrete Bestimmung darin findet, daß es sein formales Recht nicht zur Abschaffung desselben “mißbraucht”. Der in jeder Verfassung enthaltene Widerspruch zwischen dem formalem Recht auf Schutz des Einzelnen vor staatlicher Gewalt und dessen Suspendierung im Einzelfall ist in der Konstruktion des “Wertekerns” einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zugunsten eines prinzipiellen staatlichen Vorbehalts definitiv ausgelöscht. So unveräußerlich sind die Menschenrechte im GG, daß ihnen zuliebe selbst deren individuelle Abschaffung im Falle ihres “Mißbrauchs” durch formalistisch auf sie pochende Störer legalisiert und im sogenannten Widerstandsrecht der Staat zur Liquidierung der Feinde von Freiheit und Gleichheit ermächtigt ist.

Die Selbststilisierung Deutschlands zum ersten Anwalt der Menschenrechte ist vor diesem Hintergrund weder zufällig noch paradox. Zu Recht feiert man sich selbst als zivilgesellschaftliches Erfolgsmodell, das dank seiner völkischen Formierung zur Durchsetzung von “Werten” wie dem Menschenrecht besonders befähigt ist, und empfiehlt das GG als Muster für die Verankerung eines ethischen “Wesenskerns” im Völkerrecht. Ein für allemal soll verhindert werden, daß z. B. Rußland das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat oder ein Schurkenstaat wie Serbien das Völkerrecht “mißbraucht”. Exemplarisch wurde am jugoslawischen Beispiel demonstriert, daß nicht mehr derjenige, der gegen das Völkerrecht verstößt, sondern nunmehr derjenige, der sich gegenüber völkischen Separatismen auf staatliche Souveränität beruft, mit dem Ausschluß aus der Menschheit zu rechnen hat. War einmal die “Benachteiligung” von Bandenstrukturen die historische Rechtfertigung des Nationalstaats wie es seinem Begriff als Garant formaler Gleichheit entspricht, so drehen ihm deutsche Menschenrechtsfreunde aus dieser Bestimmung den Strick und fordern staatliche Rechte im Namen der Clique ein.

Idealismus und Politik

Doch nichts anderes und schon gar nichts besseres ist von den neuen Herrschern zu erwarten als von den immer offener sich zu ihren völkischen Wurzeln bekennenden Regierungen der schon bestehenden Staaten. Das Menschenrecht auf Verwertung wird in der regionalisierten und ethnisierten Elendsverwaltung auch von den neuen Herren umzusetzen sein. Von dem mit der bürgerlichen Gesellschaft einmal verbundenen Versprechen bleibt dort nichts als ein von keiner Hoffnung auf materielle Verbesserung mehr beseeligtes kollektives Vegetieren im Zeichen von Identität. Jede Aufmunterung zur Separation meint den Freibrief zum ungehemmten Verteilungskrieg und zur Erbeutung noch der kläglichsten Reste von wirklichem oder bloß halluziniertem Wohlstand durch Mord und Raub. Die Mischung aus Faszination und Abscheu, mit der die bürgerliche Welt auf das archaisch anmutende Treiben blickt, läßt erahnen, daß der Gebrauch des Faustrechts das heimliche Ideal jedes freien Bürgers ist.

Wer heute von der Durchsetzung der Menschenrechte schwafelt und sich dumm stellt angesichts der realen Durchsetzung des Menschenrechts, ist reif für die NGO. Ebenso wie der Gründer der “Ärzte ohne Grenzen” und ehemalige Maoist Bernhard Kouchner als großer humanitärer Manitou des Kosovo mögen auch andere “undogmatische” Linke ihren Frieden mit den Stämmen machen. Den Startschuß für die vertiefte Beschäftigung mit der Frage nach den Modalitäten linker Beteiligung an den zukünftigen Kriegen (6) lieferte Oliver Tolmein schon am 30. 6. 1999 in der Jungle World. Ganz im Geiste von Habermas fand Tolmein, daß es auch für Linke an der Zeit sei, einer “Instrumentalisierung” des Menschenrechts die rote Karte zu zeigen und begrüßte es, daß es “ein zunehmend stärkeres und wenigstens gelegentlich einflußreiches Engagement gibt, dem die Wahrung der Menschenrechte Anliegen an sich ist – und zwar eines, das größere Bedeutung hat als die Wahrung der staatlichen Souveränität.” (7)

Das Geschwätz von der “Instrumentalisierung” von Menschenrechten und die Suche nach dem Hüter des “Menschenrechts an sich” ist eine besonders dumme Form des bürgerlichen Unglücklichseins. Die Unzufriedenheit mit dem “Mißbrauch” des Menschenrechts führt auch bei Linken nie zur Kritik der Sache, weil menschliches Glück – um das zu sichern die Menschenrechte doch überhaupt erst erfunden worden seien – auch ihnen nur als Glück von Staatsbürgern vorstellbar und der längst schal gewordene Utopismus der bürgerlichen Ideologie das Höchste ist. Diese notorische Unzufriedenheit ist zugleich auch unheilbar deutsch. Enttäuscht von der realen Freiheit und Gleichheit klagt man das Ideal gegen die unbegriffene Wirklichkeit ein und läßt sich bei der Suche nach dem verlorenen Schatz weder von moralischen noch von rechtlichen noch von ökonomischen Einwänden beirren. Daß man einer Welt, die vor lauter Überfluß an Waren die Menschen überflüssig und darum aus ihnen zu allem fähige Banditen macht, im großen finalen Feuerwerk noch einmal ihren verheißungsvollen Anfang vorspiegeln müsse – das ist deutscher Idealismus, wie er auch für deutsche Linke akzeptabel ist.

 

Anmerkungen:

1) Vgl. BAHAMAS Nr. 29, S. 17ff.

2) MEW 23, Berlin 1974, S. 67

3) ebd., S. 88

4) Die heilige Familie, MEW 2, Berlin 1958, S. 129

5) Demokratischer und autoritärer Staat, hrsg. von Herbert Marcuse, Frankfurt/Main 1967, S. 57

6) Über das Für und Wider einer humanitären Intervention in Indonesien wurde in der Jungle World vom 15.9. diskutiert.

7) Ganz unverblümt nennt Tolmein das Kind denn auch beim Namen: Höher als staatliche Souveränität könnten “kollektive Rechte” sein.

 

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