Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Einschätzungen zu Ereignissen
im Dezember 2020

01/2021

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Säkularismus schlägt Separatismus?

Vom Umgang mit noblen Grundsätzen für weniger lautere politische Zwecke – Der Gesetzentwurf gegen „Parallelgesellschaften“ war an diesem Samstag, den 12.12.2020 auch Gegenstand von Protestdemonstrationen

Ein vergiftetes Lob kommt von der AfD aus Deutschland. Die zwischen Neoliberalismus und Neofaschismus oszillierende Partei bekommt sich gar nicht mehr ein vor scheinbarer Freude über Vorgänge im Nachbarland, im konkreten Falle über die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur vorgeblichen Verteidigung des Säkularismus: „Anti-Islamisten-Gesetz – bravo, Frankreich! (…) Frankreich greift gegen Islamisten durch!“ (Vgl. https://www.nantes-revoltee.com)

Umgekehrt zeigt sich der französische nationale Freidenkerverband (die Fédération nationale de la Libre pensée), eine traditionell säkular und religionskritisch orientierte Vereinigung, wenig begeistert über denselben Gesetzentwurf, den er einer ausführlichen Analyse unterzieht. (Vgl. https://www.fnlp.fr/ ) Dort ist etwa von Angriffen auf die freie Organisierung des Vereinswesens die Rede. Und die der französischen KP nahe stehende Tageszeitung L’Humanité, ebenfalls nicht eben als Hort religiös-konservativer Ideen bekannt, sieht den Regierungsentwurf gleichermaßen kritisch. In ihren Spalten fragt man sich gar, was Letzterer mit der französischen Laïcité – also der Trennung von Religionen und Staat, in diesem Artikel anfänglich vergröbert mit „Säkularismus“ übersetzt – überhaupt zu tun habe. Handele es sich doch vielmehr um einen Text, dessen Hauptthema die Ausweitung polizeilicher Vollmachten sei. // Vgl. https://www.humanite.fr/ //

Das Gesetz zum französischen Laizismus wurde am 09. Dezember 1905 in Kraft gesetzt. Es war deswegen ein symbolischer Akt, dass die Gesetzesvorlage durch Emmanuel Macron im Ministerrat am 115. Jahrestag des Inkrafttretens dieses historischen Gesetzeswerkes vorgestellt wurde. Allerdings hat sich die ursprüngliche Bedeutung des Laizismus-Begriffs in den letzten Jahrzehnten in Frankreich erheblich verändert. Ursprünglich handelte es sich um eine Anforderung an den Staat, der nicht länger den damals noch politisch mächtigen Katholizismus favorisieren und privilegieren durfte – die Verabschiedung des Gesetzes von 1905 war auch eine Reaktion auf die Dreyfus-AffÄre und die damals verbreiteten antisemitischen Diskriminierungen aller Art, die aber im Zuge der Auseinandersetzung um „die Affäre“ auch auf eine breite Gegenmobilisierung trafen. Das Gesetz von 1905 lässt den Individuen ihre Glaubensvorstellungen und auch -praxis unbenommen.

Seitdem in den 1980er erstmals Auseinandersetzungen um die Präsenz des Islam im öffentlichen Raum aufkamen, die sich vor gut dreißig Jahren zunächst um einzelne Kopftuch tragende Schülerinnen (mit der „Creil-Affäre“ im Herbst 1989 (1) kristallisierten, hat sich dieser Fokus jedoch sehr weitgehend verschoben. Jedenfalls laut Auffassung vieler Kritiker wurde der „Laizismus“-Begriff jedenfalls im Munde diverser Politiker in ein Instrument für Druckausübung und/oder Ausgrenzung umfunktioniert, das es wiederum erlaubt, von staatlicher Seite Anforderungen an Minderheiten zu stellen, insbesondere die muslimische.

Dies wurde verschiedentlich in der Auseinandersetzung um das Kopftuch-Verbotsgesetz für Schülerinnen vom 15. März 2004 vorgetragen. // Vgl. https://jungle.world/// Um Letzteres ist es mittlerweile weitgehend still geworden, und das Kopftuchverbot bei Minderjährigen und in öffentlichen Schulen wird nun kaum noch in Frage gestellt. Doch die damals vorgegebene Linie, „Laizismus“ könne zum Argument für die Problematisierung der Präsenz einer muslimischen Minderheit werden, hat sich seitdem in der französischen Politik fort- und weitgehend durchgesetzt. Im ständig strapazierten Namen des Laizismus formierte sich so eine zu den politischen Lagern teilweisende querliegende Strömung, die von rechten Sozialdemokraten wie dem (für autoritäre Anwandlungen bekannten) früheren Premierminister Manuel Valls zu rechten Konservativen reicht und von Kritikern auch als laïcards – wobei die Endung -ard im Französischen gewöhnlich einen abwertenden Charakter aufweist – bezeichnet wird. Auch der in diesen Tagen vorgelegte Gesetzentwurf trägt stark die Handschrift dieser Strömung. // Vgl. https://www.lemonde.fr/ //

Aus dieser politischen Ecke kamen in jüngerer Vergangenheit Vorstöße wie den, Kopftuch tragenden Müttern, die in keinem Anstellungsverhältnis zum öffentlichen Schuldienst stehen, die Begleitung bei Klassenausflügen (zu denen Eltern zugelassen sind) zu verbieten // vgl. https://www.la-croix.com/2 // ; oder Tagesmüttern, die Kinder bei sich zu Hause in den eigenen vier Wänden betreuen, das Kopftuchtragen oder alternativ die Berufsausübung // vgl. https://www.leparisien.fr/ // zu untersagen. Beide Verbotsforderungen tauchen immer wieder in der politischen Diskussion auf // vgl. https://www.lefigaro.fr/f //, entsprechen jedoch bislang nicht der geltenden Gesetzeslage. // Vgl. https://www.lemonde.fr // Auch die Rechtsextreme Marine Le Pen surft in den letzten Jahren auf dieser Welle und spielt sich zumindest vordergründig als eifrige „Verteidigerin des Laizismus“ auf // vgl. https://www.humanite.fr/ //; im Unterschied zu ihrem Vorgänger im Parteivorsitz und Vater Jean-Marie Le Pen, aber auch einigen anderen Parteifreunden, die viel eher einen militanten Katholizismus als Staatsreligion favorisieren würden.

Der amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron zählte ursprünglich nicht zu den mitunter eifernd auftretenden laïcards, sondern legte während seiner Wahlkampagne 2016/17 eher ein gewisses Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft an den Tag. Eine klassisch liberale Position, die auf gesellschaftlichem Gebiet seinen ansonsten überwiegend wirtschaftsliberalen Haltung zu ergänzen schien. Auch in den ersten Monaten nach seiner Wahl blieb er bei einer vergleichbaren Position und insistierte darauf, die Erfordernis des Laizismus richte sich an den Staat, nicht an die Gesellschaft. // Vgl. https://www.lefigaro.f // Später geriet seine Linie zu diesen Fragen jedoch ins Schwimmen, und Beobachter monierten, er sage bei dem Thema zu Allen, was sie jeweils hören wollten. // Vgl. https://www.rtl.fr/ // Zwischendurch hatte er einer Ansprache vor den französischen Bischöfen im Frühjahr 2018 // vgl. https://www.leparisien.fr // die katholische Kirche als neuen Verbündeten entdeckt. Damals unterließ er es tunlichst, sich auch über sein Verhältnis zu den Muslimen zu äußern, obwohl er zuvor angekündigt hatte, eine Rede allgemein zum Platz der monotheistischen Religionen vorzubereiten. // Vgl. https://jungle.world/ // Doch er wusste wohl, dass er das Risiko unpopulärer oder Streit auslösender Stellungnahmen einging, sollt er das immer wieder aufgeheizte Eisen „Verhältnis zum Islam“ aufgreifen.

Nunmehr tut er es, und er scheint dabei eine komplette Kehrtwende zu seinen Positionen von 2016/17 zu vollziehen, wozu wiederum viele Muslime ihr „Unverständnis“ bekunden. // Vgl. https://www.mediapart.fr/ // Den jetzt symbolisch zum Jahrestag am 09. Dezember vorgelegten Gesetzentwurf hatte er Anfang Oktober d.J. in einer mit einiger Spannung erwarteten Ansprache // vgl. https://www.lefigaro.fr///, die er in der Pariser Vorstadt Les Mureaux // vgl. https://www.leparisien.fr/p // hielt, angekündigt. Aus Teilen seines eigenen politischen Lagers, vor allem von den übriggebliebenen Resten seines linksliberalen Flügels, kamen daraufhin Vorwürfe wie der, er habe repressiven gegenüber sozial integrativ wirkenden Maßnahmen darin einen klaren Vorzug gegeben. So sei die versprochene Anstrengung bei der Diskriminierungsbekämpfung dabei auf der Strecke geblieben. // Vgl. https://www.francetvinfo.fr/ //

Der gesamte Gesetzentwurf ist Bestandteil einer repressiven Generaloffensive, die in diesem Herbst 2020 einen durch Emmanuel Macron als moment régalien (ungefähr: „der Staatsgewalt gewidmete Phase“, also einen der Sicherheitspolitik gewidmeten Moment) in der Politik und Gesetzgebung einleiten soll. Schon seit mehreren Monaten war eine solche Phase aus Gründen innenpolitischer Taktik und im Vorgriff auf künftige Wahlkämpfe vorgesehen. // Vgl. https://www.lefigaro.fr2 //

Die Sache war seit spätestens dem Sommerende 2020 geplant // vgl. https://www.lopinion.fr///, also noch vor den jihadistischen Anschlägen in Nizza und im Raum Paris vom September und Oktober dieses Jahres // vgl. https://jungle.world/ //, und nicht in Reaktion auf diese. Das Ganze soll erklärtermaßen dazu dienen, Macron bei der Präsidentschaftswahl 2022 für Rechtswähler akzeptabel zu machen. // Vgl. https://www.lopinion.fr// Insofern ist der Gesetzesvorschlag zum Thema Laizismus auch im Zusammenhang mit dem derzeit ebenfalls heftig debattierten Entwurf für ein neues Polizeigesetz oder „Gesetz zur umfassenden Sicherheit“ // vgl. https://www.heise.de/ // zu betrachten. Letzterem erteilten übrigens sowohl die konservative Oppositionspartei Les Républicains (LR) als auch der rechtsextreme Rassemblement National (RN) im Parlament ihre Zustimmung, was bei einer Regierungsvorlage selten genug geschieht, um unterstrichen zu werden.

An diesem Samstag, den 12.12.2020 wurde gegen beide Gesetzesentwürfe gleichzeitig in Paris und weiteren französischen Städten demonstriert. In Paris, wo im Vorfeld (durch martialische Ankündigungen betreffend das Durchgreifen der Polizei und – so behauptete jedenfalls die Regierung – befürchtete Ausschreitungen) massiv Angst geschürt worden waren, sprang ein Teil der Veranstalter wie die altehrwürdige Liga für Menschenrechte, LDH, deswegen im Vorfeld ab. Auf 5.000 Demonstrierende laut Zahlen des Innenministeriums (in Paris, und frankreichweit laut Ministerium gut 26.000) kamen, wiederum nach dessen Angaben, alleon in der Hauptstadt 3.000 eingesetzte Polizisten; die Veranstalter/innen sprachen auf Paris bezogen von 10.000 Teilnehmenden.

Die Demonstration fand faktisch in einem Wanderkessel statt, dessen Verlassen vor Erreichen des Abschlussorts auf der place de la République strikt verboten war, und stockte unterwegs immer wieder, weil die vorne und auf beiden Seiten Spalier laufende Polizei den Weg nicht frei gab. Zwischen 140 und 150 Festnahmen wurden am Abend vermeldet, obwohl der vielfach angekündigte „schwarze Block“ gar nicht wirklich in Aktion getreten war und nur sehr vereinzelte Sachschäden verzeichnet wurden. Zu den Festgenommenen zählen laut ersten Erkenntnissen auch Personen, die lediglich den Protestzug ohne Genehmigung zu verlassen versuchten und darüber mit eingesetzten Polizisten in Streit gerieten. LDH-Anwalt Ariel Alimi sprach in Twittermeldungen davon, in Polizeigewahrsam genommenen Personen sei rechtswidrig die freie Anwaltswahl verweigert und ausschließlich ein Pflichtverteidiger „gewährt“ worden. Die französische Staatsmacht setzt also ganz offenkundig auf autoritäres Durchregieren. Zu ihm zählt, jedenfalls laut Auffassung der Teilnehmerinnen und Unterstützer des Protests, neben dem umstrittenen „Sicherheitsgesetz“ auch der jetzt vorgelegte Entwurf zum Umgang mit dem Islam.

Dieser hörte zunächst auf den Arbeitstitel „Gesetz gegen den Separatismus“, womit sinngemäß das Streben nach im Deutschen so bezeichneten Parallelgesellschaften gemeint war. Diese Vorstellung kam im Laufe des Oktober ins Gerede, als Innenminister Gérald Darmanin in Reaktion auf den djihadistisch motivierten Mordanschlag auf den Lehrer Samuel Paty // vgl. Jihadistische Taten in TREND 11/20 // der Öffentlichkeit mehr oder minder kuriose Vorschläge unterbreitete, im Namen des Ansinnens, solch „separatistische Tendenzen“ zu bekämpfen. Dazu zählte, dass er in einem TV-Interview vier Tage nach dem Mord kritisierte, dass es „eigene Abteilungen in Supermärkten für Halal- und für koschere Speisewaren“ gebe // vgl. https://www.francetvinfo.fr/ // – was erst einmal in keinem Zusammenhang zu von Jihadisten ausgeübter Gewalt steht. Zu den ungelösten Widersprüchen gehörte dabei, dass Darmanin diese Warenagebote im Namen einer vorgeblichen Vorstellung von Universalismus angriff; doch als Lösung eigene, getrennte Geschäfte für Halal- und Koscher-Essen favorisierte.

Seitdem wurde der Projektname „Gesetz gegen den Separatismus“ offiziell aufgegeben und durch den neuen Titel „Gesetz zur Bestärkung republikanischer Grundsätze“ // vgl. https://www.gouvernement.fr // ersetzt. Eine rein formale Änderung, die wiederum sogleich von Rechts her angegriffen wurde // vgl. https://twitter.com/julienodoul/ //, wo man sich beeilte, dem Regierungslager vorzuwerfen, es weiche dem Feind gegenüber bereits symbolisch zurück. // Vgl. https://www.20minutes.fr

Aber was enthält der Gesetzentwurf // vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/ // denn nun eigentlich genau? Grundsätzlich kann man ihn als Kraut-und-Rüben-Text bezeichnen, indem unterschiedliche Aspekte miteinander vermengt werden. Einige von ihnen antworten auf durchaus reale Probleme, manche könnte man – getrennt vom Rest – sicherlich auch sinnvoll diskutieren. Andere wiederum gehorchen innenpolitischen, wahlpolitisch motivierten, ideologischen und auf „Bedrohungsgefühle“ in der Stimmbevölkerung antwortenden Motiven.

Zu den wichtigsten Weichenstellungen zählt eine stärkere staatliche Aufsicht über das Vereinswesen, wobei die associations im französischen Rechten im Deutschen einem gemischten Spektrum aus Berufs- und Freizeit-Vereinen, Bürgerinitiativen, Sport- oder Kulturvereinigungen und ähnlichen Strukturen entsprechen würden. Künftig müssen diese sich dem Staat gegenüber auf den „Respekt republikanischer Werte“ verpflichten; darauf baut auch die eingangs zitierte Kritik etwa der Freidenkervereinigung auf. Eine entscheidende Frage wird dabei jedoch auch sein, was man nun genau unter die zu respektierenden „Wertvorstellungen“ fasst. Zählt man dazu ausschließlich Grundprinzipien wie den Schutz der Menschenwürde, könnte man daran zunächst keinen Anstoß nehmen. Die Befürchtung lautet jedoch, dass Regierung und Behörden auch andere, viel weitergehende Vorstellungen mit darunter packen, die darauf hinauslaufen würden, zivilgesesellschaftliche Strukturen auf Staatstreue einzuschwören. Zum Vergleich: Im französischen Arbeitsrecht sind Gewerkschaften seit dem Tarifgesetz vom 20. August 2008 nunmehr ihrerseits zum „Respekt republikanischer Werte“ verpflichtet. Prompt kam es vor Arbeitsgerichten zu Versuchen etwa von Arbeitgeberseiten, linke Basisgewerkschaften wie SUD, die eine Art von Selbstverwaltungssozialismus (keineswegs stalinistischer Bauart) anstrebe, oder die kleinere anarcho-syndikalistische CNT mit dem Vorwurf mangelnder Republiktreue zu disqualifizieren und dadurch vom Verhandlungstisch zu verbannen. // Vgl. https://www.lexplicite.fr/ // Bislang drangen solche Versuche auf juristischer Ebene nicht durch. Nichts garantiert jedoch, dass eine autoritärere Auffassung vom Respekt republikanischer Werte die Oberhand gewinnt und ihrerseits zum Ausgrenzungsinstrument wird.

Ein zweiter wichtiger Aspekt betrifft das öffentliche Schulwesen. Dabei geht es nicht etwa darum, das – überwiegend katholisch ausgerichtete, und tatsächlich erhebliche Privilegien genießende und zahlungspflichtige – Privatschulwesen, das von circa zwanzig Prozent der französischen Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs besucht wird, einzuschränken. Dieses steht vielmehr außer Frage, und auch wenn das geplante Gesetz allgemein formuliert wurde, um Diskriminierungsvorwürfe zu vermeiden, so zielt es doch de facto ausschließlich auf muslimische Einflüsse.

Im Visier steht hier konkret der Heimunterricht // vgl. https://www.liberation.fr7 //, den rund 0,5 Prozent der französischen schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in ihren Familien erhalten. Die Ausgangsgründe dafür sind vielschichtig. Dazu zählt die Situation von Heranwachsenden mit körperlichen oder gesundheitlichen Beschwerden, die von Familienmitgliedern von Zirkusmitarbeitern und anderen reisenden Berufsgruppen oder intensiven Hochleistungssport betreibenden Jugendlichen – bei welch Letzteren der Tagesablauf nicht mit einem regulären Schulbetrieb zu vereinbaren wäre -, aber sicherlich machen auch Anhänger beispielsweise christlich-fundamentalistischer Sekten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im letzteren Falle ginge es darum, von Elternseite her zu verhindern, dass die Heranwachsenden etwa mit den Inhalten von Sexualkundeunterricht oder Evolutionslehre in Berührung kommen; oder sie sollen dies jedenfalls so spät wie möglich, wenn es Prüfungen vorzubereiten gilt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses eher aus dem freikirchlichen Milieu bekannte Phänomen auch für salafistisch orientierte Eltern von Interesse ist.

Nun wäre nichts dagegen einzuwenden, in solchen Beispielen das Interesse der Kinder über die Ideologie der Eltern zu stellen und darauf zu pochen, dass deren Nachwuchs nicht ihr „Eigentum“ ist. Allerdings beschränkt sich die Realität des Heimunterrichtswesen keineswegs auf solche extremen Fälle. Vielmehr fallen zum Beispiel auch Jugendliche, die durch Mobbing oder andere traumatisierende Sozialkontakte beim regulären Schulbesuch beeinträchtigt wurden, darunter; ebenso Kinder und Heranwachsende mit autistischen Tendenzen. Die Regierung bereitet nunmehr, setzt sie ihr Gesetzesvorhaben wie geplant um, einen Kahlschlag auf diesem Gebiet vor. Nur noch in nachgewiesenermaßen medizinisch indizierten Fällen sowie bei Intensivsportlerinnen sollen Ausnahmen ermöglicht werden. // Vgl. https://www.liberation.fr/ // Kinder mit Sozialisierungsschwierigkeiten oder Mobbingproblemen, jedenfalls so lange diese nicht durch Gerichtsurteile anerkannt wurden, dürften dabei außer Betracht bleiben.

Zum Dritten ermöglicht der Entwurf auch stärkere zentralstaatliche Eingriffe in öffentliche Dienstleistungen, die etwa durch Kommunen erbracht werden. Trifft der zuständige örtliche Dienstleistungsträger Entscheidungen, die als Verstoß gegen republikanische Prinzipien gewertet werden, soll dann künftig der Präfekt (als juristischer Vertreter des Zentralstaats in jedem der 101 Verwaltungsbezirke oder Départements) direkt in die Verwaltung eingreifen dürfen. Bislang übt er nur eine Rechtsaufsicht aus, die es ihm erlaubt, gesetzwidrige Beschlüsse – liegt etwa eine Veruntreuung öffentlicher Gelder vor – dem Verwaltungsgericht zur Kontrolle vorzulegen. In Zukunft könnte der Repräsentant des Zentralstaats unter Umständen in viel weiter gefächerter Weise in örtliche politische Entscheidungen eingreifen. Wenn er diese vor einem Verwaltungsgericht anficht, kommt dieser Entscheidung „aufschiebende Wirkung“ (un effet suspensif) zu, das bedeutet, die Beschlüsse örtlicher Dienstleistungsträger bleiben bis zu einem rechtskräftigen Gerichtsentscheidung ausgesetzt und finden keine Anwendung.

Als Beispiel zitiert // vgl. https://www.lemonde.fr // werden Beschlüsse von Kommunen, die in Schwimmbädern für Frauen reservierte Öffnungszeiten zulassen. Dies, so lautet die Argumentation, werde von Islamisten oder konservativen Muslimen als Vehikel genutzt, um eine Geschlechtertrennung einzuführen und keine männlichen Blicke auf Frauenkörper zuzulassen. Zwar werden solche Angebote, wo vorhanden, auch durch konservativ eingestellte muslimische Frauen in entsprechendem Sinne genutzt. Aber auch beispielsweise durch andere Frauen, die sich für übergewichtig oder aus anderen Gründen für unattraktiv halten, und wird von diesen mitunter tendenziell als eine Befreiung von störenden Blicken erlebt. In den letzten Jahren wurde dieses Phänomen jedoch in der politischen Debatte meistens, mindestens grob vereinfachend, unter „islamistischen Druck“ subsumiert.

Das Regierungslager will auch für eine stärker in Frankreich erfolgende Imam-Ausbildung (statt in den Herkunftsländern vieler muslimischer Migranten) sorgen, eine Ankündigung, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten jedoch periodisch von allen aufeinander folgenden Regierungen kam und dann wieder in Vergessenheit geriet. Arabischunterricht für Kinder, in deren Familien arabische Dialekte als Herkunftssprache praktiziert werden, soll stärker an staatliche Schulen verlagert werden, um nicht im unkontrollierten Bereich von Kulturvereinigungen und Koranschulen zu erfolgen. Letzterer Punkt trägt dem Regierungslager wiederum Druck von Rechts ein, wo, wie von dieser Seite zu erwarten war, gebetsmühlenartig der Vorwurf eines Beitrags zur Überfremdung erhoben wird. // Vgl. https://www.francetvinfo.fr //

Alles in allem sind die Einzelvorschläge in manchen Unterpunkten wohl diskutierbar, es überwiegt jedoch eine repressive Tendenz, die sich in das derzeitige Gesamtklima einfügt. Von jihadistischen Tätern in den letzten Monaten ausgeübte Gewalt lässt dieses Klima noch aufgeladener wirken, ist jedoch nicht die Ursache dafür; umgekehrt droht es die jihadistische Ideologie, die sich ja auch darauf beruht, Muslime könnten von Nichtgläubigen keinerlei Solidarität erwarten, weiterhin zu alimentieren.

Anmerkung

1) Ausgelöst worden war diese Affaire im Herbst 1989 durch einen Schuldirektor, Ernest Chenière, den man später als konservativen Abgeordneten der Nationalversammlung wieder traf ; und der sich auch dadurch hervortat, dass er vor der Parlamentswahl im Frühjahr 1997 mit Jean-Marie Le Pen zu Abend speiste. Vgl. Pierre Tévanian und Sylvie Tissot: Mots à maux. Dictionnaire de la lepénisation des esprits, Paris 1998, Seite 202.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.  Er wurde am 13.12.20  Leicht aktualisiert.