Der andere Blick auf die chinesische Kulturrevolution
Der Text von Wu Yiching setzt Maßstäbe für eine linke Kritik am chinesischen Staatskapitalismus

von Peter Nowak

01/2021

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„Die USA ist back“. Dieses Motto der künftigen US-Regierung unter Biden kann durchaus als Drohung verstanden werden. Vor allem gegenüber China dürfte die von den Demokraten gestellte Regierung die sogenannte westliche Einheitsfront wieder herzustellen versuchen, die unter der Ägide Trump brüchig geworden war. Dass die Kampagne gegen China auch in linken Zeitungen seinen Niederschlag findet, zeigt eine Rezension, die am 16. November in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland unter der Überschrift „Chinas totale Kontrolle“ abgedruckt war. Besprochen wird das Buch einer Sayragaul Sauytbay, die als hohe chinesische Beamtin vorgestellt wird, die angibt, im Repressionsapparat gegen die uigurische Minderheit eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Sie Zweifel an ihrer Arbeit bekommen und schließlich China verlassen, Unter dem Titel „Die Kronzeugin: Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle und Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft“ wird ihre angebliche Geschichte mittlerweile in vielen Sprachen vermarktet, auf Deutsch ist es im Europa-Verlag erschienen. Die Rezension eines solchen Buches in einer linken Zeitung müsste auch die Frage stellen, ob hier mit Geheimdienststorys der ideologische Kampf gegen China im globalen innerkapitalistischen Kampf munitioniert wird. Doch in der nd-Rezension fehlt ein solcher kritischer Blick auf das Buch. Die Rezensentin Othmara Glas hinterfragt nicht einmal, dass schon im Titel die Erzählung von der chinesischen Weltherrschaft auftaucht. Statt dessen schreibt die nd-Rezensentin: „Sauytbay will die Welt vor China warnen, sagt sie. Im Lager habe sie einen Dreistufenplan gesehen, dessen Ziel die Besetzung Europas ist“. Dass selbst in einer linken Zeitung die Behauptung nicht hinterfragt wird, dass die angebliche Beamtin zufällig einen chinesischen Welteroberungsplan entdeckt haben will, ist auch ein Zeichen für die Unfähigkeit einer linken Kritik am gegenwärtigen chinesischen Regime, die sich von den antichinesischen Kampagnen unterscheidet, die eine lange Geschichte haben. Bereits in den 1960er Jahren gab es eine rassistisch grundierte Warnung vor der „gelben Gefahr“, die auch Europa überschwemmen könnte. Die Kritik an einer solchen Kampagne ist nun keineswegs Plädoyer für eine kritiklose Übernahme der Version der aktuellen chinesischen Machthaber. Natürlich muss dieser autoritäre Staatskapitalismus, der ja seit Corona-Pandemie zumindest bei der Pandemiebekämpfung auch weltweit viel Lob bekommen hat, von links kritisiert werden. Dazu gehören auch die Umerziehungslager in den uighurischen Provinzen. Hier müsste man aber zunächst konstatieren, , dass wir darüber alle Quellend, die uns zu diesem Thema erreichen kritisch hinterfragen und einordnen.

Das Gespenst der Kulturrevolution

Dass gibt auch für alle Nachrichten rund um die chinesische Kulturrevolution. Sie wird heute oft als eine einzige Abfolge von Massenmorden und Grausamkeiten dargestellt. Dabei war die Kulturrevolution vor mehr als 50 Jahren ein Ereignis, dass nicht nur in China eine Rolle spielte. In vielen Ländern in aller Welt waren linke Gruppierungen entstanden, die die Kulturrevolution ohne viel Hintergrundwissen kritiklos abfeierten. Viele der oft studentischen Aktivist*innen dieser Neuen Linken wurden wenige Jahre später zu entschiedenen Gegner*innen nicht nur der Kulturrevolution, sondern jeglicher Sozialismusvorstellungen. Erinnert sei hier an die Strömung der sogenannten „Neuen Philosoph*innen“ in Frankreich. Viele ihrer Protagonist*innen waren noch in den 1960er Jahren vehemente Verteidiger*innen der chinesischen Kulturrevolution. 2 Jahrzehnte später hatten sie nur noch ihre Stoßrichtung gegen die Sowjetunion beibehalten hatten. Viele der „Neuen Philosoph*innen wurden sie zu den Stichwortgeber*innen eines Antitotalitarismus, der bald gegen jegliche antikapitalistische Bestrebungen verdächtig war. Auch die Kommunistischen Partei Chinas hat diese Periode ihrer Geschichte nachträglich verurteilt und viele der damaligen Protagonist*innen gemaßregelt und hart sanktioniert. Für die chinesische Kulturrevolution gilt besonders, was Karl Marx am Beginn seines berühmten Manifests feststellt:

Er schrieb damals über den Kommunismus: „Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Czar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“

Von der Kulturrevolution könnte man paraphrasieren:

„Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Kulturrevolution. „Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Czar, Staatskapitalist*innen Peking sowie deren anhängige Zentralkomitees, französische Radikale und deutsche Polizisten.“

Klassenkampf gegen die neuen roten Herrscher

Umso erfreulicher, dass es noch Historiker*innen gibt, die die Kulturrevolution nicht auf eine Abfolge von Gewalt und Terror reduzieren. Zu ihnen gehört in der an der Universität von Toronto in Kanada lehrende Historiker Wu Yiching. Unter dem Titel „Die andere Kulturrevolution“ hat der Mandelbaum-Verlag jetzt Yichings Gegenerzählung in deutscher Sprache nicht nur aus historischer Intention veröffentlicht. Der Herausgeber Ralf Ruckus, der sich seit Jahren mit den Klassenkämpfen in China aus operaistischer Perspektive befasst, sieht in die Beschäftigung mit der Kulturrevolution „als Schlüssel für ein besseres Verständnis von historischem Sozialismus“ (S.9). Denn in dem Buch wird die Kulturrevolution eben nicht als aus dem Ruder gelaufener Kampf zwischen verschiedener Fraktionen der Kommunistischen Partei gezeigt.

„Vielmehr bietet Wu eine Ansicht der „anderen“ Kulturrevolution, die sonst nur an den Rändern der herkömmlichen Chroniken auftaucht – oder überhaupt nicht“ (S.9), schreibt Ruckus im Vorwort der deutschen Ausgabe. Er benennt als Akteur*innen der Kulturrevolution, die dort den Kampf für ein besseres Leben aufnahmen. „Befristete Arbeiter*innen, landverschickte Jugendliche und städtische Proletarier*innen, gebrandmarkte, schwarze Elemente und andere mehr“ (S.10). Für diesen Klassenkampf im Sozialismus liefert Yichings detailreiche Darstellung der einzelnen Phasen der Kulturrevolution zahlreiche Beispiele. Dazu rezipiert er einige zentrale Texte der Kulturrevolution, die außerhalb Chinas kaum bekannt sind, weil sie nicht oder mangelhaft übersetzt wurden. Dazu gehört der Aufsatz „Zur Klassenherkunft“ von Yu Luoke, der bereits 1970 im Zuge der Fraktionsstreitigkeiten innerhalb der Kulturrevolution hingerichtet wurde. Seine politischen Aktivitäten in der Kulturrevolution dauerten nur knapp 4 Jahre. Yiching zeigt auf, warum seine Schrift eine solche Popularität vor allem bei jungen Arbeiter*innen bekommen hatte. Er habe auf sehr einfache Weise Kritik an dogmatischen Grundsätzen des Regimes geübt. Aktivist*innen wie Yu Luoke haben die Macht der maoistischen Nomenklatura angegriffen, die mit ihrem Dogma der proletarischen Blutlinie ihre Macht festigen wollten. Ihnen ging es ebenso um eine Weiterentwicklung des Sozialismus wie den Jungarbeiter*innen in Shanghai, die während der Kulturrevolution eigene Organisationen aufbauten, über die Yiching ausführlich berichtet und dabei auch deren Fehlentwicklungen und eigene Dogmatisierungen nicht verschweigt.

Eine linke Kritik am Staatskapitalismus

Yichings Text kann als ein Beitrag zum Studium der Geschichte des Sozialismus verstanden werden, zu der auch die weltweit so verfemte chinesische Kulturrevolution gehört. Wu Yiching hat sich das Verdienst erworben, auf viele hierzulande kaum bekannte Dokumente gestützt, die Kulturrevolution weder zu verdammen noch zu mystifizieren. Zunächst beschreibt er den politischen Kontext, in dem die Kulturrevolution so wirkungsmächtig werden konnte. Er beschreibt wichtige Akteur*innen, benennt ihre Ziele, ihre Erfolge und auch die vielen Fehlentwicklungen, die schließlich auch zu ihren Scheitern führten. Streitbar ist seine mit Fakten untermauerte These, dass die KP-Nomenklatura mit der Niederschlagung der Kulturrevolution das Ende des chinesischen Sozialismus und gleichzeitig hinter ihrem Rücken den Aufstieg Chinas zur staatskapitalistischen Weltmacht eingeleitet hat. Der Text von Wu Yiching steht in der Tradition einer linken Kritik am Nominalsozialismus, wie sie bereits sehr früh in Bezug auf die Sowjetunion von Links- und Rätekommunist*innen geleistet wurden. Dem Herausgeber ist zuzustimmen, wenn er begründet, warum die Schrift „Teil einer notwendigen Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit“ (S.11) ist. „Wu entwickelt in seinem Buch Ansätze einer grundlegenden Kritik des Sozialismus in seiner Fixierung auf Staatsmacht und autoritärer Kontrolle, die er für das Scheitern der Chinesischen Revolution des 20 Jahrhunderts verantwortlich macht. Er will damit nicht nur historiographisch den Kern der sozialen Rebellion freilegen, sondern sieht seine Erzählung auch als Teil des Lernprozesses für aktuelle und zukünftige revolutionäre Versuche. Aus den Fehlern und Wirren des Realsozialismus zu lernen, ist eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung einer neuen revolutionären Praxis“ (S. 11). Dieser Würdigung des Textes durch Ralf Ruckus ist nur hinzufügen, dass das Buch auch Maßstäbe für eine linke Kritik an der Entwicklung in China aktuell setzt. Wir brauchen uns nicht auf angeblich gefundene chinesische Welteroberungspläne stützen. Wenn wir den autoritären chinesischen Staatskapitalismus kritisieren, sollten wir auf die Klassenkämpfe in dem Land schauen.

Wu Yiching
Die andere Kulturrevolution
1966–1969: Der Anfang vom Ende des chinesischen Sozialismus; übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus

mandelbaum verlag
25.00 €
354 Seiten

Format: 15 x 24
englische Broschur
ISBN: 978385476-686-5

 

Editorischer Hinweis
Den Beitrag erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.