Ist Marx Murks?
Ein Kommentar zur Marx-Engels-Debatte

von Brend Tragen

01/2021

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2020 ist Friedrich-Engels-Jahr – gewürdigt wird hierzulande der „Cotton-Lord“, der „den Marxismus erfand“ (1). Dem doofen Feuilleton-Brauch, runde Jahreszahlen abzufeiern, entgehen eben auch die schärfsten Kritiker des bürgerlichen Betriebs nicht. Welche Blüten diese nationale Pflege des kulturellen Erbes treibt, konnte man zuletzt im Karl-Marx-Jahr beobachten. Wie kaum anders zu erwarten, gab es 2018, zum 200. Geburtstags von Marx, es eine Welle von Publikationen und ein bisschen Aufregung im Feuilleton. Sogar ein Bio-Pic über den jungen Strubbelkopf kam in die Kinos, und in seiner Heimatstadt Trier errichtete ihm die Stadt ein meterhohes Denkmal, direkt vor dem Karl-Marx-Haus, welches von seinem Eigentümer, der Friedrich-Ebert-Stiftung, ganz publikumsfreundlich herausgeputzt wurde – fürs Sightseeing ein markanter Ort, wo zuletzt vor allem chinesische Touristen auf ihrem Deutschlandbesuch den obligatorischen Zwischenstopp einlegten. So kann sich der Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise wenigstens noch posthum nützlich machen fürs touristische Geschäft und den lokalen Fremdenverkehr ankurbeln. Gegen dieses Argument verpufften selbst die lautstarken Proteste von Grünen und AfD im Trier Stadtrat.

Biografische Mode

War sonst noch was? Viel war da nicht – außer einigen marxistischen Debatten, die aber leider Randerscheinung blieben (2). Der Mainstream stieg auf die biografische Mode ein, was jetzt in abgeschwächter Form beim Engels-Jubiläum seine Wiederholung gefunden hat: eine Würdigung, die den Jubilaren sicherlich ein Gräuel gewesen wäre. Anstatt sich mit dem Inhalt ihrer „Kritik der politischen Ökonomie“ auseinanderzusetzen, sie zu sorgfältig zu studieren und Basis dieser Kenntnis zu beurteilen, ist für den Rückblick auf ihre theoretischen Leistungen nunmehr die Begutachtung der Lebensumstände maßgeblich geworden.

Sebastian Klauke (3) hat dazu angemerkt, dass die neueren biografischen Würdigungen – mehr als drei Dutzend Biografien liegen mittlerweile vor – zahlreiche Mängel aufweisen. Das gilt vor allem für die Werke von Jonathan Sperber (2013) und Gareth Stedman Jones (2017), wohl weniger für Jürgen Neffes Opus von 2017, das sich, in begrenztem Rahmen, immerhin um die Rekonstruktion der Theorieentwicklung bemüht. Dass 2019 der Marxist Michael Heinrich, ein ausgewiesener Kenner des „Kapital“, mit dem ersten Teil einer auf drei Bände angelegten umfassenden Biografie dem eine weitere Veröffentlichung hinzufügte (4), wertete Klauke hingegen als „Glücksfall“. Dabei zeigte er sich angesichts von Heinrichs weit ausgreifendem Publikationsvorhaben selber skeptisch; wie das begonnene Unternehmen fertigbringen zu bringen sei und sich die Jahre nach 1841 in nur zwei weiteren Bänden abhandeln ließen, „bleibt rätselhaft“ (Klauke).

Heinrichs aufwendige Recherche für das erste Band seiner Reihe geht eigentlich ins Leere. Darin beschäftigt er sich mit dem Zeitraum bis 1842, also bis zu einem Zeitpunkt, wo Marx noch keinen Text von theoretischem Belang verfasst hatte. Heinrich, schreibt Klauke, „beschäftigt sich unter anderem mit den vielfach übersehenen oder schlicht ignorierten Marxschen Gedichten und bettet sie in die Entwicklung seines Denkens ein.“ In der Tat, eine poetische Teenager-Episode, die der Berliner Student mit seinem Hegel-Studium definitiv beendete und die später im Hause Marx wohl als Lachnummer galt, wird bei Heinrich zu hochwichtiger Bedeutung aufgeplustert. Ignoriert wurde sie übrigens nicht; bereits Franz Mehring (5), der selber Literaturwissenschaftler war und „1918 die erste und bis heute einflussreiche Biografie über Karl Marx“ (Wikipedia) veröffentlichte, hat sie z.B. treffend gewürdigt als das, was sie war: „triviale Romantik“.

Theoretische Klärung

Im Juli 2020 im Online-Magazin Telepolis erschien ein Beitrag mit der Überschrift „Was bleibt von Marx?“ (6). Ausgangspunkt war eine Initiativen der „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA, die die rassistische oder militaristische Vergangenheit aufarbeiten, die Ausdruck in der Forderung fand, Statuen von Sklavenhaltern, Rassisten & Kriegshetzern niederzureißen und nach ihn benannten Straßen neu zu benennen. In Deutschland hatte dies der ehemalige „Welt“-Chefredakteur Wolfram Weimer dankbar aufgegriffen und prompt konstruktiv gegen links gewendet: Er wünschte sich das gleiche Schicksal auf für die hiesigen Marx- und Engels-Statuen, sowie für die nach ihnen benannten Straßen, Plätze, Schulen etc., denn „aus den Schriften von Marx wird eklatant deutlich, dass er ein Menschenverachter war“ (Weimer). Diese Aufforderung hat bislang keine praktischen Konsequenzen gehabt, noch nicht einmal eine öffentliche Diskussion konnte er damit lostreten, denn als deutscher Denker ersten Ranges genießt Marx, selbst ganz getrennt von den Inhalten, über die er redet, immer noch ein hohes Ansehen. So viel wissen die medial Verantwortlichen wohl schon noch, dass die Figur Marx ein heißes Eisen ist und man sich bei diesem Thema nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen sollte. Bei solch einem gefährlichen Terrain stünde auch zu befürchten, dass die Debatte zu sehr ins Inhaltliche abdriftet und den Leute womöglich noch den Floh ins Ohr setzt, der kapitalistischen Gesellschaft mal ein paar Gegenrechnungen aufzumachen. Die zahlreichen Kommentare im Online-Forum von Telepolis zeigten indessen, dass solche Befürchtungen, wenn es die denn je gab, übertrieben sein dürften, und das zugrundeliegende Zerrbild, welche Weimer präsentiert, von vielen Menschen geteilt wird. Dass die Begründer des „Marxismus“ „Blut an den Händen haben“ (so ein Forums-Kommentar), gehörte dabei noch zu den harmloseren Formulierungen.

Es waren gerade diese Reaktion der Leser, die den Anlass boten, im Telepolis-Magazin eine Marx-Reihe zu starten, die das Hauptwerk von Marx, den ersten Band des „Kapital“, dem Publikum in seinen Grundzügen vorstellen wollte. „Der Kapitalismus schafft nützliche Güter“, so hieß der erste Teil der Reihe „Was spricht für den Kapitalismus?“, erschienen Ende August (7). Sie ging von der These aus, dass die wenigsten Menschen, die sich positiv oder negativ auf Karl Marx berufen, richtig einordnen können, für welche Inhalte und Erörterungen dieser Mann steht. Dem wollte sie abhelfen durch Einblicke in einige seiner zentralen Argumente, und so die Leser zu einer eigenständigen Lektüre anzuregen. Es ist nämlich nicht abzusehen, dass der normale und in der Regel durch Propaganda und Ideologie verunsicherte Lohnarbeiter ganz ohne Motivation die Zeit und das Interesse aufbringen wird, das „Kapital“ von sich aus zu lesen. Man kommt wohl nicht umhin, es ihm schmackhaft machen zu müssen, indem man es ihm in kleinen, leicht verdaulichen Portionen serviert. Gleichzeitig sollte dabei auch mit dem Gerücht aufgeräumt werden, dass das Buch inhaltlich „veraltet“ sei und einem heutigen Leser nichts Wesentliches an Erklärung zur eigenen ökonomischen Lebenslage bieten könne. Insofern war mit dem Text auch die Schar der mitlesenden, pressekritischen Journalisten angesprochen, ihre Vorkenntnisse auf diesem Gebiet ein wenig weiter auszubauen und ihre Berichterstattung durch Marxsche Einsichten zu ergänzen, ja vielleicht überhaupt erst vernünftig zu erklären, anstatt sich nur an der „Oberfläche“ (Marx) abzuarbeiten – jedenfalls dort, wo es inhaltlich passt und seine Gedanken einen Platz haben.

Marx ist nicht minder aktuell als vor anderthalb Jahrhunderten, als es geschrieben wurde. Es mag sicherlich einige Neuerungen gegeben haben in der Ökonomie, etwa das Konstrukt einer supranationalen Zentralbank, algorithmengetriebene Finanzmärkte, Online-Handel, Kryptowährungen, Negativzinsen, Sozialstaaten, Steueroasen, Umwelt- und Kinderschutzrechte und was es sonst nicht alles an Innovationen seit Marx gibt. Aber rein gar nichts davon ändert die wesentlichen Strukturen dessen, wie Ausbeutung, Armut und Konkurrenz unter kapitalistischer Produktionsweise funktionieren. Im Gegenteil muss man sich sogar all diese Neuerungen zunächst einmal komplett wegdenken, um diese – von den Illusionen solcher Neuheiten stark überwucherten – Strukturen überhaupt erst freizulegen. Und erst dann kann man sich überlegen, in welcher Weise und welchem Umfang all diese Neuheiten in die alten Strukturen eingreifen, ob sie z.B. bestimmte Tendenzen verschärfen oder ausbremsen.

Nur vom Standpunkt einer soliden, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Theorie, so die Behauptung der Reihe, lässt sich die Titelfrage, was überhaupt für den Kapitalismus spricht, beurteilen. Folglich trat sie mit dem Programm an, in fünf Folgen die interessierten Leser und Leserinnen über einige der wichtigsten Argumente der marxschen Kapitalismuskritik aufzuklären. Diese wurden seinem Hauptwerk entnommen und nach einer subjektiven Auswahl, die sich an den geläufigen Lobesworten über die Leistungen der Marktwirtschaft orientierte, zusammengestellt. Mittlerweile sind die geplanten fünf Folgen erschienen und Weiteres ist hinzugekommen (8).

Das Programm war, beginnend mit Argument 1 („Produktion findet nur unter Vorbehalt des Mehrwerts statt“) und 2 („Die Produzenten entscheiden nicht über Was und Wie der Produktion“) die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf Hauptargumente zu reduzieren, die für die heutige Debatte über das Wirtschaftsleben Relevanz besitzen, und die betreffende Argumentation gleichzeitig in ihrem theoretischen Zusammenhang der marxschen Analyse aufzuzeigen. Noch im August folgte dann der zweite Teil der Reihe („Der Kapitalismus schafft Reichtum“), im September der dritte („Der Kapitalismus stiftet Freiheit und Gerechtigkeit“) und der vierte („Im Kapitalismus wird wenigstens niemand ausgebeutet“). Der kundige Leser erkennt sofort, dass die Überschriften der einzelnen Artikel jeweils einen trojanischen Charakter haben. Anfang November wurde die Reihe mit dem fünften Teil („Das Trickle-Down Prinzip“) abgeschlossen.

Behandelt wurden in den Artikel 2-4 folgende Argumente und ihre Konsequenzen: „Der Erfolg der Produktion ist nicht garantiert“ (Argument 3), „Der Wert von Waren ist durch objektive Bedingungen bestimmt“ (Argument 4), „Juristische Gleichheit (re-)produziert ökonomische Ungleichheit“ (Argument 5), „Der Mehrwert gehört notwendig dem Kapitalisten“ (6), „Der Lohn ist eine verdeckte Form der Ausbeutung“ (Argument 7) mit einem Exkurs zu den historischen Verlaufsformen von Ausbeutung im Vergleich zur modernen, und einem Exkurs zur Berechnung des Grads der Ausbeutung in Form der Rate des Mehrwerts, und „Die Rechtfertigung des Kapitalismus ist Propaganda und Ideologie“ (Argument 8), worin einige der gängigsten Argumentationsfiguren, mit denen Kapitalisten ihre ökonomische Stellungen in der Gesellschaft vor sich und anderen zu rechtfertigen pflegen, analytisch aufs Korn genommen werden.

Am Ende der Reihe hieß es dann: „Um also die Titelfrage abschließend und hoffentlich ein für allemal zu beantworten. Was spricht für den Kapitalismus? Nichts. Wirklich rein gar nichts.“ Das war jedoch nicht das letzte Wort, denn mit der fortschreitenden Veröffentlichung wuchs auch der Diskussionsbedarf in eigentümlicher Weise.

Sumpfblüten digitaler Debattierkultur

Das anfängliche Vorhaben, die Artikel schnell in einem Rutsch zu veröffentlichen, wurde durch einen Faktor durchkreuzt, der sich im Netz bekanntlich in ganz eigener Weise bemerkbar macht und überhaupt der Anlass für die Reihe war: Telepolis bietet den Lesern die Möglichkeit, Online-Kommentare in einem Forum zu veröffentlichen, und von diesem Angebot wurde rege Gebrauch gemacht – ausgelöst durch die Reihe, dann aber auch als „Gespräch“ der Forumsteilnehmer untereinander. Das „Gespräch“ steht in Anführungszeichen, da sich hier zu großen Teilen ein Bedürfnis zu verbalen Pöbeleien, Beleidigungen, Drohungen und Ähnlichem austobte, so dass man sachliche Gesichtspunkte oft mit der Lupe suchen musste. Da möchte man übrigens gar nicht wissen, was in den von der Administration gesperrten Beiträgen gestanden hat!

Die Verlaufsformen digitaler Stammtischkultur sind hinlänglich bekannt. Über Shitstorms und Mobbing, über Trolle und Fake News Factorys wird man regelmäßig informiert, und eine ganze Subkultur gibt sich diesem Treiben hemmungslos hin als Ergänzung der Selbstdarstellungskunst und Inszenierung der eigenen Persönlichkeit, denen das Internet eine Spielwiese geschaffen hat. Erstaunlich war das jedoch bei diesem Thema, das sich ja in einem eher theoretisch-wissenschaftlichen Rahmen bewegte – zudem auf einer Plattform, die investigativ und pressekritisch vorgeht und sich als ein Medium fundierter Gegeninformation versteht. Das Thema selbst hatte auch keinen direkten persönlichen Bezug – von der historischen Person Marx abgesehen –, legte vielmehr auf die Klärung von ökonomischen Grundsatzfragen Wert. Dabei argumentierte die Reihe natürlich hart in der Sache, schoss sich aber gerade nicht auf rücksichtslose („profitgierige“) Unternehmer oder korrupte („neoliberale“) Wirtschaftspolitiker ein, sondern betonte die systemischen Zusammenhänge. Im Forum kam darauf eine Flut von antikommunistischen Beschuldigungen zustande, die an die tiefsten Zeiten des Kalten Kriegs erinnerten, sowie viele argument- und sinnfreie Beschwerden über die Unverschämtheit eines Autors, der wirtschaftliche Zusammenhänge kritisch unter die Lupe nehmen wollte.

Der Verfälschung, die sich dort breite machte, galt es etwas entgegenzuhalten. Deshalb startete in einer weiteren, parallel laufenden Reihe noch Ende August das verwegene Unterfangen, das Sammelsurium an Forums-Veröffentlichungen selbst zum Thema zu machen. Entsprechend hieß die Reihe „Marx ist Murks“ (9), den Tenor vieler Kommentare aufgreifend. Sie versuchte eine Liste der wichtigsten im Forum vorgetragenen Einwände den Wind aus den Segeln zu nehmen, ohne aufs gleiche Niveau haltloser Beschuldigungen zu verfallen. Darum wurde sehr methodisch vorgegangen. Die Argumente der Foristen wurden gesammelt, thematisch sortiert und dann in Zitaten vorgestellt, um diese dann Stück für Stück mit Gegenargumenten zu konfrontieren. Die Form der Behandlung stieß allem Anschein nach, jedenfalls der Anzahl und dem Inhalt der Kommentare zufolge, sogar auf mehr Interesse als die eigentliche Reihe. Was aber nicht weiter verwunderlich ist: Die öffentlich Bloßgestellten versuchten durch weitere Gegenrede vergeblich ihr Gesicht zu wahren, und die Kritiker nutzten die Gelegenheit, sie in ihren festen Ansichten weiter zu verunsichern und in die Enge zu treiben. Daraus ergab sich für manch interessierten Leser, der nebenbei auch erfahren konnte, wie man solchen Einwürfen inhaltlich entgegenstellen kann, der Kollateralnutzen eines kleinen Spektakels.

Die Marx-ist-Murks-Reihe begann mit pauschalen Vorwürfen gegen die Unwissenschaftlichkeit des Autors der Reihe („Der Autor betreibt Begriffsverwirrung“) bzw. des „Kapital“ („Mehrwert ist gar kein Kriterium der Produktion“) und abschließend mit klassischen antikommunistischen Beschuldigungen, die auf nichts anderes als ein Kritikverbot oder eine Aburteilung der gegnerischen Position hinauslaufen („Geh doch erst mal arbeiten“, „Marxisten sind Blutsäufer“). Letzteres übrigens ein Niveau, das auch schon im „Schwarzbuch des Kommunismus“ (10) erreicht wurde, wo Wissenschaftler unter Anleitung des Historikers und Ex-Maoisten Stéphane Courtois ein phantastisches Sündenregister des Kommunismus aufmachten, laut Asienexperte Jean-Louis Margolin gehört selbstverständlich auch der Kannibalismus dazu.

Mittlerweile sind fünf Folgen dieser Replik-Reihe erschienen, die teils wütende, teils überraschte, aber auch nach und nach immer mehr sachkundige bzw. an Sachfragen interessierte Reaktionen auslösten. Insgesamt kamen bislang an die 2.000 Kommentare zusammen, wobei sich zunehmend gehaltreichere Diskussionen unter den Kommentatoren entwickelten.  Bzw. gab es diese auch schon zu Beginn, aber sie wurden von ziemlich viel Unkraut überwuchert und kamen kaum zur Geltung. Dies scheint sich allmählich zu ändern. Die letzte Folge wurde Anfang November 2020 veröffentlicht (11). Sie stand unter der Überschrift „Kritiker des Marxismus erklären diesen für unwissenschaftlich“ und bot einige Ausflüge ins moderne Verständnis von Wissenschaft, wie es sowohl als populäre Auffassung von Laien, aber auch bei (selbst ernannten) Fachleuten gepflegt wird. Hauptpunkte dieses Wissenschaftsverständnisses sind etwa: Nur was sich exakt messen (und in mathematischen Formeln fassen) lässt, so dass sich daraus prognostische Aussagen über die zukünftige Entwicklung sowie Hilfestellungen für die Akteure der Marktwirtschaft ergeben, verdient das Prädikat „wissenschaftlich“. Gegen diese zentrale Fehlauffassung, die in der populären Form natürlich gleich das „Argument“ einschließt, dass es gar nicht anders gehen kann als so, wie es in der Marktwirtschaft eingerichtet ist, schrieb und schreibt die Reihe konsequent an. Diese banale Rechtfertigung des Bestehenden, weil es nun einmal besteht und der Kritiker keine konstruktive Alternative zu seiner Verbesserung nennen kann, beherrschen natürlich auch die Profis – so etwa die SZ-Wirtschaftsredakteurin Franziska Augstein, wie man bei Telepolis nachlesen konnte (12).

Und die Reihe ist in dieser Hinsicht mehr als ein Angebot zur Auseinandersetzung über ökonomiekritische Streitpunkte, sondern eine zentrale Herausforderung für ein Denken, das sich in den gegebenen Verhältnissen einrichten will. Im Verlauf der Debatte scheinen nun – vorsichtig gesagt – die Pöbeleien und Beschimpfungen etwas abgenommen zu haben; anscheinend sortiert und differenziert sich der Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, der bislang im Forum bei Systemkritik, aber vor allem bei bei Reizthemen wie Rechtstrend oder Migration zu gehässiger Hochform aufgelaufen ist. Es wäre in der Tat ein Hoffnungsschimmer, wenn das zunehmende Interesse an der Klärung sozialer Fragen Kommentatoren vertreiben würde, die gegen linke Spinner die Macht des Faktischen verteidigen und im Übrigen ihre nationalistischen oder rassistischen Ressentiments ausleben wollen. Doch es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, dieses Internet-Panoptikum abschließenden zu bewerten oder zu resümieren. Wer sich für Kapitalismuskritik interessiert, kann sich selber einen Eindruck von der noch laufenden Diskussion verschaffen – oder sich dort beteiligen. Wenn sich hier wirklich eine vernetzte Debatte entwickeln sollte und nicht ein weiterer Mega-Stammtisch, wäre das sicher ein Fortschritt.

 

Quellen

(1) René Lindenau, Friedrich Engels oder: Wie ein „Cotton – Lord“ den Marxismus erfand, Scharf links, 21.8.2020: http://www.scharf-links.de/45.0.html?&tx_ttnews[swords]=Marx&tx_ttnews[tt_news]=74766&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=06ad0ff4a5.

(2) Vgl. die Reihe „Marx is back“, Vol. 1-10, IVA, 2017-2018: https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#%E2%80%9Emarx_is_back_vol_1.

(3) Sebastian Klauke, Warum noch eine Marx-Biographie? (Rezension zu: Michael Heinrich, Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft, Bd. 1, 2018), Untergrund-Blättle, Marx-Dossier, 1.4.2019: https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/

(4) Siehe: http://marx-biografie.de/.

(5) Franz Mehring, Karl Marx – Geschichte seine Lebens. Gesammelte Schriften, Band 3, Berlin 1976, S. 21.

(6) Brend Tragen, Was bleibt von Marx?, Telepolis, 19.7.2020: https://www.heise.de/tp/features/Was-bleibt-von-Marx-4844224.html.

(7) Brend Tragen, Der Kapitalismus schafft nützliche Güter, Telepolis, 24.8.2020:  https://www.heise.de/tp/features/Der-Kapitalismus-schafft-nuetzliche-Gueter-4873238.html.

(8) Eine Übersicht über die Veröffentlichungen findet sich unter: https://www.heise.de/suche/?rm=search&sort_by=date&channel=tp&sort=d&q=Brend+tragen&channel=tp.

(9) Brend Tragen, Marx ist Murks, Teil 1, Telepolis, 30.8.2020: https://www.heise.de/tp/features/Marx-ist-Murks-Teil-1-4881920.html.

(10) Stéphane Courtois u.a., Schwarzbuch des Kommunismus, München und Zürich 1998, S. 669.

(11) Brend Tragen, Marx ist Murks - Teil 3c, Telepolis, 1.11.2020: Replik auf die Einwürfe der Foristen  https://www.heise.de/tp/features/Kritiker-des-Marxismus-erklaeren-diesen-fuer-unwissenschaftlich-4941228.html.

(12) Richard Winterstein, Kapitalismus: Kein Spiel!, Telepolis, 25.10.2020: https://www.heise.de/tp/features/Kapitalismus-Kein-Spiel-4938221.html.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlichung erfolgte bei http://www.scharf-links.de/