Eine Festung der Engstirnigkeit
Wissenschaft in postmodern(istisch)en Zeiten(1)

von Richard Albrecht

01/2021

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1968 wurden bürgerliche Professoren Fachidioten genannt, weil sie gesellschaftliche Zusammenhänge ausblendeten. Unser Autor, damals politischer Referent des AStA der Uni Mannheim, geht in seiner Kritik weiter. Und skizziert die Tenderz zunehmender Entwissenschaftlichung von Wissenschaft in der gegenwärtigen postmoder(nistisch)en Ära. Die nicht mehr fachidiotisch, sondern vor allem staatsgedienerte Ideologie ist.(2)

Messen, was messbar ist, und messbar machen, was nicht messbar ist. Galileo Galilei [1564-1641] zugeschriebener Schlüsselsatz zur modernen naturwissenschaftlichen Methode.(3)

„Der „alte" Engels hatte sich noch 1891 nach dem Tod des kränkelnden Genius Karl Marx (1818-1883) ausgiebig und unterm Gesichtspunkt zeitnaher Erstveröffentlichung als (Güte-Kriterium der Authentizität einer zeitgenössischen Quelle sachkundig wie engagiert mit dem „Kathedersozialisten" und professoralen Marx-Kritiker Lujo Brentano (1844-1931) auseinan dergesetzt(4). Und der nervöse Exil-Politiker Lenin hatte 1916 im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner theoretischer Imperialismus-Kritik(5) vorhandenes Wissen auch deutschbürgerlicher Ökonomieprofessoren kritisch verarbeitet - zugleich aber betont, daß einem bürgerlichen Professor kein Wort ge glaubt werden sollte, sobald er sein Fachgebiet verlässt und zu philosophieren anfängt.(6)

Diese Form akribischer Auseinandersetzungen von Engels bis Lenin, so meine die Anschauungsbeispiele verallgemeinernde These, ist inzwischen sachlich-intellektuell so unnötig wie hinfällig: Unter postmodern(istisch)en Vorzeichen ist höchste Vorsicht, auch was wirtschaftliche und/oder zeitgeschichtliche Sachverhalte und was das (angebliche oder wirkliche) Fachwissen dieser Leute betrifft, geboten. Am Beispiel gesprochen: Unabhängig von der Technik des Fälschens („Mit oan Messer geht's halt besserl") muss, wer als Zeitgeschichtler Quellen fälschen will, als unumstößliche Voraussetzung („conditio sine qua non"), wissen, was eine Quelle ist. Diese/s war aber bei prominenten deutschen Zeitgeschichtlern und Lehrstuhlprofessoren wie Jäckel, Winkler, Mommsen etc. nicht gegeben. Insofern macht es durchaus Sinn, wenn sie schlimmstenfalls unbequellt bzw. bestenfalls quellenfaul daherkommen. Insofern folge ich Walter E. Richartz (1927-1980) und dessen Satireroman Reiters Westliche Wissenschaft (1980). Dieser schloß an dessen 1969 veröffentlichte, als satirischen Pamphletroan angelegte, mit wissenschaftlichen Literaturnachweiser ergänzte polemische Warnung vor Kontrollmöglichkeiten der Gesamtgesellschaft durch Medizinprofessionelle unter ärztlicher Führung(7) an und einvernahm reale US-amerikanische Forschungserfahrungen des Autors als Naturwissenschaftler.

Hier erscheint der wissenschaftliche Erkenntnisprozess nicht mehr als grundsätzlich offenes, dialogisches, antidogmatisches Denken, sondern als „eine Festung der Engstirnigkeit... Benutzbarkeit wird zum Kriterium...Was nicht ins Bild passt, wird ausgesperrt. Die großen Vernachlässiger. Die Kurvenanpassung mit Korrekturgliedern. Das Denken mit unverrückbaren Ausgangspunkten, und von da an wird immer ein wenig geschwindelt. Die Naturverwüstung kommt in zweiter Linie, zuerst die Menschenverwüstung, Verkarstung des Bewusstseins. Erfolg als Kriterium für Richtigkeit."(8)

Fußnoten:

1)  Bevorworteter vorletzter Abschnitt der Dokumentarpolemik des Autors aus DIE WAHRHEITSLÜGE. Subjektwissenschaftliche Kritik alter und neu­er ganzganzdeutscher Zeitgeschichtsschreibung [2009] http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Die_WahrheitsLuege.pdf

2) Zum Zusammenhang Richard Albrecht, Stalinismus und Antikommunismus, Ideologie und Wissenschaft; in: Soziologie heute, 9 (2018) 59: 47; ders., DENKSCHRANKEN. Zum Leitkonzept unvorhergesehene Handlungsfolgen; in: ebda, 12 (2020) 70:46

3) Vgl. Richard Albrecht, SUBJEKTIVIERUNG. Die Aktualisierung Goe-the'scher sensualer Wissenschaftslehre als Dimension sozialwissen­schaftlicher Erkenntnis; in: Aufklärung & Kritik, 21 (2014) 1:122-126; auch http://www.gkpn.de/Albrecht_Subjektivierung.pdf

4) Friedrich Engels, In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung. Geschichtserzählung und Dokumente [1891]; in: Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1963, Band 22: 93-185; auch

5) W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß; in: ders., Ausgewählte Werke. Berlin: Dietz, 1983, Band II: 643-770; auch http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_093.htm

6) Vgl. Jürgen Kuczynski, Dialog mit meinem Urenkel. 19 Briefe und ein Tagebuch. Berlin-Weimar: Aufbau, 1983

7) Walter E. Richartz, Tod den Ärtzten. Roman. Zürich: Diogenes, 1969; 1980

8) Walter E. Richartz, Reiters Westliche Wissenschaft. Roman. Zürich: Diogenes, 1980: 212; vgl. aktuell Christian Kreiß, Gekaufte Wissenschaft. Hamburg: tredition, 2020; auch https://menschengerechtewirtschaft.de/wp-content/uploads/2020/08/Buch-Gekaufte-Wissenschaft-pdf ; ders., Corona und gekaufte Wissenschaft: https://www.nachdenkseiten.de/?p=66244 ; methodenkritisch N.N. , Achtung Häresie: http://www.trend.infopartisan.net/trd1120/t061120.html

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine erweiterte Fassung, des in der Nr. 9/2020 veröffentlichten Beitrags.