Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

France Télécom: Doch noch Verurteilung
Erstes Urteil wegen „institutionellen Mobbings“ als Unternehmenspolitik

01/2020

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Seit 2001 steht der Straftatbestand des Mobbing, oder französisch harcèlement moral (abgeleitet vom früher bestehenden Terminus harcèlement sexuel, für „sexuelle Belästigung“ systematischer Art), in den französischen Gesetzbüchern. Als strafrechtlicher Tatbestand steht er in Artikel 222-33-2 des Code pénal (französisches StGB), und im Arbeitsgesetzbuch unter Artikel L.1152-1 des Code du travail.

Zum allerersten Mal überhaupt jedoch wurde nunmehr am Freitag, den 20. Dezember 19 ein – noch dazu führendes – Unternehmen aufgrund kollektiver Praktiken unter diesem Vorwurf verurteilt. Bislang kam es eher vor, dass individuelle Vorgehensweisen etwa tyrannischer Vorgesetzter sanktioniert wurden; der Arbeit„geber“ wurde dann belangt, wenn die zuständigen Richter/innen zum Ergebnis kamen, er sei seiner Pflicht zum Schutz von Sicherheit & Gesundheit“ seiner/s Untergebenen gegen solche Praktiken nicht hinreichend nachgekommen. Nach bisherigen Urteilen wurde das Mobbing, oder der Aufbau systematischen Drucks auf Lohnabhängige mit negativen Auswirkungen auf deren (körperliche und/oder geistige) Gesundheit, jedoch nicht als Gegenstand eines Systems, einer Unternehmenspolitik aufgefasst.

Am vorigen Freitag, den 20.12.19 fiel nun das Urteil in dem Langzeitprozess gegen das frühere Unternehmen France Télécom, d.i. die 1997 („dank“ der damals regierenden Sozialdemokratie, übrigens bei damaliger Regierungsbeteiligung von französischer KP und Grünen; vgl. zu den damaligen Vorgängen vom Autor: https://jungle.world/artikel/1997/31/ ) privatisierte frühere französische Telekom. Letztere hieß vor 1990 noch PTT – für Post & Telekommunikation oder historisch „Post, Telephon, Telegraph“ - im bis dahin bestehenden und dann aufgelösten Verbund mit der französischen Post/La Poste, und ist heute längst umbenannt in Orange; so lautet ihr neuer Unternehmensname weltweit1seit dem 1. Juli 2013.

Das Verfahren selbst fand mit mehrwöchigen Verhandlungen vom 09. Mai bis zum 11. Juli dieses Jahres statt. Es war die Reaktion der Justiz, eingeschaltet durch mehrere Gewerkschaften – eine federführende Rolle spielte dabei die linke Basisgewerkschaft SUD PTT – auf eine „Epidemie“ von Selbstmorden unter France Télécom-Beschäftigten: Insgesamt rund sechzig Suizide wurden in Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen, Sinnzweifeln der Beschäftigten, Burn out-Syndrom und arbeitsbedingter Depression gebracht; 35 darunter allein in den Jahren 2008 und 2009, denen der stärksten Umstrukturierung. (Vgl. auch https://www.labournet.de)

In jenen Jahren wurden viele Manager auf der mittleren Ebene systematisch dazu angehalten, zum Personalabbau beizutragen, Menschen aus dem Unternehmen hinauszuekeln oder ihnen ihre fehlende berufliche Zukunft dort eindringlich vor Augen zu halten. Das Ganze im Kontext des Übergangs von einem früheren öffentlichen Unternehmen, in dem das Personal oft bestimmte Werthaltungen teilte – nicht an Rentabilitätskriterien ausgerichteter Dienst an den Nutzer/inne/n, Primat für Pannenreparaturen und Beheben technischer Defekte, Recht auf Kommunikation für Alle – zu einem privaten Anbieter, bei dem die abhängig Beschäftigten vor allem ständig neue Geräte und Angebote an die Frau & an den Mann bringen und sich selbst in kommerziell denkende Verkäufer/innen verwandeln sollten. Viele Lohnabhängige ertrugen es nicht, zu wissen, dass ihr Job oft darin bestehen sollte, Dritten Angebote aufzuschwatzen, von deren mangelndem Sinn & Nutzen sie selbst überzeugt waren. Nicht, dass ein telefonisches Gerät als solches überhaupt keinen Nutzen hätte, doch zu jener Zeit (Ende der 2000er Jahre) häuften sich die ständig neuen Tarifangebote und -pauschalen in einem sich ausbreitenden „Tarifdschungel“.

Höchstens drei Jahre sollten Beschäftigte auf einer Stelle ausharren „dürfen“, danach – so war es vorgesehen - mussten sie dem stetig steigenden Mobilitätsdruck nachgeben. Das (als solches durchdachte) Ziel war es, Bindungen im Arbeitsleben möglichst aufzulösen, Arbeitskollektive zu zerstören oder zu verhindern, die einzelnen Lohnabhängigen einem ständigen Veränderungs- und Anpassungsdruck auszusetzen.

Überdies enthielt der damals verabschiedete Unternehmensplan Next ein klar quantifizierbares Ziel: 22.000 Beschäftigte weniger! (Die damalige französische Télécom zählte zur Zeit ihrer Privatisierung 1997 noch 170.000 Beschäftigte. Heute sind bei ihrem Nachfolgerunternehmen Orange rund die Hälfte oder 85.000 Lohnabhängige beschäftigt; vgl. auch mitsamt Schaubild: https://www.agoravox.fr

Dieses quantitativ gefasste Ziel zum erwünschten Abgang von Beschäftigten lieferte eine der Grundlagen für die nun gefallene gerichtliche Entscheidung zur Verurteilung der Spitzenverantwortlichen. Die Verteidigung im Prozess, insbesondere jene des damaligen Vorstandsvorsitzenden (französisch: PDG) Didier Lombard, behauptete zwar, es habe sich um eine reine „Projektion“ (also Vorausberechnung) gehandelt. Doch das Gericht folgte dieser Schutzbehauptung nicht und ging davon aus, es habe sich tatsächlich um eine konkretisierte Zielsetzung gehandelt. Höhere und leitende Angestellte (cadres) hielten Gehaltsprämien oder Boni für ihren jeweiligen Beitrag zu diesem Ziel.

Als Ausgangspunkt wurde ferner auch eine Managertagung im Oktober 2006 in den Veranstaltungsräumen der Maison de la Chimie in Paris genommen. Dort hatte Didier Lombard u.a. wörtlich erklärt: In 2007 (/ im kommenden Jahr) werde ich auf die eine oder andere Weise Abgänge durchführen, sei es durch die Tür oder durchs Fenster.“

Damit meinte er zwar nicht buchstäblich, dass Lohnabhängige sich aus dem Fenster stürzen sollten oder – mit einem Strick um den Hals – von einem Stuhl. Mehrere Dutzend von ihnen, überzeugt von der Sinnlosigkeit iher Tätigkeit, denen sie im Rahmen von Lohnarbeit immerhin ein Drittel ihrer Daseins zu widmen hatten, zogen jedoch genau diese fatale Konsequenz aus der Entwicklung.

Die drei Richter/innen zitierten in diesem Zusammenhang eine Analyse des Sprachwissenschaftlers Victor Klemperer aus seinem berühmten Werk Die Sprache des Dritten Reichs“, und zwar: Worte können wie winzige Arsendosen wirken. Man schluckt sie ohne aufzumerken hinunter, sie scheinen keinerlei Wirkung zu haben. Und dann wird nach einiger Zeit die Giftwirkung spürbar.“ (Rückübersetzung aus dem Französischen, aus der Urteilsbegründung) Eine Feststellung, die – auch ohne falsche Parallelen zum Faschismus, selbstverständlich – auf eine Gegenwartssituation wie diese übertragbar ist.

Die drei Richter/innen unterzogen sich der Mühe, ausdrücklich zu begründen, warum an dieser Stelle erstmals ein ganzes System einer Unternehmenspolitik zum Gegenstand einer Verurteilung - als Mobbing – genommen wird, und nicht länger nur individuelle Handlungen: „(Der Gesetzgeber) hat die strafrechtliche Sanktionierung eines institutionalisierten Mobbing zum Nachteil der Gesamtheit der Beschäftigten (im Original: collectivité de travail, wörtlich Arbeitskollektivität) nicht ausgeschlossen. Das Mobbing, weit entfernt davon, sich auf einen individuellen Konflikt beschränken/reduzieren zu lassen, kann tiefe Wurzeln in der Arbeitsorganisationen und in den Managementformen aufweisen.“

Die 343 Seiten umfassende Urteilsbegründung nennt auch wiederholt die persönlichen Namen einzelner Beschäftigter, die zum Opfer einer solchen Unternehmenspolitik wurden: Rémy Louvradoux, er verbrannte sich selbst vor einem Unternehmenssitz von France Télécom; André Amelot, Dominique Mennechez, Nicolas Grenoville und Annie Noret, die sich erhängten; Jean-Marc Regnier, der sich erschoss…

Die Verteidigung hatte behauptet, es handele sich um einen politischen Prozess und um eine unzulässige Einmischung in Unternehmensabläufe, bei welcher es (ideologisch motiviiert) darum gehe, das Erzielen von Profit generell als Übel hinzustellen. Das Urteil folgt ihr darin nicht.

Die frühere France Télécom, vertreten durch ihre Rechtsnachfolgerin Orange, wird zur in diesem Zusammenhang höchst möglichen Geldbuße als juristische Person (75.000 Euro) verurteilt. Drei frühere Spitzenmanager – der damalige PDG Didier Lombard, sein „Direktor für Inlandsoperationen“ Louis-Pierre Wenès und und der seinerzeitige Leiter der Personalabteilung, Olivier Barberot – erhielten ihrerseits die Höchststrafe für natürliche Personen: je ein Jahr Haft sowie 15.000 Euro Geldstrafe. Dabei werden jeweils acht Monate zur Bewährung ausgesetzt, jedoch vier Monate ohne Bewährung ausgesprochen. Vier weitere Manager oder frühere Manager erhielten als „Komplizen“ im Sinne v. Artikel 121-6 und 121-7 des französischen Strafgesetzbuchs je vier Monate Bewährungsstrafe und je 5.000 Euro Geldstrafe.

Insgesamt 118 individuelle Nebenkläger/innen – frühere oder noch immer Beschäftigte, Angehörige von Suizidopfern; hinzu kommen aber auch insgesamt acht Gewerkschaften – erhielten je zwischen 10.000 und 45.000 Euro Schadensersatzanspruch und Prozesskosten zugesprochen. Die Mehrzahl der am Verfahren beteiligten Gewerkschaften erhielten ihrerseits je 30.000 Euro zugesprochen, die am Ausgang des Strafverfahrens stehende Gewerkschaft SUD PTT hingegen 40.000 Euro.

Die Verteidigung mindestens des früheren PDG Didier Lombard will Berufung gegen das Urteil einlegen und reagierte umgehend auf dieses, indem sie von einer (natürlich ideologisch motivierten und blabla) „politischen Analyse und demagogischen Politik“ sprach. Hingegen hat das Unternehmen Orange sich dazu entschieden, nicht gegen seine Verurteilung zur Geldstrafe in Berufung zu gehen.

Allerdings wurden die Beschuldigten für einen Teil der Periode, welche den Gegenstand der Strafverfolgung bildete, freigesprochen. Verurteilt wurden sie für den Zeitraum 2007/08, den der entscheidenden Weichenstellungen. Hingegen wurden sie für die Periode 2008-2010, in welchem die einmal gefällten Beschlüsse der Unternehmenszentrale „nur“ noch heruntergebrochen und vor Ort um- und durchgesetzt wurden, freigesprochen. Dies ändert nichts Grundsätzliches am Inhalt des Urteils.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.