Algerien nach der „Wahl“
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ei welcher man wirklich keine Wahl hatte

von Bernard Schmid

01/2020

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La course au kursi nennt man eine solche Episode bisweilen in Algerien, in einer Mischung aus dem französischen Ausdruck la course, das Rennen und dem arabischen al-kursi, der Stuhl. Letzterer bezeichnet in diesem Falle den Sitz der Macht oder den Thron.

Es war'n also mal wieder Wahlen in Algerien, nich' wahr. Und in diesem Falle für die Präsidentschaft des nordafrikanischen Landes, in dem – ähnlich wie in Frankreich – das Staatsoberhaupt eine erhebliche Machtfülle innehat. Allein dass diese Wahl abgehalten wurde, ist einer Erwähnung wert, denn im Vorfeld waren jedenfalls wesentlich mehr Menschen für ihren Boykott, ihre Absage oder mindestens ihre längerfristige Verschiebung aktiv, als ihr Stattfinden wünschten. Die gesamte soziale und politische Opposition, die seit dem durch Massenproteste erzwungenen Abgang des früheren Präsidenten Abdelaziz Bouteflika aktiv war und mobilisiert blieb, trat gegen eine solche Wahl zum jetzigen Zeitpunkt ein und erblickte in ihr die Androhung, dass nach nunmehr zehnmonatigem Dauerprotest auf den Straßen und Plätzen ab jetzt eine „Normalisierung“ des Regimes von oben her eingeläutet werden könnte.

Algeriens Innenminister Salah Eddine Dahmoune steuerte neun Tage vor der Wahl seine eigene Erklärung für den erkennbaren Wähler-Unwillen bei, indem er öffentliche erklärte, es gebe in Algerien „Verräter, Söldner und Homosexuelle“, diese seien vom kolonialistischen Geist“ vergiftet und deswegen nicht zum Mitmachen bereit. Überzeugt haben dürfte er die wenigsten. Die Protestdemonstrationen vom 06. Dezember 19, also drei Tage später, waren die größten des Jahres neben denen vom März sowie vom 1. November 19, dem Jahrestag des Ausbruchs des antikolonialen Befreiungskriegs 1954. Erneut waren Millionen von Menschen in mehreren Städten unterwegs.

Am vergangenen Donnerstag, den 12.12.2019 fand die Wahl nun dennoch statt.  Allerdings zeigte selbst das Staatsfernsehen ENTV, das gewöhnlich willfährig auftritt, auch wenn die Protestbewegung in den letzten Monaten mehrfach auch zum Aufbegehren von Journalisten in seiner Belegschaft führe, weitgehend leere Wahllokale. Die offizielle Stimmbeteiligung von 41,4 % hält ein Großteil der Bevölkerung für einen Witz. In Frankreich, wo rund zwei Millionen algerische Staatsangehörige lebten, war von eine Wahlteilnahme von deren Seite nichts zu spüren. Das liegt nicht darin, dass diese Emigrationsbevölkerung politisch passiv wäre, das Gegenteil ist der Fall. Man erinnert sich an die Bilder aus Frankreich anlässlich der algerischen Präsidentschaftswahl im November 1995, die inmitten des Bürgerkriegs der neunziger Jahre stattfand, jedoch eine Normalisierung und eine Hoffnung auf en Abebben der extremen Gewalt widerspiegeln sollte. Vier bis sechs Stunden damals Algerier/innen vor ihren Wahllokalen in Paris, Lyon oder Marseille Schlange. Im Ausland insgesamt gingen dieses Jahr nur 8,7 Prozent der dort wohnhaften Algerier/innen zur Wahl – laut offiziellen, mutmaßlich noch geschönten Angaben. Außerhalb Algeriens ließ sich dies schlechter kaschieren, explizite Manipulationen wären unter den Augen der Medien stärker aufgefallen.

Fünf Kandidaten hatte das Verfassungsgericht unter zwei Dutzend Bewerbern um die Bewerbung ausgesiebt. (Vgl. https://jungle.world/artikel/2019/45/bouteflikas-langer-arm ) Vier von den fünfen hatten am Wahlabend öffentlich behauptet, sie seien in die Stichwahl eingezogen. Üblicherweise tun dies nur Präsidentschaftsbewerber, die aus dem inneren Kreis der Macht einen Wink erhalten haten. In diesem Falle handelte es sich jedoch lediglich um Gerüchte, denn letztendlich findet keine zweite Wahlrunde statt : Der Mitbewerber Abdelmadjid Tebboune wurde mit 58,15 % der offiziell abgegebenen Stimmen amtlich zum Sieger erklärt. Ende der Durchsage. Mutmaßlich wollten die Machthaber es zwar demokratisch aussehen lassen, das Risiko eines zweiten Durchgangs dann aber doch nicht eingehen. Die Bevölkerung hätte ja auf dumme Gedanken kommen und erneut massenhaft dagegen demonstrieren können – oder gar den Wahlvorgang stören. Am vorigen Donnerstag war dies etwa in den beiden zentralen Städten der Berberregion Kabylei, in Tizi Ouzou und Bejaïa, tatsächlich der Fall. Aber auch im Zentrum der Hauptstadt Algier wurden am Spätnachmittag des Wahltags Protestgruppen durch die Polizei auseinander geprügelt.

Ob der 74jährige Tebboune – ein Jüngling, da er glatt ein halbes Dutzend weniger zählt als die bisherigen wichtigsten Repräsentanten der Übergangsregierung seit April 19 – nicht doch ein Fehlgriff für die Machhaber war, wird sich erweisen müssen. Von Mai bis August 2017 amtierte er kurzzeitig als Premierminister unter Bouteflika. In jener Zeit ließ er mit Polizei und Justiz gegen einige korrupte Geschäftsleute aus dem inneren Kreis des mafiotischen Staats- und staatsnahen Kapitalismus, der Algerien beherrscht, oder jedenfalls seinem Umfeld festnehmen, um einigen Wildwuchs bei den illegalen Geschäften zu beschneiden. Andererseits ist jedoch seine Familie direkt in den größten Skandal der letzten Jahre v erwickelt, den rund um einen Container mit 700 Kilo Kokain, welcher im Vorjahr im Hafen von Oran entdeckt wurde. (Vgl. https://jungle.world/artikel/2018/40/der-grosse-generalverdacht ) Sein Sohn Khaled sitzt in dieser Angelegenheit, die den Anlass dafür bot, dass verschiedene Clans innerhalb der herrschenden Oligarchie gegeneinander vorgingen, in Untersuchungshaft. Ansonsten gilt Tebboune als Technokrat der Macht , der in den neunziger Jahren mehrere Präfektenposten einnahm, jedoch bislang nie ein Wahlmandat errungen hat.

Auf dem zweiten Platz stufen die offiziellen Ergebnisse den regierungskompatiblen Islamisten Abdelkader Bengrina mit gut 17 Prozent ein. Er amtierte 1997 bis 1999 als Tourismusminister - in einer Zeit, in der es in Algerien ziemlich genau nullkommanull Tourismus gab, nach den Massakern der GIA (Bewaffnete islamische Gruppen ) in Bentalha, Ar-Rais und anderswo von 1997. Vor der Beendigung des Bürgerkriegs im Winter 1999/2000 reiste mit Ausnahme von Jungle World-Bericherstattern ( vgl. https://jungle.world/artikel/1999/43/cherchez-les-terroristes ) so gut wie niemand nach Algerien ein, jedenfalls nicht zu Urlaubszwecken. Bengrina zählt offenkundig zu jener Sorte Islamisten, die sich gerne vom Regime mit Pöstchen oder einem Standing als Kandidat abspeisen lassen. Seine Wahlkampagne war jedoch ein Desaster, wie andere Kandidaten wurde er ausgepfiffen und gestört, und diese gleich ab seinem ersten Auftritt...

Post scriptum: Der tatsächliche „starke Mann“ des Regimes während der Übergangsphase nach dem erzwungenen Rücktritt Abdelaziz Bouteflikas – der Generalstabschef der Armee, Ahmed Gaïd Salah – verstarb am Montag, den 23. Dezember 19 (also vier Tage nach der Amtseinführung von Präsident Tebboune am 19. Dezember 19), seinerseits 79jährig. Er erhielt ein Staatsbegräbnis, wie es sonst wohl nur Staatsoberhäuptern zuteil wird.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor dfür diese Ausgabe. Eine gekürzte Textfassung erschien am 19. Dezember 19 in der Wochenzeitung ,Jungle World'