Buchvorstellung
Grenzen als sozialräumliche Trennlinien im Zeitverlauf

von Richard Albrecht

01/2019

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Diese Buchneuerscheinung behandelt ein universelles Phänomen der menschlichen Geschichte vor allem in zwei Dimensionen: räumlich als Territorium und sozial als geschichtliche Entwicklung. Insofern verlangt diese sowohl geschichtswissenschaftlich als auch soziologisch wichtige Studie zu Grenzen doppelt konzentrierte Lektüre. Denn auch wenn die Autorin narrativ an wirkliche oder vermeintliche Universalien von bordering und exclusion als Grenzen setzende und ausgrenzende praktische Universalie handelnder Menschen(gruppen) erinnert – es geht letztendlich weder um beliebige Details noch um Einzelheiten. Sondern um im Allgemeinen aufscheinendes Globales und Universelles.

Dr. Andrea Komlosy (*1957) forscht und lehrt als Universitätsprofessorin in Wien. Sie war in den 1980er Jahren politisch linksaltenativ engagiert, veröffentlichte 1987 gemeinsam mit Hannes Hofbauer ein Buch übers Aufbegehren kleiner Leute in Österreich, publizierte später über Textilindustrie, wurde mit einer 2003 als Buch veröffentlichten Studie zur Wirtschaftsenentwicklung des Habsburgerreichs habilitiert und beschäftigt sich heute vor allem mit Global- oder Weltgeschichte, unter anderem als Autorin der seit 2000 erscheinenden Zeitschrift für Weltgeschichte (herausgegeben vom auch einleitend von ihr lobend erwähnten Hans-Heinrich Nolte) und zuletzt in ihren Büchern Globalgeschichte: Methoden und Theorien (2011) und Arbeit: Eine globalhistorische Perspektive (2014).

In den erstbeiden Abschnitten zum "verwickelten Phänomen" Grenze, Einleitung und Begrifflichkeit (7-16), geht Komlosy von der affektiv überbewerteten Metapher Grenze als aktuellem Wunschbild der einen und Feindbild der anderen aus. Und erinnert an Grenze als anthropologische "Grundkonstante im Zusammenleben von Menschen" in ihrer "Territorialität": ihr gilt Grenze als Regel, nicht als Ausnahme. Ohne Grenze im lateinisch-deutsch-englisch-französischen Spachfeld von Limes, Grenze, Border, Frontière operational zu definieren, geht es Komlosy um ein sowohl weites als auch simmelsoziologisches Verständnis von Grenze "nicht [als] eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern [als] eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt."[1]

Das Kernstück des Buchs bilden drei Großkapitel: Chronologie der Territorialiät (17-90), Typologie der Grenzen (91-150), Grenzregime und Politik der Grenze (151-225). Im kurzen Aus- und Rückblick geht es um den Gebrauch der Grenze (227-234). Eine Literaturliste ist angehängt (235-247).

Die Kapiteltriade gibt zunächst einen historiographischen Abriß seit den frühmittelalterlichen europäischen Stadtstaaten und Imperien über mittelalterliche Territorialität und neuzeitliche Flächenstaatlichkeit mit ihrer kolonialen Erweiterung, differentiert nationalstaatliche Territorialität vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und diskutiert neuere Tendenzen spätkapitalisticher Globalökonomie seit 1980 in ihren finanzökonomischen Auswirkungen auf Staaten und seit 2000 auf virtuelle Räume in einer zunehmend digitalistisch algorithmisierten Welt. Weniger europazentriert und eher systematisch ist Komlosys Grenztypologie. Sie beginnt allgemein-anthropologisch, skizziert politische, militärische und koloniale Grenzen und schildert in anregender Weise asymmetrisch-intrastaatliche territoriale Kampf- und Frontkriege und ihre Linien sowie Phantomgrenzen (etwa als Folgen von Dekolonialisierungs-, Entstaatlichungs- und Staatenum- bzw. -neubildungsprozessen) und kulturelle Grenzen (etwa als nationale und Systemgrenzen). Der letzte Teil: Wirtschaftliche und soziale Grenzen leitet über zum dritten Großkapitel über Grenzregime und Grenzpolitik mit der dort diskutierten Migrationsfrage im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen, Vorstellungen, Konzepte und Ideologien vor allem in Europa[2]. Im Schlußakkord zur Grenzpaktizierung verdeutlicht Andrea Komlosy die prozessuale Konstanz als beharrliche Stetigkeit westlich-imperial(istisch)er Weltherrschaft und ihrer Grenzregime als Machtfrage – ohne nach dem Motto Lo último que pierdes es siempre la esperanza (Das Letzte, was du verlierst, ist immer die Hoffnung) ihr moralisches und politisches Anliegen der Entstehung einer sozial gerechten Weltordnung aufzugeben.

Bleiben ohne die Leistung der Autorin als Geschichtswissenschaftlerin zu schmälern zwei wichtige Kritikpunkte: Erstens wird bei allem auch methodisch ausgreifendem Wissen und dem wissensoziologisch-konstruktivistischen Ansatz über wirkmächtige Vorstellungen, Konzepte, Mentalitäten, Mythen und Bilder das im 1980 veröffentlichten ersten Brandt-Report verkündete bipolare Grundkonzept nach dem Muster: unterentwickelter armer Süden vs. entwickelter reicher Norden als Leitmotiv globaler Ungleichheit durchgängig übernommen. Zweitens wirkt das dritte aktuelle Großkapitel zur Politik der Grenze streckenweise zu normativ und politizistisch in seiner willensethisch zugespitzten Form des Vorrangs oder Primats der Politik vor aller Ökonomie.

[1] Georg Simmel [Raum und räumliche Sozialordnungen] in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. [1908, IX. Kapitel]: http://socio.ch/sim/soziologie/soz_9.htm

[2] s. auch Hannes Hofbauer: Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert. Wien: Promedia, 2018, 271 p.

Andrea Komlosy
Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf.

Promedia Verlag
Wien
2018 247 Seiten

ISBN 978-3-85371-434-8

19,90 €

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.

Dr. Richard Albrecht, PhD., Kultur- und Sozialwissenschaftler. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute.