Wer ein gewisses Alter hat, in der Alt-BRD
linkspolitisch engagiert und kulturell
interessiert war, dürfte sie kennen: die
Leonhards. Gemeint sind der expressionistische
Dichter, Dramatiker, Kommunist, Exulant und
Widerständler Rudolf Leonhard (1889-1953), der
Jungkommunist der “Gruppe Ulbricht” und spätere
“Kommunismusexperte” Wolfgang Leonhard
(1921-2014), dessen Bestseller “Die Revolution
entlässt ihre Kinder” (1953) entgegen der
Verlagsintention bei Jugendlichen in den 1960er
Jahren Interesse am Sozialismus wecken konnte.
Und die Naturwissenschaftlerin, Spartakistin,
antistalinistische Sozialistin, Kriegsgegnerin,
Freidenkerin, Humanistin, Übersetzerin und
Publizistin Susanne Leonhard (1895-1984), kurze
Zeit Ehefrau Rudolf Leonhards und Mutter
Wolfgang Leonhards. 1920 erschien ihr gemeinsam
mit Ernst Drahn herausgegebenes 200-Seiten-Buch
“Unterirdische Literatur während des
Weltkrieges im revolutionären Deutschland”. Der
von ihr verfaßte Hauptteil wurde 1968 im
“Hausverlag” des Sozialistischen Deutschen
Studentenbundes (SDS), neue kritik in
Franfurt/Main, erneut veröffentlicht und sollte
als Beitrag zur politikgeschichtlichen Bildung
rebellierenden Studenten der 68er-Bewegung die
linksproletarische Opposition im Ersten
Weltkrieg in Deutschland, besonders mit
Schriften und Flugblätter der Gruppe
“Internationale”, ab 1916 “Spartakusgruppe” und
ihre Protagonisten Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg, nahebringen.
Anlässlich der hundertsten Wiederkehr des
Beginns des Ersten Weltkrieges erinnerte Heiner
Jestrabek an diese Opposition und ihre “erste
Chronistin” in der erweiterten Fassung seiner
2007 erschienen Broschüre.
Die Autorin wird im Vorwort so charakterisiert:
“Susanne Leonhard war konsequente Gegnerin des
imperialistischen Kriegs, wie dies in den hier
dokumentierten Schriften belegt wird. Sie blieb
konsequent bei ihren internationalistischen
Überzeugungen, auch nach bittersten
Enttäuschungen in der stalinistischen
Sowjetunion. Susanne Leonhard war eine
antistalinistische Sozialistin in der Tradition
Rosa Luxemburgs, eine humanistische
Geisteswissenschaftlerin und Publizistin,
Kriegsgegnerin und Freidenkerin - all dies
waren konsequente untrennbare Bestandteile
ihres Weltbilds. Ihre Schriften enthielten
zudem viele autobiographische Zeugnisse,
weshalb diese Dokumentation in der Hauptsache
sie selbst, in Auszügen und mit
Kommentierungen, zu Wort kommen lässt.”
Im ersten Beitrag “Susanne Leonhard” zeichnet
der Hg. ihren Lebensweg nach, geht in diesem
Zusammenhang auch auf den ihres Sohnes Wolfgang
[Wladimir] ein und kennzeichnet den
”Luxemburgismus”, den auch Susanne Leonhard
vertrat. Es folgen Erinnerungen des
Ex-Spitzenfunktionär der Freien Deutschen
Jugend (FDJ) und späteren Politikprofessors
Hermann Weber, der Susanne Leonhard half, ihr
Buch über ihr Schicksal als politische
Emigrantin in der UdSSR, “Gestohlenes Leben”
(1956), zu publizieren, auch Wolfgang Leonhard
kannte und 1984 einen Susanne-Leonhard-Nachruf
veröffentlichte; es folgen Erinnerungen des
Kriegsdienstgegners, Pazifisten und Sozialisten
Reinhold Settele und des Kabarettisten und
Journalisten Peter Großmann.
In den nachfolgenden hundert Seiten finden sich
Auszüge aus ihren Büchern “Unterirdischen
Literatur” (1920), “Gestohlenes Leben” (1956)
und ihrer Broschüre
“Ärger mit Zitaten und Karl Liebknechts
Nachlaß” (1971).
Heiner Jestrabek
stellt die Autorin als Religionskritikerin vor:
“Die Kirche und das fünfte Gebot”, als
Willensethikerin: “Weltanschauungen” sowie als
sozialistische Antikriegsgegnerin in Göttingen
und Berlin, Spartakistin und Publizistin:
“Unterirdische Literatur im revolutionären
Deutschland während des Weltkrieges.
Einleitung” vor. Interessant ist dabei zu
erfahren, mit welchen intellektuellen
Persönlichkeiten sie Umgang pflegte, aber auch
wie sie von der Kommunistischen Partei
Deutschlands KPD, aus der sie 1926 austrat, und
insbesondere deren Vorsitzenden (1921) und
späteren Agit-Prop-Funktionär Ernst Meyer
publizistisch enteignet wurde.
Aus der Broschüre
“Unterirdische Literatur” übernimmt Jestrabek
den ersten Teil bis zum Jahre 1915, darunter
Liebknechts Rede zur Ablehnung der
Kriegskredite vom 2. Dezember 1914, Auszüge aus
Rosa Luxemburgs “Die Krise der deutschen
Sozialdemokratie” (der “Juniusbroschüre”) und
Liebknechts Flugblatt “Der Hauptfeind steht im
eigenen Land!”, jeweils 1915.
Dass Susanne
Leonhard auch nachhaltig philologisch
arbeitete, zeigt der Text “Ärger mit Zitaten”
(1971); dort erinnert sie daran, dass das von
Rosa Luxemburg benutzte Zitat “Sozialismus oder
Untergang in die Barbarei” weder von Friedrich
Engels stammt noch im “Kommunistischen
Manifest” ebenso wenig wie der Satz “Die
Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk
der Arbeiterklasse selbst sein” zu finden ist.
Und auch die Veränderung des Marx-Zitats “Opium
des Volkes” in “Opium für das Volk” ist
gravierend - wird doch hier Religion als Halt
und Trost für Not leidende Menschen umgedeutet
in bewußte Verdummung des Volkes durch Religion
zur Machtausübung von Klerikern.
Den Abschluss des
Bändchens bildet Susanne Leonhards Bericht über
die Rettung von “Karl Liebknechts Nachlaß”,
einen großen schwarzen Koffer mit Dokumenten,
den sie im Mai 1933 in die sowjetische
Botschaft in Berlin transportierte und so für
die Nachwelt rettete sowie ihre beiden Vorworte
(1956; 1958) zu “Gestohlenes Leben. Als
Sozialistin in Stalins Gulag” als persönlicher
Erlebnisbericht und Abrechnung mit dem
stalinistischen System als “sozialistischer
Staat” und als Bekenntnis der “überzeugten
revolutionären Sozialistin” für das “Ziel des
Kommunismus”.
Heiner Jestrabek
hat ein lesenswertes (und auch vom Druckbild
her leserliches) Bändchen veröffentlicht, das
es verdient, nicht nur von Älteren nostalgisch
aufgenommen zu werden; sondern auch von
Jüngeren gelesen werden könnte, um zu erfahren,
dass es Alternativen zum antihistorischen
neoliberalen hic et nunc der
zeitgeistigen Atemlosigkeit gibt. Und auch die
gegenwärtige politische Lage mit der
Möglichkeit eines Kriegs in Europa siebzig
Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs
könnte sowohl auf die Aktualität der Kritik des
Hauptfeinds im eigenen Land als auch auf Karl
Liebknechts Warnung vom 2. Dezember 1914
verweisen:
„Die
deutsche Parole ´Gegen den Zarismus´ diente
–
ähnlich der jetzigen englischen und
französischen Parole ´Gegen den Militarismus´
–
dem Zweck, die edelsten Instinkte, die
revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen
des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren.“
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Heiner
Jestrabek (Hg.)
Susanne
Leonhard
Unterirdische Literatur im revolutionären
Deutschland, Gestohlenes Leben, Freies
Denken.
Dokumentation zu Leben und Werk
ISBN 978-3-922589-58-7
Softcover, 146 S. 14 €
Verlag
freiheitsbaum Reutlingen |
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag von der Autorin für
diese Ausgabe.
Wilma Ruth Albrecht
ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin
(Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) in Bad
Müstereifel Sie veröfentlichte unter anderem
die Bücher Harry Heine (Shaker Verlag
2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker
Verlag 2008),
Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund
Verlag 2014), PFALZ & PFトLZER.
LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849
(Verlag freiheitsbaum 2014) und
zuletzt ihre
vierbändigesWerk ÜBER LEBEN. Roman des
Kurzen Jahrhunderts (Verlag
freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019).
Erstdruck dieser Rezension in:
Schweizerische Zeitschrift für Religions- und
Kulturgeschichte, 109 (2015), S. 490-492.
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