Buchvorstellung
Unterirdische Literatur in Deutschand, 1914-1918


von
Wilma Ruth Albrecht

 

01/2019

trend
onlinezeitung

Wer ein gewisses Alter hat, in der Alt-BRD linkspolitisch engagiert und kulturell interessiert war, dürfte sie kennen: die Leonhards. Gemeint sind der expressionistische Dichter, Dramatiker, Kommunist, Exulant und Widerständler Rudolf Leonhard (1889-1953), der Jungkommunist der “Gruppe Ulbricht” und spätere “Kommunismusexperte” Wolfgang Leonhard (1921-2014), dessen Bestseller “Die Revolution entlässt ihre Kinder” (1953) entgegen der Verlagsintention bei Jugendlichen in den 1960er Jahren Interesse am Sozialismus wecken konnte. Und die Naturwissenschaftlerin, Spartakistin, antistalinistische Sozialistin, Kriegsgegnerin, Freidenkerin, Humanistin, Übersetzerin und Publizistin Susanne Leonhard (1895-1984), kurze Zeit Ehefrau Rudolf Leonhards und Mutter Wolfgang Leonhards. 1920 erschien ihr gemeinsam mit Ernst Drahn herausgegebenes 200-Seiten-Buch “Unterirdische Literatur während des Weltkrieges im revolutionären Deutschland”. Der von ihr verfaßte Hauptteil wurde 1968 im “Hausverlag” des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), neue kritik in Franfurt/Main, erneut veröffentlicht und sollte als Beitrag zur politikgeschichtlichen Bildung rebellierenden Studenten der 68er-Bewegung die linksproletarische Opposition im Ersten Weltkrieg in Deutschland, besonders mit Schriften und Flugblätter der Gruppe “Internationale”, ab 1916 “Spartakusgruppe” und ihre Protagonisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, nahebringen.

Anlässlich der hundertsten Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkrieges erinnerte Heiner Jestrabek an diese Opposition und ihre “erste Chronistin” in der erweiterten Fassung seiner 2007 erschienen Broschüre.

Die Autorin wird im Vorwort so charakterisiert: “Susanne Leonhard war konsequente Gegnerin des imperialistischen Kriegs, wie dies in den hier dokumentierten Schriften belegt wird. Sie blieb konsequent bei ihren internationalistischen Überzeugungen, auch nach bittersten Enttäuschungen in der stalinistischen Sowjetunion. Susanne Leonhard war eine antistalinistische Sozialistin in der Tradition Rosa Luxemburgs, eine humanistische Geisteswissenschaftlerin und Publizistin, Kriegsgegnerin und Freidenkerin - all dies waren konsequente untrennbare Bestandteile ihres Weltbilds. Ihre Schriften enthielten zudem viele autobiographische Zeugnisse, weshalb diese Dokumentation in der Hauptsache sie selbst, in Auszügen und mit Kommentierungen, zu Wort kommen lässt.”

Im ersten Beitrag “Susanne Leonhard” zeichnet der Hg. ihren Lebensweg nach, geht in diesem Zusammenhang auch auf den ihres Sohnes Wolfgang [Wladimir] ein und kennzeichnet den ”Luxemburgismus”, den auch Susanne Leonhard vertrat. Es folgen Erinnerungen des Ex-Spitzenfunktionär der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und späteren Politikprofessors Hermann Weber, der Susanne Leonhard half, ihr Buch über ihr Schicksal als politische Emigrantin in der UdSSR, “Gestohlenes Leben” (1956), zu publizieren, auch Wolfgang Leonhard kannte und 1984 einen Susanne-Leonhard-Nachruf veröffentlichte; es folgen Erinnerungen des Kriegsdienstgegners, Pazifisten und Sozialisten Reinhold Settele und des Kabarettisten und Journalisten Peter Großmann.

In den nachfolgenden hundert Seiten finden sich Auszüge aus ihren Büchern “Unterirdischen Literatur” (1920), “Gestohlenes Leben” (1956) und ihrer Broschüre “Ärger mit Zitaten und Karl Liebknechts Nachlaß” (1971).

Heiner Jestrabek stellt die Autorin als Religionskritikerin vor: “Die Kirche und das fünfte Gebot”, als Willensethikerin: “Weltanschauungen” sowie als sozialistische Antikriegsgegnerin in Göttingen und Berlin, Spartakistin und Publizistin: “Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges. Einleitung” vor. Interessant ist dabei zu erfahren, mit welchen intellektuellen Persönlichkeiten sie Umgang pflegte, aber auch wie sie von der Kommunistischen Partei Deutschlands KPD, aus der sie 1926 austrat, und insbesondere deren Vorsitzenden (1921) und späteren Agit-Prop-Funktionär Ernst Meyer publizistisch enteignet wurde.

Aus der Broschüre “Unterirdische Literatur” übernimmt Jestrabek den ersten Teil bis zum Jahre 1915, darunter Liebknechts Rede zur Ablehnung der Kriegskredite vom 2. Dezember 1914, Auszüge aus Rosa Luxemburgs “Die Krise der deutschen Sozialdemokratie” (der “Juniusbroschüre”) und Liebknechts Flugblatt “Der Hauptfeind steht im eigenen Land!”, jeweils 1915.

Dass Susanne Leonhard auch nachhaltig philologisch arbeitete, zeigt der Text “Ärger mit Zitaten” (1971); dort erinnert sie daran, dass das von Rosa Luxemburg benutzte Zitat “Sozialismus oder Untergang in die Barbarei” weder von Friedrich Engels stammt noch im “Kommunistischen Manifest” ebenso wenig wie der Satz “Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein” zu finden ist. Und auch die Veränderung des Marx-Zitats “Opium des Volkes” in “Opium für das Volk” ist gravierend - wird doch hier Religion als Halt und Trost für Not leidende Menschen umgedeutet in bewußte Verdummung des Volkes durch Religion zur Machtausübung von Klerikern.

Den Abschluss des Bändchens bildet Susanne Leonhards Bericht über die Rettung von “Karl Liebknechts Nachlaß”, einen großen schwarzen Koffer mit Dokumenten, den sie im Mai 1933 in die sowjetische Botschaft in Berlin transportierte und so für die Nachwelt rettete sowie ihre beiden Vorworte (1956; 1958) zu “Gestohlenes Leben. Als Sozialistin in Stalins Gulag” als persönlicher Erlebnisbericht und Abrechnung mit dem stalinistischen System als “sozialistischer Staat” und als Bekenntnis der “überzeugten revolutionären Sozialistin” für das “Ziel des Kommunismus”.

Heiner Jestrabek hat ein lesenswertes (und auch vom Druckbild her leserliches) Bändchen veröffentlicht, das es verdient, nicht nur von Älteren nostalgisch aufgenommen zu werden; sondern auch von Jüngeren gelesen werden könnte, um zu erfahren, dass es Alternativen zum antihistorischen neoliberalen hic et nunc der zeitgeistigen Atemlosigkeit gibt. Und auch die gegenwärtige politische Lage mit der Möglichkeit eines Kriegs in Europa siebzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs könnte sowohl auf die Aktualität der Kritik des Hauptfeinds im eigenen Land als auch auf Karl Liebknechts Warnung vom 2. Dezember 1914 verweisen:

Die deutsche Parole ´Gegen den Zarismus´ diente ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole ´Gegen den Militarismus´ dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren.

 

Heiner Jestrabek (Hg.)
Susanne Leonhard
Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland, Gestohlenes Leben, Freies Denken.
Dokumentation zu Leben und Werk


ISBN 978-3-922589-58-7
Softcover, 146 S. 14 €

Verlag freiheitsbaum Reutlingen

 

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag von der Autorin für diese Ausgabe.

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) in Bad Müstereifel Sie veröfentlichte unter anderem die Bücher Harry Heine (Shaker Verlag 2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker Verlag 2008), Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) und zuletzt ihre vierbändigesWerk ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019). Erstdruck dieser Rezension in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 109 (2015), S. 490-492.