100 JAHRE NOVEMBERREVOLUTION

November 1918 - Aufbruchsstimmungen
im bürgerlichen Deutschland


von Richard Albrecht

01/2019

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Wenn zutrifft, was für Ernst Bloch eine unhintergehbare Aufgabe des Erinnerns war – an Liegengebliebenes produktiv anzuschließen und auch das zu vergegenwärtigen, was noch zu tun ist[1] –, dann verweist jede Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse methodisch auf die Wahrnehmung handelnder Menschen(gruppen), ihr widersprüchliches, auch eigensinniges soziales Handeln (als Tun, Unterlassen, Dulden) und auf Manigfaltigkeiten und Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens.[2] In diesem – präzisen – Sinn geht es ums Erinnern einer gesellschaftlichen Stimmungslage des Aufbruchs in der deutschen Zeitgeschichte im November 1918.

I.

Ende 1918 gab es im damaligen bürgerlichen Deutschland im Zusammenhang mit der revolutionären Bewegung der Arbeiter und Soldaten moralisch, politisch und kulturell bedeutende Ausbruchsstimmungen, beispielsweise im politischen Bereich im November 1918 den öffentlichen Aufruf des Rats geistiger Arbeiter einiger damals prominenter Intellektueller, Publizisten und Schriftsteller (wie Heinrich Mann, Kasimir Edschmid, Kurt Hiller).[3]

Im südhessisch-residentischen Darmstadt erschienen während des Weltkriegs ab August 1915 in Kleinstauflage die Schülerflugblätter Die Dachstube. Das letzterschiene Flugblatt erschien im November 1918 mit einem emphatischen Aufruf des frontgedienten, verwundeten, tapferkeitsdekorierten, demobilisierten Unteroffiziers Carlo Mierendorff. Der Text des damals einundzwanzigjährigen Autors, der 1919/20 die in Büchner´scher Tradition angelegten hessischen radikalen Blätter DAS TRIBUNAL herausgeben sollte, veranschaulicht die politische Stimmungslage als Aufbruch zur Überwindung des verkommenen, überlebten, morschen Alten in der deutschbürgerlichen Gesellschaft in Gestalt des wilhelminisch Militarismus mit der Handlungsaufforderung FREUNDE, GREIFT EIN!

II.

"Es tut mir leid, dass wir Carlo Mierendorff – anstatt ihn zu befreien – töten mußten."

Diesen Satz veröffentlichte der Herausgeber des britischen New Statesman & Nation, Kingley Martin, Mitte Januar 1944 in seiner Kolumne A London Diary. Die öffentliche Entschuldigung für einen deutschen Politiker als Opfer einer Air-Force-Brandbombe beim schwersten Luftangriff auf Leipzig während des Zweiten Weltkriegs am 4. Dezember 1943 galt dem damals 46-jährigen sozialdemokratischen Intellektuellen, Politiker und illegalen Widerständler Carlo Mierendorff.[4]

Carlo Mierendorff – 1897 am vierten März-Mittwoch im Sternzeichen des Widder hineingeboren in eine familiäre Kaufmannswelt, die Eltern sozialliberale kleine Bürger mit musischen Interessen, die Vorfahren väterlicherseits Stralsunder Schnapsbrenner, Händler und Gastwirte, mütterlicherseits sächsische und thüringische Soldaten, Pfarrer und Ärzte. Nach dem Umzug in Darmstadt Schüler des dortigen humanistischen Ludwig-Georg-Gymnasiums; erste Verbindungen zur Blauen Blume der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und erste Schreibversuche in einer Dachstube im Freundeskreis, der gleichnamige Blätter schrieb, druckte und verteilte: Die Dachstube.

In diese Idylle platzte der Krieg als das erste große Weltfest des Todes (Thomas Mann). Carlo Mff. wird ihn bald hassen lernen. Doch zunächst ist er nach dem Notabitur begeisterter Kriegsfreiwilliger eines hessischen Artillerieregiments. Kommiß und Schleiferei im Staub des Kasernenhofs. Im Feld als 17-Jähriger an der Ostfront verwundet, wird er später wieder im Westen eingesetzt. Aber sein Ohr bleibt trotz Tapferkeitsmedaillen nahezu taub.

Den Krieg erfährt Carlo Mff. zunehmend als Grauen. In einem Brief an Darmstädter Freunde schreibt er im dritten Kriegswinter Anfang 1917: Nicht bloss zuschauen, teilnehmen wolltet ihr an der Grundsteinlegung der neuen Zeit. Der Enthusiasmus der ersten Tage, an sich schön, schwand, an seine Stelle (trat) die einfache Pflicht. Du in Polen hättest selbst nie geglaubt, dass Du solange standhieltest … Du in Frankreich hast gehofft auf Erlösung von dem Maulwurfsleben in den Gräben mit seiner Eintönigkeit.

Die Literatur hilft auch Carlo Mff., dies alles zu ertragen und all dieses zu überleben. Er veröffentlicht kleinere expressionistische Erzählungen wie zuletzt als Broschüre 1918 Lothringer Herbst, geschrieben in Sätzen, die beanspruchen, für sich allein stehen zu können wie die im Schlußsatz der im Juni 1918 veröffentlichten Kurzerzählung Pioppis Sonntagsnachmittag ausgedrückte Verachtung der jahrelang geschätzten Sozialfigur des Dichters Er verließ mit einer verächtlichen Gebärde den Schauplatz.

Militärisch geschlagen, demobilisiert, demoralisiert und mit Sympathien für die Bolschewiki und ihre Umwälzung im fernen Russland kommt Carlo Mff. zurück nach Darmstadt. Er will sich von der neuen Zeit herausfordern lassen und kämpfen gegen Militarismus und Krieg mit der Losung FREUNDE, GREIFT EIN! Und er engaiert sich politisch, will ein neues, demokratisches und republikanisches, ein soziales Deutschland erschaffen und gestalten.

Die von Carlo Mff. herausgegebene Monatszeitschrift Das Tribunal. Hessische radikale Blätter[5] erschien ab 1919 zwei Jahre lang (bis zur Pleite). Sie sollte die alte Welt von Muckern und Spiessern aushebeln helfen. Mierendoffs 1920 gedruckter emphatischer Essay Hätte ich das Kino!![6] gilt bis heute als bedeutendes publizistisches Dokument des kulturradikalen deutschen Expressionismus ...

Anmerkungen

[1]  https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/ernst-bloch/-/id=660374/did=19777558/nid=660374/1bvap0i/index.htm

[2] Eric J. Hobsbawm, Working-class Internationalism; in: Contributions to the History of Labour & Society, 1 (1988) 1: 3-16 [multidimnensionality of human beings in society]

[3] https://de.scribd.com/document/31027808/1918-Politischer-Rat-geistiger-Arbeiter-Dokument: Das Ziel, Hg. Kurt Hiller, mit dem Programm des "Politischen Rates geistiger Arbeiter" aus dem November 1918, unterzeichnet unter anderem von Lou Andreas-Salomé, Richard Nicolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, Kurt Hiller, Helene Stöcker, Lucian Bernhard, Franz Kobler, Kasimir Edschmid, Otto Flake, Alfons Goldschmidt, Magnus Hirschfeld, Arthur Holitscher, Rudolf Kayser, Moritz Lederer, Robert Musil, Hans Natonek, Dr. Kurt Pinthus, Heinrich Mann, Hans Reichenbach, Walther Rilla, René Schickele, Hermann Schüller, Egmont Seyerlen, Martin Sommerfeld, Fritz von Unruh, Kurt Wolff, Gustav Wyneken, Paul Zech. Eine frühe Veröffentlichung des Programmaufruf gab es in Die Weltbühne, 14. Jahrgang, 21. 11. 1918: 473-475; s. die kurze Übersicht bei Alexander Gallus, Heimat "Weltnühne": Eine Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein, 2012: 88.

[4] Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897-1943. Eine Biographie. Berlin-Bonn: JHW Dietz, 1987, 364 p. [als Buch seit 1992 vergriffen; 1997 verfilmt udT. Deckname Dr. Friedrich]; s. ders., Die Zeit fordert heraus: Carlo Mierendorff (1897-1943); in: soziologie heute, Heft 34/2014, April 1914: 24-26 [dort auch eine Liste ausgewählter Veröffentlichungen]; dieses Carlo-Mff.-Porträt steht auch kostenlos im Netz https://filmundbuch.wordpress.com/tag/carlo-von-mierendorff/

[5] http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/clientbookline/

[6] ]https://archiv.ub.uni-marburg.de/ep/0002/article/download/3327/3202/

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Dr. Richard Albrecht, PhD. Sozialwissenschaftler und Wissenschaftsjourmalist. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Autor der Marburger Zeitschrift Forum Wissenschaft und der Berliner Netzzeitung trend.infopartisan.