....Sonst fehlt nur
noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von
Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben
ist und in Beziehung auf den uns alle gleiche
Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst
das Hauptgewicht auf die Ableitung der
politischen, rechtlichen und sonstigen
ideologischen Vorstellungen und durch diese
Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den
ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen
müssen. Dabei haben wir dann die formelle
Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die
Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc.
zustande kommen. Das hat denn den Gegnern
willkommnen Anlaß zu Mißverständnissen resp.
Entstellungen gegeben, wovon Paul Barth ein
schlagendes Exempel.(1) Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar
mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen
wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die
eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen,
bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein
ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also
falsche resp. scheinbare Triebkräfte. Weil es ein
Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine
Form aus dem reinen Denken ab, entweder seinem
eignen oder dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mit
bloßem Gedankenmaterial, das er unbesehen als
durchs Denken erzeugt hinnimmt und sonst nicht
weiter auf einen entfernteren, vom Denken
unabhängigen Ursprung untersucht, und zwar ist
ihm dies selbstverständlich, da ihm alles
Handeln, weil durchs Denken vermittelt,
auch in letzter Instanz im Denken begründet
erscheint.
Der historische Ideolog (historisch soll hier
einfach zusammenfassend stehn für politisch,
juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für
alle Gebiete, die der Gesellschaft
angehören und nicht bloß der Natur) - der
historische Ideolog hat also auf jedem
wissenschaftlichen Gebiet einen Stoff, der sich
selbständig aus dem Denken früherer Generationen
gebildet und im Gehirn dieser einander folgenden
Generationen eine selbständige, eigne
Entwicklungsreihe durchgemacht hat. Allerdings
mögen äußere Tatsachen, die dem eignen oder
ändern Gebieten angehören, mitbestimmend auf
diese Entwicklung eingewirkt haben, aber diese
Tatsachen sind nach der stillschweigenden
Voraussetzung ja selbst wieder bloße Früchte
eines Denkprozesses, und so bleiben wir immer
noch im Bereich des bloßen Denkens, das selbst
die härtesten Tatsachen anscheinend glücklich
verdaut hat.
Es ist dieser Schein einer selbständigen
Geschichte der Staatsverfassungen, der
Rechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen
auf jedem Sondergebiet, der die meisten Leute vor
allem blendet. Wenn Luther und Calvin die
offizielle katholische Religion, wenn Hegel den
Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem
republikanischen „Contrat social" den
konstitutionellen Montesquieu „überwindet", so
ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie,
der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt,
eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete
darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiet
hinauskommt. Und seitdem die bürgerliche Illusion
von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der
kapitalistischen Produktion dazugekommen, gilt ja
sogar die Überwindung der Merkantilisten durch
die Physiokraten und A.Smith für einen bloßen
Sieg des Gedankens; nicht für den Gedankenreflex
veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern für
die endlich errungene richtige Einsicht in stets
und überall bestehende tatsächliche Bedingungen;
hätten Richard Löwenherz und Philippe Auguste den
Freihandel eingeführt, statt sich in Kreuzzüge zu
verwickeln, so blieben uns fünfhundert Jahre
Elend und Dummheit erspart.
Diese Seite der Sache, die ich hier nur
andeuten kann, haben wir, glaube ich, alle mehr
vernachlässigt, als sie verdient. Es ist die alte
Geschichte: Im Anfang wird stets die Form über
den Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich habe
das ebenfalls getan, und der Fehler ist mir immer
erst post festum aufgestoßen. Ich bin also nicht
nur weit entfernt davon, Ihnen irgendeinen
Vorwurf daraus zu machen - dazu bin ich als
älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im
Gegenteil -, aber ich möchte Sie doch für die
Zukunft auf diesen Punkt aufmerksam machen.
Damit zusammen hängt auch die blödsinnige
Vorstellung der Ideologen: Weil wir den
verschiednen ideologischen Sphären, die in der
Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige
historische Entwicklung absprechen, sprächen wir
ihnen auch jede historische Wirksamkeit
ab. Es liegt hier die ordinäre undialektische
Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr
einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die
absolute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein
historisches Moment, sobald es einmal durch
andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die
Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine
Umgebung und selbst seine eignen Ursachen
zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast
absichtlich......
Anmerkung
1)
Paul Barth: "Die Geschichtsphilosophie Hegel's
und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann.
Ein kritischer Versuch", Leipzig 1890.
Quelle:
Friedrich Engels an Franz Mehring, Brief vom 14. Juli
1893, MEW Band 39, 1968 S. 96-101
|