In seinem „Feuerbach"
hat sich Friedrich Engels darauf berufen, daß er
und Karl Marx nicht nur die Vollender der Theorien
des französischen Sozialismus, sondern auch die
Erben der deutschen klassischen Philosophie sind
und hat in diesem Zusammenhang Kant, Fichta und
Hegel als diejenigen bezeichnet, deren Lehren durch
den wissenschaftlichen Sozialismus ihrer Vollendung
zugeführt worden sind. In welchem Sinne Marx und
Engels die deutsche Philosophie vollendet und
dadurch überwunden haben, ist bekannt. Die deutsche
Philosophie hat die dialektische Methode
ausgebildet, aber ihre Dialektik beruhte auf
idealistischen Voraussetzungen, so daß Marx und
Engels dieses System vom Kopf, worauf es stand, auf
die Beine stellen mußten. Engels' Angaben im
„Ludwig Feuerbach" berücksichtigend, hat die
marxistische Forschung bisher die Entwicklung der
dialektischen Methode bis auf Kant zurückverfolgt,
hat aber nirgends die Frage angeschnitten, ob durch
Kant, Fichte und Hegel wirklich die ganze
Geschichte der Dialektik in Deutschland
repräsentiert wird. Wohl hat Engels selbst in
seiner neuerschienenen Schrift „Naturdialektik" auf
den Streit zwischen Haller und Goethe hingewiesen,
wohl hat Genosse Bucharin in seinem Buch über den
„Historischen Materialismus" gelegentlich auch ein
Zitat von Goethe über die „Metamorphose" als Beleg
für die dialektische Betrachtungsweise angeführt,
aber eine systematische Untersuchung in dieser
Richtung ist nicht erfolgt.
Wollen wir einmal die
Geschichte der Dialektik in Deutschland
vervollständigen, so muß diese auch in Zusammenhang
gebracht werden mit den Namen von Herder und
Goethe. Wiewohl Marx und Endels nicht direkt an
diese beiden großen Vertreter der deutschen
Literatur angeknüpft haben, finden wir doch bei
beiden wichtige Elemente der dialektischen Methode
vorgebildet, und wenn wir diese Elemente einer
näheren Prüfung unterziehen, können wir sogar
feststellen, daß die dialektischen Elemente ihrer
Auffassung im allgemeinen eine stärkere
materialistische Fundierung haben, als dies bei den
idealistischen deutsehen Philosophen der Fall war.
Die Dialektik bei
Herder und Goethe trägt einen
naturwissenschaftlichen Charakter, ihr Mangel ist
vor allem der, daß sie das Zwischenglied zwischen
der Naturentwicklung und der
Gesellschaftsentwicklung, die Oekonomik,
übersprungen haben und die Gesetze der
gesellschaftlichen Entwicklung noch zum großen Teil
auf Naturgesetze zurückführen.
Die Nichtbeachtung
der Elemente der materialistischen Dialektik, die
bei Herder vorgebildet wurden, läßt sich
geschichtlich erklären. Der deutsche Idealismus
hatte seine Wurzel darin, daß in Deutschland im
Zeitalter der bürgerlichen Revolution die
Bourgeoisie noch zu schwach zu revolutionären
Taten war. Die deutsche Philosophie konnte daher
nicht unmittelbar auf die materiellen Grundlagen
der bürgerlichen Revolution zurückgehen, sondern
mußte ihre Grundsätze in den hohen Regionen des
Geistes zu begründen suchen. In Deutschland
entwickelte sich infolge der zurückgebliebenen
Wirtschaft des Landes die bürgerliche Revolution
zunächst als eine ideologische Revolution. Soweit
im Rahmen der deutschen Literatur materialistische
Elemente zum Vorschein kamen, sind diese
gewissermaßen „aus der Zeit herausgefallen" und
konnten daher nicht jene Bedeutung erlangen'wie die
idealistischen Systeme der deutschen Philosophie.
Trotzdem ist aber in Deutschland die Entwicklung
der materialistischen Richtung ständig parallel
verlaufen mit der Entwicklung des deutschen
Idealismus. Ebenso wie Herder in seinen wichtigsten
Schriften gegen die Kantische Philosophie auftrat,
wobei er vor allem die idealistischen Grundlagen
dieser Philosophie kritisierte, ebenso hat auch ein
Jahrzehnt später der Dichter Jean Paul die
Fichtesche Philosophie von materialistischen
Gesichtspunkten aus kritisiert.
Die bürgerliche
Literaturgeschichte hat diese Entwicklung
unterschlagen, weil sie seihst durch und durch
idealistisch ist. In den bürgerlichen
Literaturgeschichten wird Herder nahezu als Narr
geschildert, weil er es gewagt hat, das System
Kants zu kritisieren, und dort, wo die bürgerlichen
Literaturforscher etwas höflicher sind, suchen sie
dieses Auftreten aus Herders Erbitterung in seinem
Alter zu erklären. Man kann nun tatsächlich
feststellen, daß Herder in seinem Alter verbittert
war, aber man muß es bezweifeln, daß seine Polemik
gegen Kant auf diese Verbitterung zurückzuführen
ist. Wir können diese Erscheinimg viel
materialistischer erklären. Herder war gezwungen,
in einem deutschen Kleinstaat zu leben. Herder war
in seiner ganzen materiellen Stellung vom Weimarer
Hofe abhängig und innerlich gleichzeitig ein
bürgerlicher Revolutionär. Er mußte daher ständig
in einem Konflikt leben, der hervorgerufen wurde
durch den Widerspruch zwischen seiner materiellen
Lebenslage und seiner Ideologie. Während die
deutschen Literarhistoriker sich bemühen, das Leben
am Hofe von Weimar, wo Goethe, Schiller und Herder
wirkten, in den idealsten Farben zu schildern,
wurde dieses Weimar von Herder nur als goldener
Käfig empfunden. Selbst Goethe, der es viel besser
verstanden hat, sich den
äußeren Verhältnissen anzupassen, mußte einmal in
einem Briefe an seinen Freund Knebel gestehen:
„Der Wahn, die
schönen Körner, die in meinem und meiner Freunde
Dasein reifen, müßten auf diesen Boden gesät und
jene himmlischen Juwelen könnten in die irdischen
Kronen dieser Fürsten gefaßt werden, hat mich
ganz verlassen."
Noch viel bitterer
hat sich der bewußte bürgerliche Revolutionär
Herder ausgesprochen:
„Trödelkram, lieber
Knebel, ist das Meiste auf dieser Erde, und die
Herzen der Fürsten sind kostbare Stücke in dieser
Bude. Kaufe sie, wer will, mir ist ein Dreier
lieber."
Eine solche Stimmung,
wie sie in diesen Aeußerungen zum Ausdruck kommt,
mußte sich natürlich in der Zeit einer
revolutionären Entwicklung noch steigern. Im Jahre
1790, als Herder bereits politisch voll und ganz
auf dem Boden der französischen Revolution stand,
schrieb er in einem seiner Briefe an Knebel: „Ich
bin einsamer als jemals."
Ein besonderes
Kapitel, das diese Verhältnisse besonders
unerträglich gestalten mußte, war die Zensur, von
der sich Herder vorn und hinten belauert sah. Bei
der Abfassung seiner „Ideen zur Philosophie der
Geschichte" schrieb er u. a. in einem Brief an Jakobi:
„Ich
winde mich in den ,Ideen' über die
Regierungen miserabiliter einher; sie und die
Weiber sind mir die schwersten Knoten gewesen,
ein doppelter Knote."
Herder hat auch, um
zensurfähig sprechen zu können, das Kapitel, in dem
er seine Staatstheorie entwickelt, nicht weniger
als viermal umgearbeitet. Ein engerer Freund
Herders, Müller, der sich in dessen Hause längere
Zeit aufgehalten hat, bemerkt in seinem Tagebuch:
„Herder wird Luthers
Leben schwerlich schreiben, wenigstens solange
er in Weimar ist. Die sächsischen Fürsten haben
sich so schändlich aufgeführt, daß er es nicht
wagen darf, die Wahrheit zu sagen."
Vielleicht linden wir
in dieser Zensur, die selbst die ungeschriebenen
Werke Herders getroffen hat, den tieferen Grund
dafür, daß seine Bedeutung in der Entwicklung der
deutschen Literatur bisher nicht erkannt wurde.
Man braucht nur die große Herderausgabe von Suphan
in die Hand zu nehmen, um sich zu überzeugen,
wieviel handschriftliches Material, das Herder aus
politischen Gründen nicht veröffentlichen konnte,
erst 70 Jahre nach seinem Tode erschienen ist. Und
dabei läßt es sich nachweisen, daß sogar Suphan
nicht alles das abgedruckt hat, was er im
handschriftlichen Nachlaß Herders vorgefunden hat.
In diesem handschriftlichen Nachlaß finden wir
nahezu alles, was Herder über die französische
Revolution schrieb. In Weimar konnte er es nicht
veröffentlichen, denn Herder, obwohl grundsätzlich
Pazifist, anerkannte in diesen Schriften die
Notwendigkeit der Befreiungskriege der
französischen Revolution gegen die feudalen
Machthaber, während „sein"
Fürst, Karl August von Weimar, der große Huma nist,
am Kriege gegen Frankreich teilnahm. Wie eine
Ironie wirkt der Brief, den Karl August aus dem
Felde an Herder schrieb, der insgeheim vollständig
auf der Seite der revolutionären Kämpfer gestanden
hat. In diesem Briefe heißt es:
„Lasse uns das gute
Glück die Zeit erleben, wo man nichts mehr zu tun
hat, als sicher und ungestört die Endzwecke eines
jeden wohldenkenden Mannes erfüllen zu helfen.
Indessen zweckt unser Bestreben ab, die
fränkischen Unmenschlichkeiten vom deutschen
Boden zu kehren. Und das ist ja auch wohl ein
Beitrag zu ihrem humanen Vorhaben, lieber
Herder?"
Daß Herder unter
solchen Verhältnissen über seine Stellungnahme
"zur französischen Revolution nichts drucken ließ,
finden wir wohl begreiflich. Der Widerspruch
zwischen seiner revolutionären Gesinnung und den
feudalen Verhältnissen, denen er im Leben sklavisch
unterworfen war, machen es erklärlich, wieso er in
seinen letzten Lebensjahren persönlich verbittert
war, was aber kein Grund ist, seine Leistungen in
dieser Zeit herabzusetzen und zu bagatellisieren.
Denn gerade in seinen letzten Lebensjahren
erreichte sein Kampf gegen die idealistische
Philosophie Kants den Höhepunkt, in diesen Jahren
entstanden zwei seiner hervorragendsten Werke, die
„Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft" und die
„Kalligone". In dem ersten dieser Werke setzt sich
Herder mit dem philosophischen System Kants
auseinander, im zweiten mit dessen Aesthetik.
Heiders Kampf gegen Kant geht allerdings schon auf
eine frühere Periode zurück. Sind diese beiden
Werke erst am Ausgang der neunziger Jahre des 18.
Jahrhunderts entstanden, so hat Herder schon
früher, in der Mitte der achtziger Jähre, seine
erste Auseinandersetzung mit Kant gehabt. Der
Streit mit Kant, dessen Schüler Herder in jener
Zeit war, als Kant noch nicht die Gedanken seiner
kritischen Philosophie entwickelt hatte, zieht sich
wie ein roter Faden durch die gesamte
wissenschaftliche und schrift stellerische Arbeit
Herders von der Mitte der achtziger Jahre bis fast
zu seinem Tode. Während die meisten Historiker
Herder Unverständnis für die Gedanken der
kritischen Philosophie vorwerfen, muß der Marxist
diesen Streit von einer ganz anderen Warte aus
beurteilen. Er war, wenn auch noch nicht mit voller
Klarheit ge führt, der Kampf zwischen der
idealistischen Methode der deutschen Philosophie
und einem dialektisch gefärbten Materialismus. Wenn
Herder sich nicht selbst ah Materialisten
bezeichnete, so vor allem deshalb, weil die Materie
in den Begriffen des zeitgenössischen Materialismus
ihm als etwas Totes erschien. Infolge eines
historischen Mißverständnisses hat sich Herder
also nicht als Materialist bezeichnet, obwohl die
Methode seiner Kritik Kants durch und durch den
Geist des Materialismus atmet. Um die prinzipiellen
Gegensätze zu zeigen, müssen wir vor allem Herders
philosophisches Hauptwerk betrachten, die
„Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft".
Der Apriorismus Kants
und die Kritik Herders
Kants Philosophie
trug einen zwiespältigen Charakter. Obwohl Kant die
Existenz der Außenwelt nicht negierte, ging er doch
bei der Darstellung seiner Philosophie von
idealistischen Voraussetzungen aus. In seiner
„Kritik der reinen Vernunft" versuchte er die
menschlichen Denkgesetze so darzustellen, wie sie
ohne Rücksicht auf die äußere Natur erscheinen. Er
versuchte also, jene Denk-gesetze ausfindig zu
machen, die dem Menschen unabhängig von den äußeren
Erfahrungen imiewohnen, und alle diese Denkgesetze
faßte er unter der Bezeichnung des Apriori
zusammen. Nach Kants Meinung haben es erst die
aprioristischen Elemente des menschlichen Denkens
dem Menschen überhaupt ermöglicht, die äußere Natur
zu erfassen. Im Kopfe sind bereits die
grundlegenden Gesetze des Denkens vorhanden, bevor
noch der Mensch sein Denken auf irgendeine äußere
Erfahrung bezieht. So sind für Kant die Begriffe
von Zeit und Raum Formen des Denkens, die den
Menschen vor joder äußeren Erfahrung anhaften und
ohne die er überhaupt nicht fähig ist, irgendwelche
Erfahrungen der Außenwelt in sich aufzunehmen.
Neben diesen „Anschauungsformen" anerkennt Kant
eine bestimmte Anzahl formeller Denkgesetze, eine
Reihe von logischen Begriffen als „Kategorien a
priori", die dem Menschen vor jeder äußeren
Erfahrung anhaften. Die ganze Mathematik ist nach
Kant nicht empirisch abgeleitet, sondern eine
solche Konstruktion a priori. So erklärt er, daß
schon der reine Begriff der reinen Mathematik „es
mit sich bringt, daß sie nicht empirische, sondern
hloß reine Erkenntnis a priori enthalte". Dieses
System des Apriorismus ist der rein idealistische
Ausgangspunkt der kritischen Philosophie Kants.
Auch wenn Kant die Existenz der Außenwelt nicht
leugnet, merkt man, wie klein der Sprung ist bis
zum Solipsismus eines Fichte. Denn wenn wir die
äußere Natur nur auf Grund der menschlichen
Denkgesetze von Raum und Zeit und einer Reihe
anderer formeller Denkgesetze zu erfassen imstande
sind, so kann es sich zum Schluß sehr leicht
herausstellen, daß die ganze äußere Natur nur ein
Produkt des menschlichen Denkens ist. Wir verstehen
also, wenn Herder den kantischen Begriff des
Raumes ablehnte, sehr gut, was er in der
„Metakritik" mit den folgenden Ausführungen gemeint
hat:
„Die kritische
Schlußerinnerung, ,daß überhaupt nichts, was im
Räume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch
daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen
etwa an sich selbst eigen wäre', zeigt, wozu
diese ganze Transzendental-dich tu ng ersonnen
worden. Sie soll nämlich den Beutel mit dein
Gelde, den Raum mit allen seinen Gegenständen
unter dem Vorwande ih uns spielen, daß der Beutel
nur eine Anschauung und die Dinge in ihm nicht
Sachen, sondern nur durch den Beutel veranlaßte
Erscheinungen, mithin Vorstellungen seien, die
uns zugehören."
Man sieht also an
dieser Widerlegung des kantischen RaumbegrifTes,
daß Herder in seiner Kritik gerade auf den Punkt
der kantischen Philosophie losgesteuert ist, der
ihre ganze Schwäche offenbart.
Der Ausgangspunkt für
Herders Polemik gegen die „Kritik der reinen
Vernunft" beginnt schon beim Titel des Kantischen
Buches. Er wirft die Frage auf, daß die „Kritik der
reinen Vernunft", wie sie Kant durchführen will,
von vornherein eine fragwürdige Angelegenheit sein
muß:
„Erstlich: von keiner
als der menschlichen Vernunft ist hier die Rede.
Wir kennen keine andere, besitzen keine andere;
in der menschlichen Vernunft eine höhere,
allgemeinere als die Menschenvernunft richten,
hieße, die Vernunft selbst transzen-dieren.
Zweitens: Menschliche Vernunft können wir zwar in
Gedanken und Worten zu einem gewissen Zweck von
anderen Kräften unserer Natur sondern; nie aber
müssen wir vergessen, daß sie in ihr abgesondert
von andern Kräften nicht subsi-stiere."
Herder lehnt also
schon die Fragestellung der Kantischen Philosophie
als falsch ab. In der Kritik des Kantischen
Buchtitels rollt er die Frage auf, ob die
menschliche Vernunft überhaupt losgelöst werden
könne von der gesamten menschlichen Natur, ob man
bei ihrer Untersuchung absehen könne von den
Einwirkungen der Natur und des menschlichen
Organismus. Das heißt also, daß Herder die
Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft sowohl vom
menschlichen Organismus als auch von der äußeren
Natur bestritten hat, und wenn diese Voraussetzung
einer für sich bestehenden menschlichen Vernunft
gefallen ist, müssen damit auch alle weiteren
Konsequenzen der Kantischen Philosophie fallen.
Im weiteren Verlauf
geht dann Herder auch auf die Frage Kants ein, ob
eine Erkenntnis a priori möglich ist. Kant hat
diese Erkenntnis a priori abgeleitet aus
spitzfindigen Untersuchungen über den Unterschied
von analytischen und synthetischen Urteilen. Von
diesem Punkte ausgehend, wollte er ein „Organon der
reinen Vernunft" schaffen, über dessen Charakter er
bemerkt:
„Das vornehmste
Augenmerk bei der Einteilung einer solchen
Wissenschaft sei, daß gar keine Begriffe
hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches
in sich enthalten, oder daß die Erkenntnis a priori
völlig rein sei."
Herder stellt von
dieser Darlegung ausgehend die Frage, ob eine
Erkenntnis a priori überhaupt möglich ist. Dieser
Punkt wird von ihm unbedingt verneint. Während Kant
seine Philosophie auf dem Salze aufbaut:
„Wenngleich alle unsere Erkenntnis mit der
Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch
nicht eben alle aus Erfahrung", so antwortet ihm
Herder:
„Sich von sich selbst
unabhängig zu machen, d. i. aus aller
ursprünglichen inneren und äußeren Erfahrung sich
hinauszusetzen, von allem Empirischen frei über
sich selbst sich hinauszudenken, vermag niemand.
Das wäre ein prius vor allem
a priori. Damit hörte, ehe sie anfing, die
Menschenvernunft auf."
Ebenso wie Herder
den Ausgangspunkt der Kantischen Philosophie, die
Möglichkeit einer Erkenntnis a priori bestreitet,
ebenso bestreitet er auch die ersten Pfeiler dieses
aprioristischen Systems, die Formulierungen Kants
über Raum und Zeit. Kant erklärt, daß Raum und Zeit
keine empirischen Begriffe, sondern daß sie
notwendige Vorstellungen a priori sind, ..die
allen äußeren Anschauungen zugrunde liegen".
Es ist
interessant, zu untersuchen, in welcher Weise
Herder diese Konstruktion Kants im luftleeren Räume
widerlegt hat. Er hätte zweifellos diese
Auffassungen wiederum durch logische Ableitungen
widerlegen können, aber er hat diesen Weg nicht
gewählt. Seine Methode bestand darin, zu zeigen,
wie die Begriffe von Raum und Zeit genetisch im
menschlichen Verstände entstehen, und es kam ihm
darauf an, diese Begriffe nicht bloß logisch,
sondern in ihrer Entwicklung zu analysieren. Diese
Methode zeigt, daß Herder gegen Kant nicht bloß den
Standpunkt eines mechanischen Matelialismus
vertreten hat, sondern daß er bereits versuchte,
sein philosophisches System
dialektisch zu begründen. Für Herder lag das
Schwergewicht nicht bloß in der Existenz der
äußeren Welt, sondern auch in ihrer Entwicklung.
Von diesem Gesichtspunkt aus erklärte er auch die
erste der Kantischen „Anschauungsformen'", den
Raum:
„Wir
sind, und zwar mit andern; das, wo wir sind, hängt
unserm Dasein an, ebenso als das Wohl derer, die
nicht wir sind. Dies Wo heißt Ort unseres Daseins.
Wir nehmen ihn ein, d. i., ein anderes kann in
diesem Augenblick nicht sein, wo wir sind. Unser
Sein ist umgrenzt, und wo wir nicht sind, können
andere sein. Dies verneinende Wo nennen wir Raum.
Es ist Raum für andere da, sie können darin ihren
Ort haben ... Sofern ist Raum bloß ein
ErfahrungsbegrifT, ver anlaßt von der Empfindung,
daß ich weder das All noch allenthalben bin, daß
ich im Universum nur einen Ort ein nehme... Das
Kind kommt auf die Welt in einen Raum, wo nicht nur
außer und neben ihm viele andere da sind, sondern
wo es auch Anlaß findet, mit seinen Kräften Raum um
sich zu machen. Denn ba'd lernt es die Grenze,
jenseits welcher es nicht ist, aber sein kann,
munter überschreiten. Bewegung überschreitet sie.
Mittels ihrer lernen wir also den Raum messen,
verändern, überwinden, zuletzt unsern Ort finden."
Von der
kindlichen Erfahrungswelt ausgehend, kommt also
Herder auf dialektischem Wege zu der Erklärung, wie
der Raum begriff im Menschen entstellt. Wo sich
Herder von dem üblichen Materialismus
unterscheidet, nimmt seine Auffassung dialektischen
Charakter an, denn er betrachtet die ganze Welt
nicht als ein starres Svstem, sondern als in ewiger
Bewegung befindlich, und deshalb ist für ihn auch
der menschliche Raiimbogriff ein Produkt der
Bewegung.
Noch deutlicher
tritt dieses dialektische Denken bei der Ableitung
des Zeitbegriffes durch Herder hervor. Der
ZeitbegrifT ist nach Herder das Resultat der
Beobachtung der Veränderungen in der äußeren Natur
und könnte ohne diese Veränderungen in der äußeren
Natur nicht entstehen. So lehnte er auch den
Gedanken Kants ab, daß die Zeit eine notwendige
Vorstellung a priori ist und erklärt die Zeit
folgendermaßen:
„Die
Zeit ist allerdings ein Erfahrungsbegriff vom Lauf
der Begebenheiten, von der Folge der Veränderungen
um, in und an uns sehr langsam abgezogen, d. i. vom
Verstände bemerkt. Die Zeit ist keine notwendige
Vorstellung, die allen Anschauungen zugrunde läge.
Fällt alles Veränderliche weg, so ist auch das Maß
der Veränderungen, die Zeit, verschwunden."
Nachdem Herder so
die Grundpfeiler der Kantischen Auffassung
widerlegt hat, rollt er die Frage positiv auf. Er
versucht nun im Gegensatz zu Kant darzulegen, woher
die menschliche Erkenntnis entspringt und in
welchem Zusammenhang sie mit der Erfahrung steht.
Geht Kant bei seinen philosophischen
Konstruktionen von der menschlichen Vernunft aus,
so geht Herder von dem entgegengesetzten
Gesichtspunkt an die Dinge heran:
„Sein
ist der Grund aller Erkenntnis. Wo nichts ist,
erkennt nichts und wird nichts erkannt; darüber
kann nicht philosophiert werden. Nichts ist ein
Unbegriff; selbst das Wort wäre nicht da, wenn man
nicht mit ihm ein Etwas (Ichts) wegräumte. Sein ist
also auch der Grundbegriff der Vernunft und ihres
Abdrucks, der menschlichen Sprache. Keine
Wahrnehmung, kein Begriff in ihr, er betreffe
Sache oder Beschaffenheit, Zeit und Ort, Tun oder
Leiden, kann gedacht werden, ohne daS ihm ein Sein
zugrunde liege."
Das menschliche
Denken ist also bei Herder durch das äußere Sein
streng bedingt. Aus der objektiven Außenwelt
entspringen dann auch logisch alle anderen
Begriffe, wie Raum und Zeit. „Dasein gibt den
Begriff des Orts, dieser den Begriff mehrerer,
vieler, unzähliger Orte, also des Raumes." Aus dem
Begriff des Ortes folgt dann der Begriff der Zeit:
„Etwas,
was da ist, d.i. seinen Ort mit Kraft einnimmt,
kann ihn auch ändern; durch eine größere Kraft von
demselben vertrieben, oder durch eigene innere
Kraft geregt, kann es ihn verlassen und einem
andern räumen. Dies geschieht durch Bewegung, eine
Wirkung der Kraft im Räume... Am Begriffe der
Fortdauer in einem Orte sowie des Fortrückens an
einen andern Ort durch Kräfte entspringt der
Begriff der Zeit als ihre Bezeichnung. Nichts Totes
gab ihn, auch die Erscheinung als Erscheinung
nicht, sondern was die Fortdauer oder die
Veränderung bewirkt, Kräfte."
Hier haben wir
also die zwei Hauptglieder und Knotenpunkte der
Herderschen Philosophie. Die äußere Erfahrungswelt
existiert und ist nicht ein Produkt des
menschlichen Denkens. Der zweite Punkt: diese
äußere Erfahrungswelt ist aber nicht eine
feststehende
Erscheinung, sondern eine veränderliche Größe. Sie
verändert, sie entwickelt sich und wird dabei durch
bestimmte Naturkräfte getrieben. Sein und Kraft
sind also die zwei Grundpfeiler der Herderschen
Philosophie, aus denen die Begrilfe von Raum und
Zeit entstehen. Dieser äußeren Erfahrungswelt
entsprechen im menschlichen Bewußtsein der
Gesichtssinn, der das Nebeneinander im Räume, das
Gehör, welches das Nacheinander in der Zeit
vermittelt und das Gefühl „als Organ des In- und
Durcheinander". Man mag vielleicht diese
Nebeneinanderstellungen der verschiedenen
menschlichen Sinne mit den äußeren Erscheinungen
als nicht ganz zutreffend betrachten, aber der
wichtige Gegensatz zu Kant ist der, daß Herder alle
Funktionen des menschlichen Denkens aus der
materiellen Umwelt und ihrer Fortentwicklung
ableitet.
In diesen Fragen
finden wir die Wurzel des Gegensatzes von Kant und
Herder. Wie treffend, wenn Herder aus dieser
Untersuchung die Feststellung ableitet, daß das
System Kants letzten Endes zum reinen Idealismus,
zur Philosophie Berkelevs zurückführt, gegen den
zu kämpfen Kant vorgab.
Wir wollen nur noch
sehen, wie Herder, nachdem er die apri-oristische
Methode des Kantianismus widerlegt hat, nun auch
dessen zweite grundlegende philosophische
Konstruktion, das „Ding an sich", kritisiert. Kant
leugnet nicht die Existenz der äußeren Dinge und
leitet diese auch nicht aus dem Verstände ab. Er
stellt fest, „daß alles, was der Verstand aus sich
selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu
borgen, das habe er dennoch zu keinem andern Behuf
als lediglich zum Erfahrungsgebrauch" Auf diese
Ausführungen antwortet Herder:
„Hat der Verstand aus
sich geschöpft, ohne von der Erfahrung zu borgen,
und konnte zu keinem andern Behuf schöpfen als
lediglich zum Erfahrungsgebrauch, so lasset ihn
auch aus der Erfahrung schöpfen und zu seinem
eigenen Behuf von sich selbst borgen; beides läuft
auf eins hinaus."
Wenn Kant erklärt,
daß die Gesetze des menschlichen Denkens die
Voraussetzung der äußeren Erfahrungen sind, wenn er
dazu ein ganzes System von Kategorien des Denkens
aufstellt, so antwortet Herder hier wieder:
„Ohne Denken und ohne
Gegenstand gibts keine Anschauung. Und was hieße
es, eine gegenstandslose Anschauung auf den
Gegenstand beziehen? Wie es ohne Gegenstände keine
Anschauungsformen gab, so gibt es auch ohne sie
keine Gedankenformen."
Von seinen
gedanklichen Konstruktionen also steigt Kant zum
Ding an sich, zur äußeren Welt, herab. Und da für
ihn die Grenzen der menschlichen Vernunft etwas
Feststehendes sind, da er unabänderliche
Denkformen aufgestellt hat, ist der Mensch seiner
Auffassung nach auch nicht fähig, die Natur zu
erkennen, sondern er faßt die äußeren Dinge nur in
dem Rahmen auf, der durch diese inneren Denkgesetze
begrenzt wird. Die menschliche Vernunft hat also
bei Kant Grenzen, die durch ihre Denkgesetze
bestimmt sind und die es daher unmöglich machen,
das Ding an sich, die äußere ' Welt, so zu
erkennen, wie sie wirklich ist. Der menschliche
Geist kann nur bestimmte Aeußerungen des Dings an
sich, der äußern Erfahrungswelt, aulfassen, niemals
aber das Ding an sich. Diese falsche Fragestellung
entspringt daraus, daß bei Kant nicht die äußere
Welt das Primäre ist, sondern die Vernunft. Herder
dagegen, der die Existenz der Außenwelt anerkennt
und dabei auch betont, daß unser Denken von den
Eindrücken der Außenwelt abhängig ist, verspottet
diesen Gedanken Kants in direkt grausamer Weise:
„Löset z. B. dieses
Zwiebelgewächs Schale nach Schale auf; du erwartest
das Ding an sich, die wahre Zwiebel und verlangst
vielleicht gar neue Sinne, sie zu betasten, zu
beäugen. Würden sie dir, du
fordertest neue Sinne, um im neugefundenen Kern den
Kern, den Keim, die Substanz oder wie du es sonst
nennen willst, zu finden; und was fändest du an
ihr? Kraft, die das Ganze konstituiert, die in
allen Teilen und Gliedern lebt, läßt sich weder
betasten noch beäugen."
So löst sich auch
Kants Vorstellung von der Unerkennbarkeit des Dings
an sich auf. Damit sind die idealistischen Schemen
der Kantischen Philosophie aufgelöst, die Herder
in seinem Buche bis in den letzten Schlupfwinkel
hinein verfolgt und ihres idealistischen Scheines
beraubt.
Die geschichtliche
Bedeutung der Auseinandersetzung Kant
-Herder
Nachdem wir die
wesentlichen philosophischen Gegensätze zwischen
Kant und Herder kennengelernt haben, müssen wir
diese Auseinandersetzung, zweifellos eine der
bedeutsamsten Auseinandersetzung der modernen
Philosophie überhaupt, an ihren geschichtlichen
Platz einreihen. Karl Marx hat die Kantische
Philosophie in Deutschland mit Recht als die
ideologische Widerspiegelung der großen
französischen Revolution bezeichnet: aber dieses
Spiegelbild verhält sich zum Original so, wie die
Entwicklung des Bürgertums in Deutschland zur
Entwicklung des Bürgertums in Frankreich. Kants
Philosophie zeigt die Verkrüppelung der
revolutionären Ideen auf dem „klassischen"
deutschen Boden, auf dem die Vorbedingungen der
bürgerlichen Revolution noch nicht herangereift
waren. Das Spiegelbild der französischen Revolution
in Deutschland war eine Revolution der Ideologie,
die die wirkliche Welt auf den Kopf stellte und an
die Stelle der Wirklichkeit die Herrschaft des
Gedankens setzte. Herder dagegen war der wirkliche
Revolutionär, der sich von der Beschränktheit des
deutschen Lebens zu befreien wußte, der in
unermüdlichen geschichtlichen und philosophischen
Studien sich den gesamten Inhalt der Geschichte der
Menschheit, alle Resultate der Naturwissenschaft
und der Gesellschaftswissenschaft bis zum 18.
lahrhundert aneignete, der die Literaturen aller
Völker, ihre Geschichte und ihre Entwicklung
studierte und dadurch einen Gesichtskreis erhielt,
der ihm zur Ueberwindung der Enge der deutschen
Verhältnisse verhalf. Blieb Kant in deutschem Boden
stecken, umfaßte Herder geistig die ganze Welt und
konnte sich daher über den engen Gesichtskreis des
deutschen Lebens seiner Zeit erheben.
Herder, der geschulte
Natur- und Geschichtsforscher, erhielt durch das
Studium der Geschichte einen so weiten
Gesichtskreis, daß er den Bruch mit der deutschen
Ideologie schon fünfzig Jahre vor Feuerbach und
Marx vollziehen konnte, daß er der deutschen
Philosophie bereits ein System entgegenstellen
konnte, das sich auf den wichtigsten Elementen der
dialektischen Methode aufbaute. Gleichzeitig wurde
Herder zu einem bewußten Revolutionär, weil er aus
dem Studium der Geschichte und Naturwissenschaft
die Erkenntnis schöpfte, daß die Entwicklung der
Natur, ebenso wie die Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft, fortgesetzt in einem Prozeß der
revolutionären Umwandlung verläuft.
Die Geschichte hat
den Streit zwischen Herder und Kant zu gunsten des
zweiten entschieden. Herder war wohl Kant gegenüber
weit voraus, aber er war seiner Zeit so weit
voraus, daß diese gar nicht mitkonnte. Seine Ideen
fielen auf einen unfruchtbaren Boden und die
klassische deutsche Philosophie trug schließlich
den Sieg über die materialistische Philosophie
Herders davon. Zweifellos trugen beide
philosophische Systeme, sowohl das System Kants als
auch das Herders, den Charakter der bürgerlichen
Revolution. Beide bereiteten der Dialektik den
Boden vor und suchten die Gesetz mäßigkeit der
Natur und der menschlichen Entwicklung zu
entdecken. Während aber bei Herder die Gesetze der
Natur und der Geschichte als wirkliche Gesetze der
materiellen Entwicklung betrachtet werden, hat
Kant an die Stelle der Naturgesetze Denkgesetze
des menschlichen Geistes gesetzt, die der Natur
ihre Gesetzmäßigkeit vorschreiben. Kants Dialektik
entsprach wohl besser der Entwicklungsstufe des
deutschen Geisteslebens, aber Herders Dialektik
kam der Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse
näher.
Es verlohnt,
wenigstens in kurzer Form die Entwicklungslinie zu
zeichnen, aus der am Ende des 18. Jahrhunderts die
Herdersche Philosophie in Deutschland entstanden
ist. Zwischen seinem Leben und seiner Ideologie
scheint ein Zwiespalt zu existieren, denn Herder,
der in gewissem Sinne1 die Gesetze der
materialistischen Dialektik, wenn auch noch in
einer primitiven Form, aufgefunden hat, war
Geistlicher. Aber dieser Widerspruch löst sich,
wenn man auch die religionsphilosophischen
Auffassungen Herders in Betracht zieht. Herder
versuchte die Grundbegriffe der Beligion in sein
dialektisches System einzureihen, er versuchte,
wie es auch schon Lessing getan hatte, die Religion
geschichtlich zu erklären, im Gegensatz etwa zur
französischen Aufklärungsphilosophie, insbesondere
Voltaire, der, statt die Religion geschichtlich zu
erklären, diese als unsinnigen Priesterbetrug
dargestellt hat.
Sowohl Herder als
auch Lessing gingen in ihrer Auffassung der
Religion auf Spinoza zurück. Der große Jude von
Amsterdam hat in seinem „Theologisch-politischen
Traktak" die Frage der Religion so aulgerollt, daß
Gott sich nicht in Wundern offenbaren könne, die
die Gesetzmäßigkeit der Naturentwicklung über den
Haufen werfen, sondern daß sich Gott gerade in der
Gesetzmäßigkeit aller Naturerscheinungen äußere.
Spinoza hat, auch wenn seine Lehre in konsequenter
Fortführung zum Atheismus führen muß, den
Gottcs-begriff noch nicht fallen gelassen, und auch
Herder hat im Sinne Spinozas den Gottesbegriff
aufrecht erhalten, wobei aber, ebenso wie bei
seinem Lehrer, der Begriff von Gott und Natur zu
einer vollständigen Einheit verschmolzen sind. So
bestimmt die Philosophie Spinozas den Ausgangspunkt
der dialektischen Natur- und Geschichtsauffassung
Herders, aber dieser ist über seinen Lehrer
hinausgewachsen, indem er, ausgerüstet mit den
umfassendsten Kenntnissen von Natur und
Gesellschalt, die Wirksamkeit der Natur gesetze in
der gesamten Menschheitsgeschichte nachzuweisen
bestrebt war. Ueber Spinoza hinausgehend, hat
Herder auch die Fragen der gesellschaftlichen und
politischen Revolution auf die Tagesordnung
gestellt und ist in der Vollendung seiner
dialektischen Methode bis zum Gedanken der
Auflösung des Staates vorgedrungen.
Den Entwicklungsweg
Herders lernen wir verstehen, wenn wir auch seine
enge Verbindung mit Goethe hier erwähnen. Goethe
hat wohl in späteren Jahren den Kampf Herders gegen
Kant nicht mitgemacht, ja sogar abgelehnt, aber
nicht etwa, weil er sich zum Kantianer gewandelt
hatte, sondern weil er keine so entschlossene
Kampfnatur war wie der Freund seiner Jugend. Alle
Versuche, Goethes Zurückhaltung aus seiner
Bekehrung zum Kantianismus zu erklären, sind
gescheitert. Die Beweise einiger Neukantianer, daß
auch Goethe in seinen späteren Jahren Spinoza
preisgab und das Heerlager der Kantianer vermehrte,
haben sich als unhaltbar erwiesen. Goethes
philosophisches Glaubensbekenntnis finden wir
sowohl in seinen nfturwissenschaftlichen
Schriften, in denen er die Gesetzmäßigkeit der
Naturentwicklung auf die beiden Gesetze der
Polarität und der Steigerung zurückführt, als auch
in einigen Gedichten, denen er die Ueberschrift
„Gott und Welt" gegeben hat. klar ausgedrückt. Hier
wollen wir in erster Reihe Goethes Streit mit dem
Naturwissenschaftler Haller erwähnen, der behauptet
hatte, daß es dem Menschen unmöglich sei, ins
Innere der Natur einzudringen und die Natur
wirklich zu erkennen. Zur Antwort auf diese
Auffassung schrieb Goethe das Gedicht „Allerdings!
Dem Physiker".
„Ins Innere der
Natur,"
O du Philister!
„Dringt kein erschaffner
Geist;"
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern.
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
„Glückselig, wem sie
nur
Die äußre Schale weist."
Das hör ich sechzig Jahre wiederholen
Und fluche drauf,
Aber verstohlen.
Sage mir tausend-tausendmale:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.
Wenngleich Goethe in
diesem Gedichte Haller aufs Korn nimmt, kann man
bei einiger Kenntnis Goethes behaupten: Den Sack
schlägt er, und der. Esel meint er. Denn die
Argumente, die hier gegen Haller angeführt werden,
treffen auch die Kantische Philosophie, besonders
die Ansichten über die Unerkennbarkeit des Dinges
an sich. In Uebereinstimmung mit Herder betont
Goethe die Auffassung, daß der Mensch und der
menschliche Geist der Natur nicht gegenübergestellt
werden können, daß sie vielmehr als Teile der Natur
den Naturgesetzen streng unterworfen sind. In einem
andern Gedicht „Epirrhema" drückt Goethe ähnliche
Gedanken aus:
Müsset im
Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Auch in diesem
Gedichte finden wir den Grundgedanken dieser
fortentwickelten Philosophie des Spinozismus* Das
menschliche Denken ist nur ein Abbild der äußeren
Natur.
Mit dem Hinweis auf
Spinoza können wir aber die Geschichte der
Herderschen Philosophie keinesfalls begrenzen. Es
ist hier vor allem auch der Nachweis zu führen, daß
Herder mit seinen Auffassungen an die gesamten
revolutionären Traditionen der vorhergehenden
Periode anknüpft. Ein großer Teil seiner
Lebensarbeit war der Aufgabe gewidmet, die
Erinnerung an verschiedene revolutionäre
Vorkämpfer der Vergangenheit, die bewußt oder
unbewußt ignoriert wurden, wieder aufzufrischen.
Genau so, wie sich Herder für den als Atheisten
verschrienen Spinoza einsetzte, genau so hat er
sich auch für eine Reihe anderer revolutionärer
Denker eingesetzt. Wir wollen hier nur einige
erwähnen, die auch die Beziehungen Herders zum
Sozialismus beleuchten. Eine seiner Arbeiten war
die Uebersetzung der Gedichte von Valerian Andrea,
der in Deutschland der einzige Utopist gewesen ist
und, ähnlich Thomas Morus und Campanella in seiner
„Christianopolis" (Christenstadt), eine utopische
Gesellschaftsschilderung, entworfen hat. Freilich
hat Herders „Rettung" keinen Erfolg gehabt, denn
die bürgerliche Wissenschaft hat es trotz des
mehrfachen Hinweises von Herder nicht für nötig
befunden, sich mit Andrea, dem einzigen deutschen
Utopisten, zu beschäftigen. Nicht minder
interessant ist es auch, daß Herder eine Anzahl von
Gedichten von Campanella ins Deutsche übersetzt
hat, den er sehr hoch einschätzte. Indessen scheint
Herder noch direktere Beziehungen zur Gedankenwelt
des Sozialismus gehabt zu haben, der im 18.
Jahrhundert einen gewissen Einfluß vor allem durch
die sozialistischen Theorien von Mably und Marellv
erlangte. Herders Biograph, Haym, erwähnt, daß ein
unmittelbarer Freund Herders in Weimar, der
Freiherr von Einsiedel, zur selben Zeit, wo Herder
an seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte'
schrieb, sich mit sozialistischen Theorien
beschäftigte und aus der Entwicklung der
Naturwissenschaften den Schluß ableitete, daß mit
der zunehmenden Beherrschung der Natur die
menschliche Gesellschaft schließlich einen Zustand
vollständiger ökonomischer Gleichheit erreichen
würde. Sowohl die Religion als auch der Staat
wurden von Einsiedel als vollständig nutzlos für
die menschliche Gesellschaft abgelehnt. Da
Einsiedel in der Zeit der Abfassung der Ideen zur
Philosophie der Geschichte in engster Beziehung zu
Herder gestanden hat, können wir nicht zweifeln,
daß seine Theorien, insbesondere seine
Staatsauffassung, einen sehr starken Einfluß auf
Herder ausgeübt haben. Noch an einer andern
revolutionären Bewegung dieser Zeit scheint Herder
beteiligt gewesen zu sein. In den siebziger und
achtziger Jahren entwickelte sich in Bayern die
aufklärerische Sekte der Illuminaten, eine
Geheimorganisation mit einem ähnlichen Charakter
wie die Freimaurer. Verschiedene
Geschichtsforscher führen an, daß das Ziel dieser
Gesellschaft in der Herbeiführung einer solchen
Gesellschaftsordnung bestanden habe, in der sich
die Regierungen allmählich auflösen. Es wird
erwähnt, daß neben andern hervorragenden
Zeitgenossen auch Goethe und Herder Mitglieder
dieser Gesellschaft waren, die schließlich den
Persekutionen der bayrischen Regierung zum Opfer
gefallen ist.
Zweifellos wird es
Aufgabe der marxistischen Forschung sein, diese
Zusammenhänge noch eingehender zu prüfen, aber
vorläufig genügen diese Hinweise, um uns den
revolutionären Charakter der Herderschen
Geschichtsauffassung verständlich zu machen.
Nachdem wir nun ihre philosophische Begründung aus
der Kampfschrift gegen Kant kennengelernt haben,
können wir dazu übergehen, Herders Hauptwerk, die
„Ideen zur Philosophie der Geschichte" zu
behandeln, worin Herder ein umfassendes Bild seiner
gesamten Gesellschaftsauffassung niedergelegt hat.
In vier Teile mit zwanzig Büchern eingeteilt, ist
dieses Werk sowohl eine Darstellung der
Entwicklungsgeschichte der menschlichen
Gesellschaft wie auch eine theoretische Analyse der
treibenden Kräfte der Natur- und
Geschichtsentwicklung.
Die Ideen zur
Philosophie der Geschichte der
Menschheit
Herder geht in seiner
Philosophie der Geschichte aus von der Entwicklung
der Natur. Schon der Aufbau seines Werkes zeigt,
daß er den Gedanken der fortschreitenden
Entwicklung und Veränderung der Natur und
Gesellschaft bis zur letzten Konsequenz zu
begründen versuchte. Da die menschliche
Gesellschaft nach Herders Auffassung Produkt ihrer
äußeren Umgebung ist, wird zunächst diese äußere
Umgebung, die Erde und ihre Entstehung,
dargestellt. Im ersten Buche seines Werkes stellt
Herder die Erde dar und behandelt die verschiedenen
Revolutionen, durch die die Erde durchgegangen ist.
Die Erde ist das
breite Feld der menschlichen Tätigkeit. Der Mensch,
ein Produkt der Erde, muß daher in seiner ganzen
Entwicklung in erster Reihe aus der Entwicklung
der Erde selbst erklärt werden: „Unser Verstand
ist ein Verstand der Erde; unsere Sinnlichkeit, die
uns hier umgibt, allmählich gebildet; so ist's auch
mit den Trieben und Neigungen unseres Herzens."
Darum ist also für Herder der Ausgangspunkt der
menschlichen Geschichte die Geschichte der Erde
selbst und im weiteren Verlauf die Geschichte der
organischen Natur, die sich allmählich auf der Erde
entwickelt. Aus der unbelebten Natur hoben sich die
Pflanzen hervor als erste Lebewesen. Bevor es
Pflanzen gab, konnten sich keine Tiere entwickeln.
Vom Pflanzenreich fand ein langsamer Uebergang zum
Tierreich statt. Schon Herder hat
Uebergangsgeschöpfe zwischen beiden, die
fleischfressenden Pflanzen, erwähnt. Innerhalb des
Tier: reiches vollzieht sich dann auch
eine langsame Entwicklung, die immer weiter
hinaufführt, bis schließlich mit dem Menschen der
Gipfel der tierischen Organisation erreicht ist.
Bevor das Tierreich sich entwickelt hatte, konnte
auch der Mensch nicht entstehen.
Es handelt sich nun
darum, festzustellen, ob Herder rein empirisch
eine ständig höhere Entwicklung feststellt, oder ob
er aus diesen seinen Feststellungen bestimmte
Schlüsse bezüglich der Natur-und
Geschichtsentwicklung ableitet. Die Grundfrage der
Dialektik: wie vollzieht sich die Entwicklung, ist
auch die Grundfrage der Herderschen
Geschichtsphilosophie.
Die treibende
Kraft der Entwicklung
Als treibende Kräfte
der Entwicklung betrachtet Herder die Naturkräfte,
die, in einer bestimmten Gesetzmäßigkeit wirkend,
zur Bildung immer höherer Organismen führen, so daß
Pflanzen, Tiere, Menschen nicht eine zufällig
entstandene Reihe der Entwicklung sind, sondern mit
Notwendigkeit sich auseinander entwickeln mußten.
Die Natur, die bei Herder keine tote Materie ist,
ist nichts als ein ununterbrochenes Werden, wobei
aus den niederen Formen immer höhere Formen
hervorgehen. „Aller Zusammenhang der Kräfte und
Formen ist weder Rückgang noch Stillstand, sondern
Fortschritt."
Wie vollzieht sich
nun dieser Fortschritt? Herder erklärt ihn aus den
in der Natur wirksamen Kräften, die er in zwei
Kategorien, in aufbauende und zerstörende,
einteilt. Aus dem Aufeinanderwirken verschiedener
Naturkräfte ergibt sich die Entwicklung, die ohne
wirkende Kräfte undenkbar wäre. Die Entwicklung ist
mithin kein abstraktes Gesetz, sondern sie
resultiert aus der Wirksamkeit aufeinanderstoßender
Naturkräfte, sie ist das Produkt eines bestimmten
Antagonismus dieser Kräfte. Soweit wäre
nichts einzuwenden. Aber es erhebt sich die Frage,
wieso aus dem Kampf antagonistischer Kräfte eine
ständige Höherentwicklung abgeleitet werden kann.
Zur Beantwortung dieser Frage reichte Herders
Einsicht nicht aus. Er konstatierte einfach, daß
die aufbauenden Kräfte in der Natur die
zerstörenden überwiegen, so daß das Ergebnis des
Kampfes zwischen diesen Kräften eine stete
Höherentwicklung sein müsse.
Heute ist es uns
durchaus verständlich, daß Herder in der
Entwicklung seiner Dialektik nur bis zu einem
bestimmten Punkte vordringen konnte. Den
Antagonismus in der Entwicklung hat er gesehen und
klar erkannt. Aber er konnte diese Dialektik nicht
bis zu Ende entwickeln. Und so sehen wir, wie er
von einer kausalen zu einer teleologischen
Erklärung der Entwicklung hinüberspringt, um aus
diesem Dilemma herauszukommen. Einerseits
konstatiert er, daß die Natur und die menschliche
Gesellschaft Produkte einer kausalen Entwicklung
sind, anderseits kommt er zum Resultat, daß sich im
Fortschritt der Gesellschaft ein bestimmter
göttlicher „Plan" auswirkt.
Die Natur (respektive
Gott) habe einen bestimmten geschichtlichen Plan,
welcher bewirkt, daß die menschliche Gesellschaft
einem höheren Zustande zustrebt, den Herder als den
Zustand der "Humanität"
bezeichnet. „Der Mensch ist zur Humanität
gebildet", lautet einer seiner Glaubenssätze. So
finden wir bei Herder eine eigenartige Vermengung
einer streng kausalen und einer teleologischen
Geschichtsbetrachtung. Diesen Widerspruch können
wir uns leicht erklären: Herder als kämpfender
Revolutionär strebt nach der Abänderung der
bestehenden Ordnung, sein Ideal war politisch der
Aufbau einer staatenlosen Gesellschaft. Aber der
Weg zu dieser idealen Gesellschaftsordnung, die
Herder vorschwebt, ließ sich noch nicht kausal aus
den im 18. Jahrhundert vorhandenen Bedingungen
erklären, und Herder mußte daher die geschichtlich
notwendigen Lücken seiner revolutionären
Geschichtsauffassung durch teleolo-gische
Betrachtungen stopfen. So ist für ihn die Humanität
bald ein notwendiges Produkt der Entwicklung, bald
ein Ziel, zu dem die Natur die Anlage schon in den
Menschen gelegt hat.
Die zweite Frage, an
der wir prüfen können, ob Herder tatsächlich die
Elemente des dialektischen Materialismus
vorbildete, ist seine Einstellung zur Frage der
Revolution. Die Frage, ob die Widersprüche
der Entwicklung- auf dein Wege einer
allmählichen Entwicklung oder auf dem Wege der
Revolution gelöst werden können, ist vom
Gesichtspunkt des dialektischen Materialismus eine
Entscheidungsfrage. Auch diese zweite Frage hat
Herder positiv im Sinne der Revolution beantwortet.
Die ganze Geschichte der Erde ist in seiner
Darstellung die Geschichte von Revolutionen, durch
die sich zunächst die Erde selbst, dann später die
Lebewesen gebildet haben. Die Dialektik der
Revolution ergibt sich aus dem Gegensatz der
aufbauenden und zerstörenden Kräfte bei Herder mit
Notwendigkeit. Die Zerstörung ist ein notwendiges
Element des Aufbaus. Damit sich höhere Formen
entwickeln, müssen niedere Formen zerstört werden,
aber trotz dieser Zerstörung geht keine Kraft
unter: „Keine Kraft geht unter. Denn was hieße es:
eine Kraft geht unter?" Wie Herder dialektisch die
Gedanken von Aufbau und Zerstörung verbunden hat,
zeigen schon seine naturwissenschaftlichen
Betrachtungen:
„Über
der Pflanze steht das Tier und zehrt von ihren
Säften. Der einzige Elefant ist ein Grab von
Millionen Kräutern, aber er ist ein lebendiges,
auswirkendes Grab, er animalisiert sie zu Teilen
seines Selbst — die neuen Kräfte gehen in feinere
Formen des Lebens über. Unter allen Tieren ist das
Geschöpf der feinsten Organe, der Mensch, der
größte Mörder. Er kann beinahe alles, was an
lebendiger Organisation nur nicht zu tief unter ihm
steht, in seine Natur verwandeln. Eine jede
Zerstörung ist Uebergang zum höheren Leben. Das
Wachstum eines Geschöpfes, was ist's anderes, als
die stete Bemühung desselben, mehr organische
Kräfte mit seiner Natur zu verbinden?"
Während für die
meisten Deutschen dieses Zeitalters der Gedanke
der Revolution etwas Schreckhaftes hatte, hat
Herder also die Revolution in der Natur wie auch in
der Gesellschaft als notwendiges Naturgesetz
klargelegt. Ein Beitrag zum Verständnis dessen,
wieso er viel konsequenter bis zum letzten Ende an
den Gedanken der französischen Revolution
festgehalten hat.
Die Entwicklung
der Natur
Aus der allgemeinen
Entwicklung der Erde greift Herder, immer den
Gedanken seiner Dialektik folgend, die Entwicklung
der orga nischen Natur heraus, als weitere Vorstufe
zur Erklärung der Entwicklung der Gesellschaft. In
der organischen Natur stellt er die Entwicklung von
der Pflanze zum Tier und zum Menschen in einer so
klaren Form fest, daß wir hier, achtzig Jahre vor
Darwin, nahezu glauben können Darwin zu lesen.
Welches sind nun die Hauptgesetze der Entwicklung
der organischen Natur nach Herder? Herder nennt
zwei Grundgesetze, denen alle Lebewesen folgen
müssen: das Gesetz der Nahrung und das Gesetz der
Fortpflanzung. Der Bau aller Lebewesen ist durch
diese zwei Funktionen bestimmt.
„Das erste Merkmal,
wodurch unsere Augen das Tier unterscheiden, ist
der Mund. Die Pflanze ist, wenn ich so sagen darf,
noch ganz Mund: sie saugt mit Wurzeln, Blättern und
Ohren; sobald sich das Geschöpf zum Tier
organisiert, wird an ihm, selbst ehe noch ein Haupt
unterscheidbar ist, der Mund merklich ... Das
erste Hauptgesetz also, dem irgendein Trieb eines
Lebendigen dient, ist Nahrung."
Wie verhält sich nun
der Mensch dazu? Als Lebewesen aus dem Tierreich
hervorgegangen, ist auch sein erstes Hauptgesetz
Nahrung:
„Stolzer
Mensch, blicke auf die erste notdürftige Anlage
deiner Mitgeschöpfe zurück; du trägst sie noch mit
dir; du bist ein Speisekanal, wie deine niedrigen
Brüder."
Als das zweite
Hauplgesetz der organischen Natur erscheint bei
Herder das Gesetz der Fortpflanzung. Wie sehr diese
Auffassung den Grundgedanken des dialektischen
Materialismus entspricht, braucht wohl hier nicht
erläutert zu werden.
Ausgehend von den
beiden Grundgesetzen der Nahrung und Fortpflanzung
kommt Herder zu dem weiteren Resultat, daß die
Entwicklung der Lebewesen abhängig ist von ihrer
Lebensweise. Diese Tatsache zeigt er zunächst im
Tierreich und seiner Entwicklung auf, um dann
denselben Gedanken auch auf die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft, zu übertragen. So stellt
Herder bezüglich der am Lande lebenden Tiere
folgende Aehnlichkeit fest: „Der ähnliche
Knochenbau der Landtiere fällt in die Augen, Kopf,
Rumpf, Hände und Füße sind überall die Hauptteile."
Das Medium, in dem also die einzelnen Tierarten
leben, bestimmt ihren ganzen Körperbau; dieser
Gedanke ist es, der Herder schließlich zur
vergleichenden Anatomie führt, die er, als einer
der ersten, auch zur Erklärung des Ursprungs des
Menschen heranzog.
Hierzu konstatiert
er, daß der Mensch durchaus in seinem ganzen
Körperbau übereinstimmt mit den am Lande lebenden
Tieren, daß er vielen Tiergattungen tatsächlich
viel ähnlicher ist, als es äußerlich scheint.
„Wie manche Tiere,
die uns von außen so unähnlich scheinen, sind uns
im Innern, im Knochenbau, in den vornehmsten
Lebens- und Empfindungsteilen, ja in den
Lebenverrichtungen selbst, auf die auffälligste
Weise ähnlich."
So kommt Herder in
seinen Betrachtungen immer mehr zu den Resultaten
der Darwinschen Theorie, ja er formuliert sogar
schon ein Gesetz, das nahezu hundert Jahre später
von einem bekannten materialistischen
Naturforscher, Ernst Haeckel, funkelnagelneu als
„biogenetisches Grundgesetz" formuliert worden ist.
Dieses biogenetische Grundgesetz ist jedoch schon
von Herder aus dem Vergleich der Anatomie der
Tiere und Menschen abgeleitet worden.
„Das Kind im
Mutterleib scheint alle Zustände durchgehen zu
müssen, die einem Erdengeschöpf zukommen können. Es
schwimmt im Wasser; es liegt mit offenem Mund; sein
Kiefer ist groß, ehe eine Lippe ihn bedecken kann,
die sich nur später bildet" usw.
Der Mensch macht also
bei seiner individuellen Entwicklung schon nach der
Theorie Herders alle jene Stufen durch, die das
ganze Menschengeschlecht in der allgemeinen
Naturgeschichte durchmachen mußte.
Von hier bis zum
direkten Nachweis der Abstammung des Menschen aus
dem Tierreich ist nur ein Sprung. Einer direkten
Antwort darauf, ob der Mensch sich aus dem
Tierreich entwickelt hat oder ob die Unterschiede
zwischen Mensch und Tier von vornherein gegeben
sind, weicht Herder aus. Er erklärt dazu, dies sei
eine Frage ..historischer Art". Er wolle alle
Metaphysik beiseite lassen und sich nur an die
Physiologie und Erfahrung halten. So schildert
Herder die Unterschiede des Menschen von den
Tieren, dabei wohl durchblicken lassend, daß seiner
Ansicht nach der Mensch auch vom Tiere abslammt,
ohne diesen Gedanken direkt auszusprechen. Daß dies
aber Herders wirkliche Meinung war, geht schon aus
dem Abschnitt hervor, in dem er die Menschenaffen,
speziell den Orang-Utan behandelt, über den er
schreibt:
„Der Orang-Utan ist
im Innern und Aeußern dem Menschen ähnlich, sein
Gehirn hat die Gestalt des unseren; er hat eine
breite Brust, platte Schultern, ein ähnliches
Gesicht, einen ähnlich gestalteten Schädel —
allerdings muß also auch in seinem Innern, in den
Wirkungen seiner Seele etwas Menschenähnliches
sein, und die Philosophen, die ihn unter die
kleinen Kunsttiere erniedrigen wollen, verfehlen,
wie mich dünkt, das Mittel der Vergleichung. Der
Affe hat keinen determinierten Instinkt mehr; seine
Denkungsart steht dicht am Rande der Vernunft, am
armen Rande der Nachahmung. Er ahmt alles nach und
muß also zu tausend Kombinationen sinnlicher Ideen
in seinem Gehirn geschickt sein, deren kein Tier
fähig ist."
Mit den Menschenaffen
erreicht also nach Herder die Natur jene Grenze, an
der der Affe zum Menschen wurde. Diesen
Grundgedanken belegt Herder durch ausführliche
anatomische Vergleiche zwischen dem Körperbau des
Menschen und des Affen. Begreiflich, daß er in der
Zeit, in der er lebte, seine letzten Grundgedanken
in dieser Beziehung nicht offen aussprechen konnte.
Sie sind ebensowenig zensurfähig gewesen wie seine
Auffassung in bezug auf die Staatstheorie.
Der Mensch im
Herderschen System und die Gesellschaft
Der Mensch kann nach
dieser naturwissenschaftlichen Betrachtung im
Herderschen System nichts weiter sein als ein
Naturprodukt. Indem Herder langsam, stufenweise die
Entwicklung der Natur bis zur Entwicklung des
Menschen verfolgt, hat er auch die Illusion der
idealistischen Philosophie zerschlagen, die die
menschliche Vernunft zum Ausgangspunkt ihrer
Betrachtungen macht.
Wenn der Mensch
selbst nur ein Naturprodukt, kann auch die
menschliche Vernunft nichts weiter sein als ein
Produkt der Natur, allerdings ein Produkt solcher
Art, das den Menschen erst zum Menschen macht und
ihn über das Tier hinaushebt. Aber in diesem ganzen
System bleibt kein Raum für eine menschliche
Vernunft, die der Natur ihre Gesetze vorschreibt.
Das menschliche Denken und die menschliche Vernunft
als Produkt der Natur müssen auch durch die äußeren
Verhältnisse des Menschen bestimmt werden. Der
Mensch ist nach Herder „der erste Freigelassene der
Natur". Das bedeutet aber noch immer, daß er durch
die Verhältnisse der Natur bedingt und bestimmt
wird. Anschließend an seine naturwissenschaftliche
Betrachtung erklärt Herder, was die menschliche
Vernunft sei:
„Hieraus erhellt, was
menschliche Vernunft sei — ein Name, der in den
neueren Schriften so oft als ein Angeborenes
automatisch gebraucht worden und als solches
nichts als Mißdeutung gibt. Theoretisch und
praktisch ist die Vernunft nichts als etwas
Vernommenes. Eine Vernunft der Engel kennen wir
nicht, die Vernunft des Menschen ist menschlich.
Sie ist ihm nicht angeboren, sondern er hat sie
erlangt!"
Hier ist wieder der
Ausgangspunkt, von dem aus Herder zu seinem
späteren Kampf gegen Kant getrieben worden ist. Die
menschliche Vernunft als Naturprodukt ist eben
unfähig, Denk-begriffe a priori zu entwickeln, und
deshalb kommt Herder bei seiner Betrachtung der
menschlichen Geschichte zum Resultat:
„So wenig ein Mensch
seiner natürlichen Geburt nach aus sich selbst
entspringt, so wenig ist er im Gebrauch seiner
geistigen Kräfte ein Selbstgeborener. Nicht nur
der Keim unserer inneren Anlagen ist genetisch wie
unser körperliches Gebilde, sondern auch jede
Entwicklung dieses Keims hängt vom Schicksal ab,
das uns hier- oder dorthin pflanzte und nach Zeit
und Jahren die Hilfsmittel der Bildung in uns
legte. Schon das Auge mußte sehen, das Ohr hören
lernen; und wie künstlich das vornehmste Mittel
unserer Gedanken, die Sprache, erlangt wird, darf
keinem verborgen bleiben .., Hier also liegt das
Prinzipium zur Geschichte der Menschheit, ohne
welche es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge
der Mensch alles aus sich und entwickelte es
abgetrennt von äußeren Gegenständen, so wäre zwar
eine Geschichte des Menschen, aber nicht der
Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich!
Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin
liegt, daß wir, beinahe ohne Instinkt geboren, nur
durch eine lebenslange Uebung zur Menschheit
gebildet werden und sowohl die Per-fektibilität als
die Korriipti'bilität unseres Geschlechts hierauf
beruht, so wird eben damit auch die Geschichte der
Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette
der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten
bis zum letzten Glied."
Mit dieser
Betrachtung der menschlichen Vernunft ist der
Lieber-gang Herders von der individualistischen zur
kollektivistischen Auffassung
der Geschichte gegeben. Wenn wir in seinen Ideen
allgemein feststellen können, daß er vollständig
von dem Prinzip abgekommen ist, die Geschichte der
menschlichen Gesellschaft als die Geschichte
einzelner hervorragender Individuen darzustellen,
so erklärt sich diese Abkehr von der
individualistischen Geschichtsschreibung vor allem
aus seiner kollektivistischen Betrachtungsweise,
die ihn an die Spitze seiner gesamten
Geschichtstheorie den Satz stellen ließ: „Der
Mensch ist zur Gesellschaft geboren".
Außerhalb der
menschlichen Gesellschaft gibt es nach Herder keine
menschliche Entwicklung, und auch das einzelne
Individuum ist daher nicht bloß ein Produkt der
Natur, sondern noch viel mehr ein Produkt der
Gesellschaft.
Die Dialektik der
menschlichen Geschichte
Welches sind nun
die Grundlagen der Geschichte der Gesellschaft,
die Herder in seinem Werke entwickelt? Wie die
Geschichte der Natur und der einzelnen Menschen auf
natürliche Faktoren zurückgeführt wird, so sucht
Herder auch die Entwicklung der gesamten
Gesellschaft aus diesen Faktoren zu erklären. Der
äußere Rahmen der Natur bestimmt auch das Leben der
Gesellschaft. Als den wichtigsten Faktor in dieser
Beziehung betrachtet Herder das Klima, nach dessen
Unterschieden sich innerhalb der menschlichen
Gesellschaft verschiedene Rassen mit verschiedener
Lebensweise herausbilden. Der nächste wichtige
Faktor ist dann die Lebensweise eines Volkes, die
aber wieder abhängig ist vom ersten Faktor, dem
Klima.
So konstatiert
Herder eine ganze Reihe äußerer materieller Kräfte,
von denen er die Geschichte und die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft ableitet. Der Rahmen, in
den er 'diese Geschichte hineinstellt, „ist die
Beziehung der menschlichen Gesellschaft zu ihrer
Umgebung, der Natur. Ueber diesen Punkt ist Herder
in seiner Geschichtsphilosophie nicht
hinausgekommen. Das Zwischenglied, das hier
weiterführt, die materiellen Produktivkräfte, aus
denen dann die Analyse der Klassen entwickelt
wurde, fehlt noch in seiner Geschichtsauffassung,
so daß der konsequente materialistische Aufbau
dieser Geschichtsauffassung Unvollendetes geblieben
ist.
Im Rahmen, der
durch die äußere Natur vorgeschrieben wird,
vollzieht sich die geschichtliche Entwicklung.
Welches sind aber ihre treibenden Kräfte? Die erste
treibende Kraft, von der Herder ausgeht, ist die
Tradition. Die Kenntnisse und Erfahrungen der
einzelnen Generationen der Menschheit erben sich
fort. Die jüngere Generation baut auf dem auf, was
die ältere zurückgelassen hat, und so verwandelt
sich die ganze Geschichtsentwioklung in eine
ununterbrochene Kette der Traditionen. Im heutigen
Sprachgebrauch hat der BegrilT der Tradition einen
reaktionären Beigeschmack angenommen. Dieser fehlt
ihm bei Herder, denn die Herdersche
Tradition ist nicht etwas Unwandelbares, das
unbedingt zu allen Zeiten aufrechterhalten bleibt.
Sie wird im Laufe der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft verändert und immer weiter entwickelt.
Der Begriff der Tradition sagt bei Herder nur, daß
die nachfolgenden menschlichen Geschlechter
abhängig sind von der Höhe der materiellen Kultur,
die sie bereits vorgefunden haben, daß sie diese
nicht einfach ignorieren können. Wie wenig Herder
die Tradition als etwas Unwandelbares aufgefaßt
wissen wölke, geht aus seinen Ausführungen über die
Religion hervor, die er als älteste und „heiligste"
Tradition des menschlichen Geschlechts bezeichnet.
Was war die Religion in ihrem Ursprung? Die
Menschen vermittelten einander die Kenntnisse
durch religiöse Traditionen. Die Begriffe der
Beligion galten ihnen als Symbole zum Ausdruck
ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sobald nun
aber im Laufe der Entwicklung die ursprüngliche
Bedeutung eines religiösen Symbols vergessen wurde,
verwandelte sich Sinn in Unsinn, mußte es
geschehen, „daß die Priester, die ursprünglich die
Weisen der Nation waren, nicht immer ihre Weisen
blieben. Sobald sie nämlich den Sinn des Symbols
verloren, waren sie stumme Diener der Abgötterei
oder mußten redende Lügner des Aberglaubens werden.
Und sie sind's last allenthalben reichlich
geworden; nicht aus vorzüglicher Retrugsucht,
sondern weil es die Sache so mit sich führte." An
diesem Beispiel der Darstellung der
Religionsgeschichte sehen wir also, wie bei Herder
der Begriff der Tradition seinen starren,
reaktionären Charakter verliert, wie sich die
Tradition als wirkende Kraft einreiht in den
Verlauf der Geschichte.
Neben der
Tradition erhält im System der Herderschen
Geschichtsauffassung der Gedanke der Revolution
sein volles Recht. Die Menschen sind nicht bloß das
Produkt der äußeren Umgebung und der Tradition,
sondern sie sind selbst als Teil der Natur auch
eine treibende Kraft. Sie können sich wohl nicht
aus den äußeren Zusammenhängen loslösen, die ihr
Wirken und ihre Ideologie bestimmen, aber in
diesem Rahmen werden die Menschen selbst zu einer
treibenden Kraft der Geschichte, ein Gedanke, den
Herder kurz und klar in dem Satze formuliert:
„Lebendige Menschenkräfte sind die Triebfeder der
Menschengeschichte." So wird die Tradition ergänzt
durch die Wirksamkeit der menschlichen Kräfte, und
erst diese beiden Faktoren zusammenwirkend ergeben
das, was wir Geschichte nennen:
„Sofort
werden uns auch die Prinzipien dieser Philosophie
(des Menschengeschlechts) offenbar, einfach und
unverkennbar, wie es die Naturgeschichte des
Menschen selbst ist; sie heißen Tradition und
organische Kräfte. Alle Erziehung kann nur durch
Nachahmung und Uebung, also durch Uebergang des
Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir
dies besser als Ueberlielerung nennen? Der
Nachahmende muß aber Kräfte haben, das Mitgeteilte
und Mittelbare aufzunehmen und es wie die Speise,
durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln .
. . Mithin wird die Erziehung unseres Geschlechtes
in zwiefachem Sinne genetisch und organisch:
genetisch durch die
Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und
Anwendung des Mitgeteilten."
Die Tradition ist der
Ausgangspunkt der Herderschen
Geschichtsphilosophie: Die Revolution, die
Anerkennung ihrer geschichtlichen Notwendigkeit
ist der Endpunkt.
,,Die Philosophie der
Geschichte, die die Kette der Traditionen
verfolgt, ist eigentlich die wahre
Menschengeschichte, ohne welche alle anderen
Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder
erschreckende Mißgestalten werden. Grauenvoll ist
der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur
Trümmer auf Trümmer zu sehen. Ewigen Anfang ohne
Ende. Umwälzung des Schicksals ohne dauernde
Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus
diesen Trümmern ein Ganzes."
Herder versucht also,
die Revolutionen in der menschlichen Geschichte
als notwendige Teile des Ganzen zu erklären.
Alle Traditionen
müssen, wie am Reispiel der Religion bereits
gezeigt wurde, veralten:
„Kein Menschendenkmal
auf der Erde kann dauern, da es im Strom der
Generationen nur von den Händen der Zeit für die
Zeit errichtet ward und augenblicklich der Nachwelt
verderblich wird, sobald es ihre neuen
Bestrebungen unmöglich macht oder aufhält."
Sobald also eine
Einrichtung innerhalb der Gesellschaft beginnt,
deren Vorwärtsentwicklung aufzuhalten, muß sie
beseitigt, zertrümmert werden. Aus dieser
Betrachtung ergibt sich die Erkenntnis der
geschichtlichen Notwendigkeit, der Revolution:
„Torheit mußte
erscheinen, damit die Weisheit sie überwinde;
zerfallende Brechlicbkeit auch der schönsten Werke
war von ihrer Materie unzertrennlich, damit auf den
Trümmern derselben eine neue, bessernde oder
bauende Mühe der Menschen stattfände . .. Nur unter
Stürmen konnte die Pflanze (der Humanität)
erwachsen; nur durch Entgegenstreben gegen falsche
Anmaßungen mußte die süße Mühe der Menschen
Siegerin werden . . . Das Maschinenwerk der
Bevo-lutionen irrt mich also nicht mehr; es ist
unserm Geschlecht so nötig, wie dem Strom seine
Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf wird."
Herders
Staatstheorie
Wurden bisher die
allgemeinen Grundsätze der Herderschen
Geschichtsphilosophie dargestellt, so wollen wir
diese auf einem Gebiete weiter verfolgen, das für
uns heute ein besonderes Interesse hat. So wie
Herder in der allgemeinen Darstellung seiner
Philosophie zu einem Vorläufer des dialektischen
Materialismus geworden ist, so ist er auch
insbesondere in seiner Staatstheorie ein Vorläufer
der marxistischen Auffassungen. Freilich fehlt ihm
zu einer endgültigen Klärung der Staatsauffassung
der Begriff der Klassen und des Klassenkampfes,
aber trotzdem hat er sich der späteren Auffassung
des Staates bedeutend genähert, weil er den Staat
(ebenso wie auch die Religion) in den Prozeß der
geschichtlichen Entwicklung hineinwarf. Für
eine Theorie, deren Ausgang-, punkt die ewige
Veränderung, der ewige Fluß der Dinge ist, kann
auch der Staat kein dauerndes und festes Gebilde
sein. Er muß, in den Prozeß der Geschichte
hineingestellt, sich auflösen und neuen Formen dar
Gesellschaftsentwicklung Platz machen. Durch die
Entwicklung dieser Auflassung Herders ist
eigentlich sein theoretischer Streit mit Kant
veranlaßt worden. Auch wenn die Darstellung seiner
Auseinandersetzung mit Kant über die Grundsätze der
Philosophie im Anfange notwendig war zur
Entwicklung der gesamten Geschichtsauffassung
Herders, so war diese Auseinandersetzung zeitlich
gesehen nahezu der Schlußpunkt des großen Kampfes
zwischen den beiden Ideologen der bürgerlichen
Revolution in Deutschland. Bevor Herder die
Kantische Philosophie kritisierte, hatte er bereits
die Kantische Geschichtsauffassung kritisiert und
insbesondere als eines ihrer wichtigsten
Kettenglieder die Staatstheorie Kants. Kant hatte
nämlich in einer Kritik der ersterschienenen Teile
der Herderschen Theorien die Auffassung dargelegt,
daß das höchste Ziel der gesellschaftlichen
Entwicklung der Aulbau einer festen Staatenordnung
sei. Der Staat war für ihn eine absolute
Notwendigkeit, um die ungeselligen bösen Triebe der
Menschen zu zügeln, ein Zwangsapparat, der die
menschliche Gesellschaft gegen die schlechten
Triebe der einzelnen Individuen sichern sollte.
Kants Staatstheorie stand und fiel mit der Annahme,
daß die menschliche Natur von Natur aus schlecht
sei und daß wegen der angeborenen negativen
Eigenschaften der Menschen daher eine Kraft da sein
müsse, die sie im Zaume halte. Wir haben nun
gesehen, wie Herder in dar dialektischen
Entwicklung seiner Geschichtsauffassung die
Existenz angeborener menschlicher Eigenschaften
bestritt, wie er alle Fähigkeiten und geistigen
Kräfte des Menschen aus der Einwirkung seiner
äußeren Umgebung ableitet. Er konnte daher auch die
Begründung Kants für die Notwendigkeit des Staates
nicht anerkennen und mußte dieser Theorie seine
eigene dialektische Betrachtungsweise
entgegenstellen.
Der Staat hört bei
Herder auf, eine absolute Notwendigkeit der
Existenz der menschlichen Gesellschaft zu sein. Er
ist ein Produkt der Geschichte, und sobald seine
geschichtliche Funktion erschöpft ist, muß er
verschwinden.
Wie hat Herder die
Entstehung des Staates erklärt? Aus der Gewalt. Wir
wissen aus der Polemik Engels gegen Dühring, wie
mangelhaft diese Erklärung ist; aber im 18.
.Jahrhundert war es ein gewaltiger Fortschritt, den
Staat als einen Gewaltapparat darzustellen. Wir
müssen hier Herders Darstellung der Entstehung des
Staates ausführlicher zitieren:
„Wer hat Deutschland,
wer hat dem kultivierten Europa seine Regierungen
gegeben.' Der Krieg. Horden von Barbaren
überfielen den Wellteil- ihre Anführer und Edlen
teilten
unter sich Länder und Menschen. Daher
entsprangen Fürstentümer und Lehen; daher
entsprang die Leibeigenschaft unterjochter Völker;
die Eroberer waren im Besitz, und was seit dieser
Zeit in diesem Besitz verändert worden, hat
abermals Revolution, Krieg, Einverständnis der
Mächtigen, immer also das Recht des Stärkeren
entschieden. Auf diesem königlichen Wege gehl die
Geschichte fort, und Fakta der Geschichte sind
nicht zu leugnen . . . Gewaltsame Eroberungen
vertraten also die Stelle des Rechtes, das nachher
durch Verjährung, oder wie unsere Staatslehrer
sagen, durch den schweigenden Kontrakt Recht ward;
der schweigende Kontrakt aber ist in diesem Falle
nichts anderes, als daß der Stärkere nimmt, was er
will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er
nicht ändern kann. Und so hängt das Recht der
erblichen Regierung sowie beinahe jedes anderen
erblichen Besitzes an einer Kette von Tradition,
deren ersten Grenzpfahl das Glück oder die Macht
einschlug und die sich, hie und da mit Güte und
Weisheit, meistens aber wieder nur durch Glück oder
Uebermacht forlzog. Nachfolger und Erben bekamen,
der Stammvater nahm; und daß dem, der hatte, immer
mehr gegeben ward, damit er die Fülle habe, bedarf
keiner weiteren Erläuterung."
Das also ist die
Geschichte der Entstehung des Staates. Was folgt
daraus? Daß der Staat als Gewaltapparat zum
Verschwinden verurteilt ist, sobald die menschliche
Gesellschaft genügend weit entwickelt ist, sich von
Gewalt und Unterdrückung zu befreien. Zwar erklärt
Herder, daß der natürlichste Staat der nationale
Staat sei, aber auch der nationale Staat ist für
ihn nur ein Durchgangspunkt bis zur vollständigen
Beseitigung des Staates. Herders Ausführungen sind
in der endgültigen Fassung seiner Ideen nur
fragmentarische. Denn mit der Zensur rechnend, hat
er das Kapitel über die Regierungen mehrmals
abgeändert, und die ersten Fassungen sind erst
sehr spät in der Herder-Gesamtausgabe von Suphan
bekanntgeworden. Was führt Herder hier aus? „Der
Staat ist eine Maschine, und keine Maschine hat
Ewigkeit." Wer dem Staat als bloßer Maschine die
Aufgabe zulegte, die Glückseligkeit der Menschen
zu verwirklichen, „der spricht für mich eine
unverständliche Sprache."
Er polemisiert
gegen den Satz Kants, daß
der Mensch ein Tier sei, das einen Herrn nötig hat:
„Kehre
den Satz um: Der Mensch, der einen Herrn nötig hat,
ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er keines
eigentlichen Herrn mehr nötig." . . . „Im Begriff
des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen
Despoten, der auch Mensch sei, nicht; jener muß
erst schwach gedacht werden, damit er eines
Beschützers, unmündig, damit er eines Vormundes,
wild, damit er eines Bezähmers,
abscheulich, damit er eines Strafengels nötig
habe. Alle Regierungen der Menschen sind also nur
aus Not entstanden und um dieser fortwährenden Not
willen da. So wie es nun ein schlechter Vater ist,
der sein Kind erzieht, damit
es lebenslang unmündig, lebenslang eines Erziehers
bedürfe; wie es ein böser Arzt ist, der die
Krankheit nährt, damit er dem Elenden bis ins Grab
hinein unentbehrlich werde; so mache man die
Anwendung auf die Erzieher des
Menschengeschlechtes, die Väter des Vaterlandes,
und ihre Erzeuger."
Herder
mußte sich hier sehr vorsichtig ausdrücken.
Aber selbst bei dieser vorsichtigen Formulierung
geht aus seinen Ausführungen unverkennbar hervor,
daß er die Notwendigkeit der Beseitigung des
Staates, den er nur als Apparat der Unterdrückung
betrachtet, erkannt hat. Es ist dies eine Tatsache,
die von marxistischen Forschern noch wenig beachtet
wurde, wohl aber von einem ziemlich bekannten
Pseudamarxisten, Herrn Vorländer, der in seinem
Buche ül>er die „Philosophie unserer Klassiker"
bewegte Klagen darüber führt, daß Herder ein so
geringes Verständnis für die Bedeutung des Staates
hatte. Herr Vorländer hat also sehr gut die
Gefährlichkeit der Herderschen Philosophie auch für
die sozial-patriotischen Theorien der Gegenwart
verstanden — Grund genug, daß auch die wirklichen
Anhänger der marxistischen Lehre auf einen ihrer
bedeutsamsten Vorläufer wieder aufmerksam werden.
Gerade in Herders Staatstheorie drückt sich die
Tatsache aus, daß dieser umfassendste Geist des 18.
Jahrhunderts, indem er die naturwissenschaftlichen
und geschichtlichen Kenntnisse seiner ganzen
Zeitperiode verarbeitet und in sich aufgenommen
hat, entscheidende Schritte in der Richtung zum
Marxismus tat. Daß Herder auf Hegel, besonders in
dessen Jugendzeit, einen großen und nachhaltigen
Einfluß ausgeübt hat, können wir zweifellos
annehmen, selbst wenn uns nicht ausdrücklich von
den Biographen Hegels mitgeteilt würde, daß Hegel
Herders Schriften gelesen hat. Für den Einfluß
Herders auf ihn spricht schon allein die Tatsache,
daß er sogar im Titel eines seiner Hauptwerke:
„Geschichte der Philosophie als Philosophie der
Geschichte" ganz offenkundig an Herder anknüpft.
Aber Hegel stand gleichzeitig auch unter dem
Einfluß Kants, und so hat er Herders
Geschichtsphilosophie nicht fortgesetzt, indem er
ihren materialistischen Kern weiter entwickelte.
Hegel hat wohl die dialektische Methode weiter
ausgebildet, aber er hat sie gleichzeitig auch
ideologisch entstellt. Wieso schließlich diese
idealistische Richtung in Deutschland in der
Philosophie die Oberhand gewinnen mußte, ist schon
erklärt worden.
Es wäre aber ein
Unrecht, neben der Entwicklung der idealistischen
Richtung der deutschen Philosophie dauernd die
zweite Richtung der deutschen klassischen Literatur
zu vergessen, die die ersten Grundlagen des
dialektischen Materialismus geschaffen hat. Wenn
diese kurze, noch lange nicht erschöpfende
Darstellung der Herderschen Gesellschaftstheorie
einen Anstoß zur Forschung in dieser Richtung gibt,
so hat sie damit ihren Zweck erfüllt. Die Forschung
in dieser Richtung wird zweifellos eine bedeutende
Bereicherung der Darstellung der Geschichte des
dialektischen Materialismus.
Fußnoten
1) Wir bringen diesen interessanten
Artikel des Genossen Reimann, halten es aber für
notwendig, zu bemerken, daß die Einschätzung
Herders als eines Vertreters der Theorie des
dialektischen Materialismus und geschichtlichen
Vorläufers von Marx und Engels von uns nicht
geteilt wird. / D. Red.
Quelle:
Unter
dem Banner des Marxismus, Verlag für Literatur und
Politik, Wien - Berlin, 1929, III. Jahrgang, Heft
1, S.52-77 |