Herder und die dialektische Methode(1)
Ein Beitrag zur Geschichte der Dialektik in Deutschland


von Paul Reimann

01/2018

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In seinem „Feuerbach" hat sich Friedrich Engels darauf be­rufen, daß er und Karl Marx nicht nur die Vollender der Theorien des französischen Sozialismus, sondern auch die Erben der deutschen klassischen Philosophie sind und hat in diesem Zusam­menhang Kant, Fichta und Hegel als diejenigen bezeichnet, deren Lehren durch den wissenschaftlichen Sozialismus ihrer Vollendung zugeführt worden sind. In welchem Sinne Marx und Engels die deutsche Philosophie vollendet und dadurch überwunden haben, ist bekannt. Die deutsche Philosophie hat die dialektische Methode ausgebildet, aber ihre Dialektik beruhte auf idealistischen Voraus­setzungen, so daß Marx und Engels dieses System vom Kopf, worauf es stand, auf die Beine stellen mußten. Engels' Angaben im „Ludwig Feuerbach" berücksichtigend, hat die marxistische Forschung bisher die Entwicklung der dialektischen Methode bis auf Kant zurückverfolgt, hat aber nirgends die Frage angeschnitten, ob durch Kant, Fichte und Hegel wirklich die ganze Geschichte der Dialektik in Deutschland repräsentiert wird. Wohl hat Engels selbst in seiner neuerschienenen Schrift „Naturdialektik" auf den Streit zwischen Haller und Goethe hingewiesen, wohl hat Genosse Bucharin in seinem Buch über den „Historischen Materialismus" gelegentlich auch ein Zitat von Goethe über die „Metamorphose" als Beleg für die dialektische Betrachtungsweise angeführt, aber eine systematische Untersuchung in dieser Richtung ist nicht erfolgt.

Wollen wir einmal die Geschichte der Dialektik in Deutschland vervollständigen, so muß diese auch in Zusammenhang gebracht werden mit den Namen von Herder und Goethe. Wiewohl Marx und Endels nicht direkt an diese beiden großen Vertreter der deutschen Literatur angeknüpft haben, finden wir doch bei beiden wichtige Elemente der dialektischen Methode vorgebildet, und wenn wir diese Elemente einer näheren Prüfung unterziehen, können wir sogar feststellen, daß die dialektischen Elemente ihrer Auffassung im allgemeinen eine stärkere materialistische Fundierung haben, als dies bei den idealistischen deutsehen Philosophen der Fall war.

Die Dialektik bei Herder und Goethe trägt einen naturwissen­schaftlichen Charakter, ihr Mangel ist vor allem der, daß sie das Zwischenglied zwischen der Naturentwicklung und der Gesell­schaftsentwicklung, die Oekonomik, übersprungen haben und die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung noch zum großen Teil auf Naturgesetze zurückführen.

Die Nichtbeachtung der Elemente der materialistischen Dialek­tik, die bei Herder vorgebildet wurden, läßt sich geschichtlich er­klären. Der deutsche Idealismus hatte seine Wurzel darin, daß in Deutschland im Zeitalter der bürgerlichen Revolution die Bour­geoisie noch zu schwach zu revolutionären Taten war. Die deutsche Philosophie konnte daher nicht unmittelbar auf die materiellen Grundlagen der bürgerlichen Revolution zurückgehen, sondern mußte ihre Grundsätze in den hohen Regionen des Geistes zu be­gründen suchen. In Deutschland entwickelte sich infolge der zu­rückgebliebenen Wirtschaft des Landes die bürgerliche Revolution zunächst als eine ideologische Revolution. Soweit im Rahmen der deutschen Literatur materialistische Elemente zum Vorschein kamen, sind diese gewissermaßen „aus der Zeit herausgefallen" und konnten daher nicht jene Bedeutung erlangen'wie die idealisti­schen Systeme der deutschen Philosophie. Trotzdem ist aber in Deutschland die Entwicklung der materialistischen Richtung ständig parallel verlaufen mit der Entwicklung des deutschen Idealismus. Ebenso wie Herder in seinen wichtigsten Schriften gegen die Kantische Philosophie auftrat, wobei er vor allem die idealistischen Grundlagen dieser Philosophie kritisierte, ebenso hat auch ein Jahrzehnt später der Dichter Jean Paul die Fichtesche Philosophie von materialistischen Gesichtspunkten aus kritisiert.

Die bürgerliche Literaturgeschichte hat diese Entwicklung unterschlagen, weil sie seihst durch und durch idealistisch ist. In den bürgerlichen Literaturgeschichten wird Herder nahezu als Narr geschildert, weil er es gewagt hat, das System Kants zu kritisieren, und dort, wo die bürgerlichen Literaturforscher etwas höflicher sind, suchen sie dieses Auftreten aus Herders Erbitterung in seinem Alter zu erklären. Man kann nun tatsächlich feststellen, daß Herder in seinem Alter verbittert war, aber man muß es bezweifeln, daß seine Polemik gegen Kant auf diese Verbitterung zurückzuführen ist. Wir können diese Erscheinimg viel materialistischer erklären. Herder war gezwungen, in einem deutschen Kleinstaat zu leben. Herder war in seiner ganzen materiellen Stellung vom Weimarer Hofe abhängig und innerlich gleichzeitig ein bürgerlicher Revo­lutionär. Er mußte daher ständig in einem Konflikt leben, der hervorgerufen wurde durch den Widerspruch zwischen seiner materiellen Lebenslage und seiner Ideologie. Während die deutschen Literarhistoriker sich bemühen, das Leben am Hofe von Weimar, wo Goethe, Schiller und Herder wirkten, in den idealsten Farben zu schildern, wurde dieses Weimar von Herder nur als goldener Käfig empfunden. Selbst Goethe, der es viel besser verstanden hat, sich den äußeren Verhältnissen anzupassen, mußte einmal in einem Briefe an seinen Freund Knebel gestehen:

„Der Wahn, die schönen Körner, die in meinem und meiner Freunde Dasein reifen, müßten auf diesen Boden gesät und jene himmlischen Juwelen könnten in die irdischen Kronen dieser Fürsten gefaßt werden, hat mich ganz verlassen."

Noch viel bitterer hat sich der bewußte bürgerliche Revolutionär Herder ausgesprochen:

„Trödelkram, lieber Knebel, ist das Meiste auf dieser Erde, und die Herzen der Fürsten sind kostbare Stücke in dieser Bude. Kaufe sie, wer will, mir ist ein Dreier lieber."

Eine solche Stimmung, wie sie in diesen Aeußerungen zum Aus­druck kommt, mußte sich natürlich in der Zeit einer revolutionären Entwicklung noch steigern. Im Jahre 1790, als Herder bereits politisch voll und ganz auf dem Boden der französischen Revolution stand, schrieb er in einem seiner Briefe an Knebel: „Ich bin ein­samer als jemals."

Ein besonderes Kapitel, das diese Verhältnisse besonders uner­träglich gestalten mußte, war die Zensur, von der sich Herder vorn und hinten belauert sah. Bei der Abfassung seiner „Ideen zur Phi­losophie der Geschichte" schrieb er u. a. in einem Brief an Jakobi:

 „Ich winde mich in den ,Ideen' über die Regierungen miserabiliter einher; sie und die Weiber sind mir die schwersten Knoten gewesen, ein doppelter Knote."

Herder hat auch, um zensurfähig sprechen zu können, das Kapitel, in dem er seine Staatstheorie entwickelt, nicht weniger als viermal umgearbeitet. Ein engerer Freund Herders, Müller, der sich in dessen Hause längere Zeit aufgehalten hat, bemerkt in seinem Tagebuch:

„Herder wird Luthers Leben schwerlich schreiben, wenig­stens solange er in Weimar ist. Die sächsischen Fürsten haben sich so schändlich aufgeführt, daß er es nicht wagen darf, die Wahrheit zu sagen."

Vielleicht linden wir in dieser Zensur, die selbst die unge­schriebenen Werke Herders getroffen hat, den tieferen Grund da­für, daß seine Bedeutung in der Entwicklung der deutschen Lite­ratur bisher nicht erkannt wurde. Man braucht nur die große Herderausgabe von Suphan in die Hand zu nehmen, um sich zu überzeugen, wieviel handschriftliches Material, das Herder aus politischen Gründen nicht veröffentlichen konnte, erst 70 Jahre nach seinem Tode erschienen ist. Und dabei läßt es sich nach­weisen, daß sogar Suphan nicht alles das abgedruckt hat, was er im handschriftlichen Nachlaß Herders vorgefunden hat. In diesem handschriftlichen Nachlaß finden wir nahezu alles, was Herder über die französische Revolution schrieb. In Weimar konnte er es nicht veröffentlichen, denn Herder, obwohl grundsätzlich Pazifist, anerkannte in diesen Schriften die Notwendigkeit der Befreiungs­kriege der französischen Revolution gegen die feudalen Machthaber, während „sein" Fürst, Karl August von Weimar, der große Huma nist, am Kriege gegen Frankreich teilnahm. Wie eine Ironie wirkt der Brief, den Karl August aus dem Felde an Herder schrieb, der insgeheim vollständig auf der Seite der revolutionären Kämpfer ge­standen hat. In diesem Briefe heißt es:

„Lasse uns das gute Glück die Zeit erleben, wo man nichts mehr zu tun hat, als sicher und ungestört die Endzwecke eines jeden wohldenkenden Mannes erfüllen zu helfen. Indessen zweckt unser Bestreben ab, die fränkischen Unmenschlichkeiten vom deutschen Boden zu kehren. Und das ist ja auch wohl ein Beitrag zu ihrem humanen Vorhaben, lieber Herder?"

Daß Herder unter solchen Verhältnissen über seine Stellung­nahme "zur französischen Revolution nichts drucken ließ, finden wir wohl begreiflich. Der Widerspruch zwischen seiner revolutio­nären Gesinnung und den feudalen Verhältnissen, denen er im Leben sklavisch unterworfen war, machen es erklärlich, wieso er in seinen letzten Lebensjahren persönlich verbittert war, was aber kein Grund ist, seine Leistungen in dieser Zeit herabzusetzen und zu bagatellisieren. Denn gerade in seinen letzten Lebensjahren er­reichte sein Kampf gegen die idealistische Philosophie Kants den Höhepunkt, in diesen Jahren entstanden zwei seiner hervorragend­sten Werke, die „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft" und die „Kalligone". In dem ersten dieser Werke setzt sich Herder mit dem philosophischen System Kants auseinander, im zweiten mit dessen Aesthetik. Heiders Kampf gegen Kant geht allerdings schon auf eine frühere Periode zurück. Sind diese beiden Werke erst am Ausgang der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts entstanden, so hat Herder schon früher, in der Mitte der achtziger Jähre, seine erste Auseinandersetzung mit Kant gehabt. Der Streit mit Kant, dessen Schüler Herder in jener Zeit war, als Kant noch nicht die Gedanken seiner kritischen Philosophie entwickelt hatte, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte wissenschaftliche und schrift stellerische Arbeit Herders von der Mitte der achtziger Jahre bis fast zu seinem Tode. Während die meisten Historiker Herder Un­verständnis für die Gedanken der kritischen Philosophie vorwerfen, muß der Marxist diesen Streit von einer ganz anderen Warte aus beurteilen. Er war, wenn auch noch nicht mit voller Klarheit ge führt, der Kampf zwischen der idealistischen Methode der deutschen Philosophie und einem dialektisch gefärbten Materialismus. Wenn Herder sich nicht selbst ah Materialisten bezeichnete, so vor allem deshalb, weil die Materie in den Begriffen des zeitgenössischen Materialismus ihm als etwas Totes erschien. Infolge eines histo­rischen Mißverständnisses hat sich Herder also nicht als Materialist bezeichnet, obwohl die Methode seiner Kritik Kants durch und durch den Geist des Materialismus atmet. Um die prinzipiellen Gegensätze zu zeigen, müssen wir vor allem Herders philosophisches Hauptwerk betrachten, die „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft".

Der Apriorismus Kants und die Kritik Herders

Kants Philosophie trug einen zwiespältigen Charakter. Obwohl Kant die Existenz der Außenwelt nicht negierte, ging er doch bei der Darstellung seiner Philosophie von idealistischen Voraus­setzungen aus. In seiner „Kritik der reinen Vernunft" versuchte er die menschlichen Denkgesetze so darzustellen, wie sie ohne Rück­sicht auf die äußere Natur erscheinen. Er versuchte also, jene Denk-gesetze ausfindig zu machen, die dem Menschen unabhängig von den äußeren Erfahrungen imiewohnen, und alle diese Denkgesetze faßte er unter der Bezeichnung des Apriori zusammen. Nach Kants Meinung haben es erst die aprioristischen Elemente des mensch­lichen Denkens dem Menschen überhaupt ermöglicht, die äußere Natur zu erfassen. Im Kopfe sind bereits die grundlegenden Ge­setze des Denkens vorhanden, bevor noch der Mensch sein Denken auf irgendeine äußere Erfahrung bezieht. So sind für Kant die Begriffe von Zeit und Raum Formen des Denkens, die den Menschen vor joder äußeren Erfahrung anhaften und ohne die er überhaupt nicht fähig ist, irgendwelche Erfahrungen der Außenwelt in sich aufzunehmen. Neben diesen „Anschauungsformen" anerkennt Kant eine bestimmte Anzahl formeller Denkgesetze, eine Reihe von logischen Begriffen als „Kategorien a priori", die dem Menschen vor jeder äußeren Erfahrung anhaften. Die ganze Mathematik ist nach Kant nicht empirisch abgeleitet, sondern eine solche Kon­struktion a priori. So erklärt er, daß schon der reine Begriff der reinen Mathematik „es mit sich bringt, daß sie nicht empirische, sondern hloß reine Erkenntnis a priori enthalte". Dieses System des Apriorismus ist der rein idealistische Ausgangspunkt der kri­tischen Philosophie Kants. Auch wenn Kant die Existenz der Außenwelt nicht leugnet, merkt man, wie klein der Sprung ist bis zum Solipsismus eines Fichte. Denn wenn wir die äußere Natur nur auf Grund der menschlichen Denkgesetze von Raum und Zeit und einer Reihe anderer formeller Denkgesetze zu erfassen im­stande sind, so kann es sich zum Schluß sehr leicht herausstellen, daß die ganze äußere Natur nur ein Produkt des menschlichen Denkens ist. Wir verstehen also, wenn Herder den kantischen Be­griff des Raumes ablehnte, sehr gut, was er in der „Metakritik" mit den folgenden Ausführungen gemeint hat:

„Die kritische Schlußerinnerung, ,daß überhaupt nichts, was im Räume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre', zeigt, wozu diese ganze Transzendental-dich tu ng ersonnen worden. Sie soll nämlich den Beutel mit dein Gelde, den Raum mit allen seinen Gegenständen unter dem Vorwande ih uns spielen, daß der Beutel nur eine An­schauung und die Dinge in ihm nicht Sachen, sondern nur durch den Beutel veranlaßte Erscheinungen, mithin Vorstel­lungen seien, die uns zugehören."

Man sieht also an dieser Widerlegung des kantischen Raum­begrifTes, daß Herder in seiner Kritik gerade auf den Punkt der kantischen Philosophie losgesteuert ist, der ihre ganze Schwäche offenbart.

Der Ausgangspunkt für Herders Polemik gegen die „Kritik der reinen Vernunft" beginnt schon beim Titel des Kantischen Buches. Er wirft die Frage auf, daß die „Kritik der reinen Vernunft", wie sie Kant durchführen will, von vornherein eine fragwürdige An­gelegenheit sein muß:

„Erstlich: von keiner als der menschlichen Vernunft ist hier die Rede. Wir kennen keine andere, besitzen keine andere; in der menschlichen Vernunft eine höhere, allgemeinere als die Menschenvernunft richten, hieße, die Vernunft selbst transzen-dieren. Zweitens: Menschliche Vernunft können wir zwar in Gedanken und Worten zu einem gewissen Zweck von anderen Kräften unserer Natur sondern; nie aber müssen wir vergessen, daß sie in ihr abgesondert von andern Kräften nicht subsi-stiere."

Herder lehnt also schon die Fragestellung der Kantischen Philo­sophie als falsch ab. In der Kritik des Kantischen Buchtitels rollt er die Frage auf, ob die menschliche Vernunft überhaupt losgelöst werden könne von der gesamten menschlichen Natur, ob man bei ihrer Untersuchung absehen könne von den Einwirkungen der Natur und des menschlichen Organismus. Das heißt also, daß Herder die Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft sowohl vom menschlichen Organismus als auch von der äußeren Natur be­stritten hat, und wenn diese Voraussetzung einer für sich bestehen­den menschlichen Vernunft gefallen ist, müssen damit auch alle weiteren Konsequenzen der Kantischen Philosophie fallen.

Im weiteren Verlauf geht dann Herder auch auf die Frage Kants ein, ob eine Erkenntnis a priori möglich ist. Kant hat diese Erkenntnis a priori abgeleitet aus spitzfindigen Untersuchungen über den Unterschied von analytischen und synthetischen Urteilen. Von diesem Punkte ausgehend, wollte er ein „Organon der reinen Vernunft" schaffen, über dessen Charakter er bemerkt:

„Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft sei, daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten, oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei."

Herder stellt von dieser Darlegung ausgehend die Frage, ob eine Erkenntnis a priori überhaupt möglich ist. Dieser Punkt wird von ihm unbedingt verneint. Während Kant seine Philosophie auf dem Salze aufbaut: „Wenngleich alle unsere Erkenntnis mit der Er­fahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus Erfahrung", so antwortet ihm Herder:

„Sich von sich selbst unabhängig zu machen, d. i. aus aller ursprünglichen inneren und äußeren Erfahrung sich hinauszu­setzen, von allem Empirischen frei über sich selbst sich hin­auszudenken, vermag niemand. Das wäre ein prius vor allem a priori. Damit hörte, ehe sie anfing, die Menschenvernunft auf."

Ebenso wie Herder den Ausgangspunkt der Kantischen Philo­sophie, die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori bestreitet, ebenso bestreitet er auch die ersten Pfeiler dieses aprioristischen Systems, die Formulierungen Kants über Raum und Zeit. Kant erklärt, daß Raum und Zeit keine empirischen Begriffe, sondern daß sie not­wendige Vorstellungen a priori sind, ..die allen äußeren Anschau­ungen zugrunde liegen".

Es ist interessant, zu untersuchen, in welcher Weise Herder diese Konstruktion Kants im luftleeren Räume widerlegt hat. Er hätte zweifellos diese Auffassungen wiederum durch logische Ableitungen widerlegen können, aber er hat diesen Weg nicht gewählt. Seine Methode bestand darin, zu zeigen, wie die Begriffe von Raum und Zeit genetisch im menschlichen Verstände entstehen, und es kam ihm darauf an, diese Begriffe nicht bloß logisch, sondern in ihrer Entwicklung zu analysieren. Diese Methode zeigt, daß Herder gegen Kant nicht bloß den Standpunkt eines mechanischen Matelialismus vertreten hat, sondern daß er bereits versuchte, sein philosophisches System dialektisch zu begründen. Für Herder lag das Schwergewicht nicht bloß in der Existenz der äußeren Welt, sondern auch in ihrer Entwicklung. Von diesem Gesichtspunkt aus erklärte er auch die erste der Kantischen „Anschauungsformen'", den Raum:

Wir sind, und zwar mit andern; das, wo wir sind, hängt unserm Dasein an, ebenso als das Wohl derer, die nicht wir sind. Dies Wo heißt Ort unseres Daseins. Wir nehmen ihn ein, d. i., ein anderes kann in diesem Augenblick nicht sein, wo wir sind. Unser Sein ist umgrenzt, und wo wir nicht sind, können andere sein. Dies verneinende Wo nennen wir Raum. Es ist Raum für andere da, sie können darin ihren Ort haben ... Sofern ist Raum bloß ein ErfahrungsbegrifT, ver anlaßt von der Empfindung, daß ich weder das All noch allenthalben bin, daß ich im Universum nur einen Ort ein nehme... Das Kind kommt auf die Welt in einen Raum, wo nicht nur außer und neben ihm viele andere da sind, sondern wo es auch Anlaß findet, mit seinen Kräften Raum um sich zu machen. Denn ba'd lernt es die Grenze, jenseits welcher es nicht ist, aber sein kann, munter überschreiten. Bewegung überschreitet sie. Mittels ihrer lernen wir also den Raum messen, verändern, überwinden, zuletzt unsern Ort finden."

Von der kindlichen Erfahrungswelt ausgehend, kommt also Herder auf dialektischem Wege zu der Erklärung, wie der Raum begriff im Menschen entstellt. Wo sich Herder von dem üblichen Materialismus unterscheidet, nimmt seine Auffassung dialektischen Charakter an, denn er betrachtet die ganze Welt nicht als ein starres Svstem, sondern als in ewiger Bewegung befindlich, und deshalb ist für ihn auch der menschliche Raiimbogriff ein Produkt der Be­wegung.

Noch deutlicher tritt dieses dialektische Denken bei der Ab­leitung des Zeitbegriffes durch Herder hervor. Der ZeitbegrifT ist nach Herder das Resultat der Beobachtung der Veränderungen in der äußeren Natur und könnte ohne diese Veränderungen in der äußeren Natur nicht entstehen. So lehnte er auch den Gedanken Kants ab, daß die Zeit eine notwendige Vorstellung a priori ist und erklärt die Zeit folgendermaßen:

Die Zeit ist allerdings ein Erfahrungsbegriff vom Lauf der Begebenheiten, von der Folge der Veränderungen um, in und an uns sehr langsam abgezogen, d. i. vom Verstände bemerkt. Die Zeit ist keine notwendige Vorstellung, die allen Anschau­ungen zugrunde läge. Fällt alles Veränderliche weg, so ist auch das Maß der Veränderungen, die Zeit, verschwunden."

Nachdem Herder so die Grundpfeiler der Kantischen Auf­fassung widerlegt hat, rollt er die Frage positiv auf. Er versucht nun im Gegensatz zu Kant darzulegen, woher die menschliche Er­kenntnis entspringt und in welchem Zusammenhang sie mit der Erfahrung steht. Geht Kant bei seinen philosophischen Konstruk­tionen von der menschlichen Vernunft aus, so geht Herder von dem entgegengesetzten Gesichtspunkt an die Dinge heran:

Sein ist der Grund aller Erkenntnis. Wo nichts ist, er­kennt nichts und wird nichts erkannt; darüber kann nicht philosophiert werden. Nichts ist ein Unbegriff; selbst das Wort wäre nicht da, wenn man nicht mit ihm ein Etwas (Ichts) wegräumte. Sein ist also auch der Grundbegriff der Vernunft und ihres Abdrucks, der menschlichen Sprache. Keine Wahr­nehmung, kein Begriff in ihr, er betreffe Sache oder Be­schaffenheit, Zeit und Ort, Tun oder Leiden, kann gedacht werden, ohne daS ihm ein Sein zugrunde liege."

Das menschliche Denken ist also bei Herder durch das äußere Sein streng bedingt. Aus der objektiven Außenwelt entspringen dann auch logisch alle anderen Begriffe, wie Raum und Zeit. „Da­sein gibt den Begriff des Orts, dieser den Begriff mehrerer, vieler, unzähliger Orte, also des Raumes." Aus dem Begriff des Ortes folgt dann der Begriff der Zeit:

Etwas, was da ist, d.i. seinen Ort mit Kraft einnimmt, kann ihn auch ändern; durch eine größere Kraft von demselben vertrieben, oder durch eigene innere Kraft geregt, kann es ihn verlassen und einem andern räumen. Dies geschieht durch Bewegung, eine Wirkung der Kraft im Räume... Am Be­griffe der Fortdauer in einem Orte sowie des Fortrückens an einen andern Ort durch Kräfte entspringt der Begriff der Zeit als ihre Bezeichnung. Nichts Totes gab ihn, auch die Er­scheinung als Erscheinung nicht, sondern was die Fortdauer oder die Veränderung bewirkt, Kräfte."

Hier haben wir also die zwei Hauptglieder und Knotenpunkte der Herderschen Philosophie. Die äußere Erfahrungswelt existiert und ist nicht ein Produkt des menschlichen Denkens. Der zweite Punkt: diese äußere Erfahrungswelt ist aber nicht eine feststehende Erscheinung, sondern eine veränderliche Größe. Sie verändert, sie entwickelt sich und wird dabei durch bestimmte Naturkräfte ge­trieben. Sein und Kraft sind also die zwei Grundpfeiler der Herder­schen Philosophie, aus denen die Begrilfe von Raum und Zeit ent­stehen. Dieser äußeren Erfahrungswelt entsprechen im mensch­lichen Bewußtsein der Gesichtssinn, der das Nebeneinander im Räume, das Gehör, welches das Nacheinander in der Zeit vermittelt und das Gefühl „als Organ des In- und Durcheinander". Man mag vielleicht diese Nebeneinanderstellungen der verschiedenen mensch­lichen Sinne mit den äußeren Erscheinungen als nicht ganz zutref­fend betrachten, aber der wichtige Gegensatz zu Kant ist der, daß Herder alle Funktionen des menschlichen Denkens aus der mate­riellen Umwelt und ihrer Fortentwicklung ableitet.

In diesen Fragen finden wir die Wurzel des Gegensatzes von Kant und Herder. Wie treffend, wenn Herder aus dieser Unter­suchung die Feststellung ableitet, daß das System Kants letzten Endes zum reinen Idealismus, zur Philosophie Berkelevs zurück­führt, gegen den zu kämpfen Kant vorgab.

Wir wollen nur noch sehen, wie Herder, nachdem er die apri-oristische Methode des Kantianismus widerlegt hat, nun auch dessen zweite grundlegende philosophische Konstruktion, das „Ding an sich", kritisiert. Kant leugnet nicht die Existenz der äußeren Dinge und leitet diese auch nicht aus dem Verstände ab. Er stellt fest, „daß alles, was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen, das habe er dennoch zu keinem andern Behuf als lediglich zum Erfahrungsgebrauch" Auf diese Ausfüh­rungen antwortet Herder:

„Hat der Verstand aus sich geschöpft, ohne von der Er­fahrung zu borgen, und konnte zu keinem andern Behuf schöpfen als lediglich zum Erfahrungsgebrauch, so lasset ihn auch aus der Erfahrung schöpfen und zu seinem eigenen Behuf von sich selbst borgen; beides läuft auf eins hinaus."

Wenn Kant erklärt, daß die Gesetze des menschlichen Denkens die Voraussetzung der äußeren Erfahrungen sind, wenn er dazu ein ganzes System von Kategorien des Denkens aufstellt, so antwortet Herder hier wieder:

„Ohne Denken und ohne Gegenstand gibts keine Anschau­ung. Und was hieße es, eine gegenstandslose Anschauung auf den Gegenstand beziehen? Wie es ohne Gegenstände keine Anschauungsformen gab, so gibt es auch ohne sie keine Gedan­kenformen."

Von seinen gedanklichen Konstruktionen also steigt Kant zum Ding an sich, zur äußeren Welt, herab. Und da für ihn die Grenzen der menschlichen Vernunft etwas Feststehendes sind, da er unab­änderliche Denkformen aufgestellt hat, ist der Mensch seiner Auf­fassung nach auch nicht fähig, die Natur zu erkennen, sondern er faßt die äußeren Dinge nur in dem Rahmen auf, der durch diese inneren Denkgesetze begrenzt wird. Die menschliche Vernunft hat also bei Kant Grenzen, die durch ihre Denkgesetze bestimmt sind und die es daher unmöglich machen, das Ding an sich, die äußere ' Welt, so zu erkennen, wie sie wirklich ist. Der menschliche Geist kann nur bestimmte Aeußerungen des Dings an sich, der äußern Erfahrungswelt, aulfassen, niemals aber das Ding an sich. Diese falsche Fragestellung entspringt daraus, daß bei Kant nicht die äußere Welt das Primäre ist, sondern die Vernunft. Herder dagegen, der die Existenz der Außenwelt anerkennt und dabei auch betont, daß unser Denken von den Eindrücken der Außenwelt abhängig ist, verspottet diesen Gedanken Kants in direkt grausamer Weise:

„Löset z. B. dieses Zwiebelgewächs Schale nach Schale auf; du erwartest das Ding an sich, die wahre Zwiebel und verlangst vielleicht gar neue Sinne, sie zu betasten, zu beäugen. Würden sie dir, du fordertest neue Sinne, um im neugefundenen Kern den Kern, den Keim, die Substanz oder wie du es sonst nennen willst, zu finden; und was fändest du an ihr? Kraft, die das Ganze konstituiert, die in allen Teilen und Gliedern lebt, läßt sich weder betasten noch beäugen."

So löst sich auch Kants Vorstellung von der Unerkennbarkeit des Dings an sich auf. Damit sind die idealistischen Schemen der Kanti­schen Philosophie aufgelöst, die Herder in seinem Buche bis in den letzten Schlupfwinkel hinein verfolgt und ihres idealistischen Scheines beraubt.

Die geschichtliche Bedeutung der Auseinandersetzung Kant -Herder

Nachdem wir die wesentlichen philosophischen Gegensätze zwi­schen Kant und Herder kennengelernt haben, müssen wir diese Aus­einandersetzung, zweifellos eine der bedeutsamsten Auseinander­setzung der modernen Philosophie überhaupt, an ihren geschicht­lichen Platz einreihen. Karl Marx hat die Kantische Philosophie in Deutschland mit Recht als die ideologische Widerspiegelung der großen französischen Revolution bezeichnet: aber dieses Spiegelbild verhält sich zum Original so, wie die Entwicklung des Bürgertums in Deutschland zur Entwicklung des Bürgertums in Frankreich. Kants Philosophie zeigt die Verkrüppelung der revolutionären Ideen auf dem „klassischen" deutschen Boden, auf dem die Vorbedingun­gen der bürgerlichen Revolution noch nicht herangereift waren. Das Spiegelbild der französischen Revolution in Deutschland war eine Revolution der Ideologie, die die wirkliche Welt auf den Kopf stellte und an die Stelle der Wirklichkeit die Herrschaft des Ge­dankens setzte. Herder dagegen war der wirkliche Revolutionär, der sich von der Beschränktheit des deutschen Lebens zu befreien wußte, der in unermüdlichen geschichtlichen und philosophischen Studien sich den gesamten Inhalt der Geschichte der Menschheit, alle Resultate der Naturwissenschaft und der Gesellschaftswissenschaft bis zum 18. lahrhundert aneignete, der die Literaturen aller Völker, ihre Geschichte und ihre Entwicklung studierte und dadurch einen Gesichtskreis erhielt, der ihm zur Ueberwindung der Enge der deutschen Verhältnisse verhalf. Blieb Kant in deutschem Boden stecken, umfaßte Herder geistig die ganze Welt und konnte sich daher über den engen Gesichtskreis des deutschen Lebens seiner Zeit erheben.

Herder, der geschulte Natur- und Geschichtsforscher, erhielt durch das Studium der Geschichte einen so weiten Gesichtskreis, daß er den Bruch mit der deutschen Ideologie schon fünfzig Jahre vor Feuerbach und Marx vollziehen konnte, daß er der deutschen Philo­sophie bereits ein System entgegenstellen konnte, das sich auf den wichtigsten Elementen der dialektischen Methode aufbaute. Gleich­zeitig wurde Herder zu einem bewußten Revolutionär, weil er aus dem Studium der Geschichte und Naturwissenschaft die Erkenntnis schöpfte, daß die Entwicklung der Natur, ebenso wie die Entwick­lung der menschlichen Gesellschaft, fortgesetzt in einem Prozeß der revolutionären Umwandlung verläuft.

Die Geschichte hat den Streit zwischen Herder und Kant zu gunsten des zweiten entschieden. Herder war wohl Kant gegenüber weit voraus, aber er war seiner Zeit so weit voraus, daß diese gar nicht mitkonnte. Seine Ideen fielen auf einen unfruchtbaren Boden und die klassische deutsche Philosophie trug schließlich den Sieg über die materialistische Philosophie Herders davon. Zweifellos trugen beide philosophische Systeme, sowohl das System Kants als auch das Herders, den Charakter der bürgerlichen Revolution. Beide bereiteten der Dialektik den Boden vor und suchten die Gesetz mäßigkeit der Natur und der menschlichen Entwicklung zu ent­decken. Während aber bei Herder die Gesetze der Natur und der Geschichte als wirkliche Gesetze der materiellen Entwicklung be­trachtet werden, hat Kant an die Stelle der Naturgesetze Denk­gesetze des menschlichen Geistes gesetzt, die der Natur ihre Gesetz­mäßigkeit vorschreiben. Kants Dialektik entsprach wohl besser der Entwicklungsstufe des deutschen Geisteslebens, aber Herders Dia­lektik kam der Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse näher.

Es verlohnt, wenigstens in kurzer Form die Entwicklungslinie zu zeichnen, aus der am Ende des 18. Jahrhunderts die Herdersche Philosophie in Deutschland entstanden ist. Zwischen seinem Leben und seiner Ideologie scheint ein Zwiespalt zu existieren, denn Her­der, der in gewissem Sinne1 die Gesetze der materialistischen Dialek­tik, wenn auch noch in einer primitiven Form, aufgefunden hat, war Geistlicher. Aber dieser Widerspruch löst sich, wenn man auch die religionsphilosophischen Auffassungen Herders in Betracht zieht. Herder versuchte die Grundbegriffe der Beligion in sein dialek­tisches System einzureihen, er versuchte, wie es auch schon Lessing getan hatte, die Religion geschichtlich zu erklären, im Gegensatz etwa zur französischen Aufklärungsphilosophie, insbesondere Vol­taire, der, statt die Religion geschichtlich zu erklären, diese als un­sinnigen Priesterbetrug dargestellt hat.

Sowohl Herder als auch Lessing gingen in ihrer Auffassung der Religion auf Spinoza zurück. Der große Jude von Amsterdam hat in seinem „Theologisch-politischen Traktak" die Frage der Religion so aulgerollt, daß Gott sich nicht in Wundern offenbaren könne, die die Gesetzmäßigkeit der Naturentwicklung über den Haufen werfen, sondern daß sich Gott gerade in der Gesetzmäßigkeit aller Naturerscheinungen äußere. Spinoza hat, auch wenn seine Lehre in konsequenter Fortführung zum Atheismus führen muß, den Gottcs-begriff noch nicht fallen gelassen, und auch Herder hat im Sinne Spinozas den Gottesbegriff aufrecht erhalten, wobei aber, ebenso wie bei seinem Lehrer, der Begriff von Gott und Natur zu einer voll­ständigen Einheit verschmolzen sind. So bestimmt die Philosophie Spinozas den Ausgangspunkt der dialektischen Natur- und Ge­schichtsauffassung Herders, aber dieser ist über seinen Lehrer hinausgewachsen, indem er, ausgerüstet mit den umfassendsten Kenntnissen von Natur und Gesellschalt, die Wirksamkeit der Natur gesetze in der gesamten Menschheitsgeschichte nachzuweisen be­strebt war. Ueber Spinoza hinausgehend, hat Herder auch die Fra­gen der gesellschaftlichen und politischen Revolution auf die Tages­ordnung gestellt und ist in der Vollendung seiner dialektischen Me­thode bis zum Gedanken der Auflösung des Staates vorgedrungen.

Den Entwicklungsweg Herders lernen wir verstehen, wenn wir auch seine enge Verbindung mit Goethe hier erwähnen. Goethe hat wohl in späteren Jahren den Kampf Herders gegen Kant nicht mit­gemacht, ja sogar abgelehnt, aber nicht etwa, weil er sich zum Kantianer gewandelt hatte, sondern weil er keine so entschlossene Kampfnatur war wie der Freund seiner Jugend. Alle Versuche, Goethes Zurückhaltung aus seiner Bekehrung zum Kantianismus zu erklären, sind gescheitert. Die Beweise einiger Neukantianer, daß auch Goethe in seinen späteren Jahren Spinoza preisgab und das Heerlager der Kantianer vermehrte, haben sich als unhaltbar er­wiesen. Goethes philosophisches Glaubensbekenntnis finden wir so­wohl in seinen nfturwissenschaftlichen Schriften, in denen er die Gesetzmäßigkeit der Naturentwicklung auf die beiden Gesetze der Polarität und der Steigerung zurückführt, als auch in einigen Ge­dichten, denen er die Ueberschrift „Gott und Welt" gegeben hat. klar ausgedrückt. Hier wollen wir in erster Reihe Goethes Streit mit dem Naturwissenschaftler Haller erwähnen, der behauptet hatte, daß es dem Menschen unmöglich sei, ins Innere der Natur einzu­dringen und die Natur wirklich zu erkennen. Zur Antwort auf diese Auffassung schrieb Goethe das Gedicht „Allerdings! Dem Physiker".

„Ins Innere der Natur,"
O du Philister!
„Dringt kein erschaffner Geist;"
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern.
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.

„Glückselig, wem sie nur
Die äußre Schale weist."
Das hör ich sechzig Jahre wiederholen
Und fluche drauf,
Aber verstohlen.
Sage mir tausend-tausendmale:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.

Wenngleich Goethe in diesem Gedichte Haller aufs Korn nimmt, kann man bei einiger Kenntnis Goethes behaupten: Den Sack schlägt er, und der. Esel meint er. Denn die Argumente, die hier gegen Haller angeführt werden, treffen auch die Kantische Philo­sophie, besonders die Ansichten über die Unerkennbarkeit des Dinges an sich. In Uebereinstimmung mit Herder betont Goethe die Auffassung, daß der Mensch und der menschliche Geist der Natur nicht gegenübergestellt werden können, daß sie vielmehr als Teile der Natur den Naturgesetzen streng unterworfen sind. In einem andern Gedicht „Epirrhema" drückt Goethe ähnliche Ge­danken aus:

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.

Auch in diesem Gedichte finden wir den Grundgedanken dieser fortentwickelten Philosophie des Spinozismus* Das menschliche Denken ist nur ein Abbild der äußeren Natur.

Mit dem Hinweis auf Spinoza können wir aber die Geschichte der Herderschen Philosophie keinesfalls begrenzen. Es ist hier vor allem auch der Nachweis zu führen, daß Herder mit seinen Auf­fassungen an die gesamten revolutionären Traditionen der vorher­gehenden Periode anknüpft. Ein großer Teil seiner Lebensarbeit war der Aufgabe gewidmet, die Erinnerung an verschiedene revolu­tionäre Vorkämpfer der Vergangenheit, die bewußt oder unbewußt ignoriert wurden, wieder aufzufrischen. Genau so, wie sich Herder für den als Atheisten verschrienen Spinoza einsetzte, genau so hat er sich auch für eine Reihe anderer revolutionärer Denker einge­setzt. Wir wollen hier nur einige erwähnen, die auch die Beziehun­gen Herders zum Sozialismus beleuchten. Eine seiner Arbeiten war die Uebersetzung der Gedichte von Valerian Andrea, der in Deutsch­land der einzige Utopist gewesen ist und, ähnlich Thomas Morus und Campanella in seiner „Christianopolis" (Christenstadt), eine utopische Gesellschaftsschilderung, entworfen hat. Freilich hat Her­ders „Rettung" keinen Erfolg gehabt, denn die bürgerliche Wissen­schaft hat es trotz des mehrfachen Hinweises von Herder nicht für nötig befunden, sich mit Andrea, dem einzigen deutschen Utopisten, zu beschäftigen. Nicht minder interessant ist es auch, daß Herder eine Anzahl von Gedichten von Campanella ins Deutsche übersetzt hat, den er sehr hoch einschätzte. Indessen scheint Herder noch direktere Beziehungen zur Gedankenwelt des Sozialismus gehabt zu haben, der im 18. Jahrhundert einen gewissen Einfluß vor allem durch die sozialistischen Theorien von Mably und Marellv erlangte. Herders Biograph, Haym, erwähnt, daß ein unmittelbarer Freund Herders in Weimar, der Freiherr von Einsiedel, zur selben Zeit, wo Herder an seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte' schrieb, sich mit sozialistischen Theorien beschäftigte und aus der Entwick­lung der Naturwissenschaften den Schluß ableitete, daß mit der zu­nehmenden Beherrschung der Natur die menschliche Gesellschaft schließlich einen Zustand vollständiger ökonomischer Gleichheit er­reichen würde. Sowohl die Religion als auch der Staat wurden von Einsiedel als vollständig nutzlos für die menschliche Gesellschaft abgelehnt. Da Einsiedel in der Zeit der Abfassung der Ideen zur Philosophie der Geschichte in engster Beziehung zu Herder gestan­den hat, können wir nicht zweifeln, daß seine Theorien, insbeson­dere seine Staatsauffassung, einen sehr starken Einfluß auf Herder ausgeübt haben. Noch an einer andern revolutionären Bewegung dieser Zeit scheint Herder beteiligt gewesen zu sein. In den sieb­ziger und achtziger Jahren entwickelte sich in Bayern die auf­klärerische Sekte der Illuminaten, eine Geheimorganisation mit einem ähnlichen Charakter wie die Freimaurer. Verschiedene Ge­schichtsforscher führen an, daß das Ziel dieser Gesellschaft in der Herbeiführung einer solchen Gesellschaftsordnung bestanden habe, in der sich die Regierungen allmählich auflösen. Es wird erwähnt, daß neben andern hervorragenden Zeitgenossen auch Goethe und Herder Mitglieder dieser Gesellschaft waren, die schließlich den Persekutionen der bayrischen Regierung zum Opfer gefallen ist.

Zweifellos wird es Aufgabe der marxistischen Forschung sein, diese Zusammenhänge noch eingehender zu prüfen, aber vorläufig genügen diese Hinweise, um uns den revolutionären Charakter der Herderschen Geschichtsauffassung verständlich zu machen. Nach­dem wir nun ihre philosophische Begründung aus der Kampfschrift gegen Kant kennengelernt haben, können wir dazu übergehen, Her­ders Hauptwerk, die „Ideen zur Philosophie der Geschichte" zu behandeln, worin Herder ein umfassendes Bild seiner gesamten Ge­sellschaftsauffassung niedergelegt hat. In vier Teile mit zwanzig Büchern eingeteilt, ist dieses Werk sowohl eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft wie auch eine theoretische Analyse der treibenden Kräfte der Natur- und Geschichtsentwicklung.

Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Herder geht in seiner Philosophie der Geschichte aus von der Entwicklung der Natur. Schon der Aufbau seines Werkes zeigt, daß er den Gedanken der fortschreitenden Entwicklung und Verände­rung der Natur und Gesellschaft bis zur letzten Konsequenz zu begründen versuchte. Da die menschliche Gesellschaft nach Her­ders Auffassung Produkt ihrer äußeren Umgebung ist, wird zu­nächst diese äußere Umgebung, die Erde und ihre Entstehung, dar­gestellt. Im ersten Buche seines Werkes stellt Herder die Erde dar und behandelt die verschiedenen Revolutionen, durch die die Erde durchgegangen ist.

Die Erde ist das breite Feld der menschlichen Tätigkeit. Der Mensch, ein Produkt der Erde, muß daher in seiner ganzen Ent­wicklung in erster Reihe aus der Entwicklung der Erde selbst er­klärt werden: „Unser Verstand ist ein Verstand der Erde; unsere Sinnlichkeit, die uns hier umgibt, allmählich gebildet; so ist's auch mit den Trieben und Neigungen unseres Herzens." Darum ist also für Herder der Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte die Ge­schichte der Erde selbst und im weiteren Verlauf die Geschichte der organischen Natur, die sich allmählich auf der Erde entwickelt. Aus der unbelebten Natur hoben sich die Pflanzen hervor als erste Lebewesen. Bevor es Pflanzen gab, konnten sich keine Tiere ent­wickeln. Vom Pflanzenreich fand ein langsamer Uebergang zum Tierreich statt. Schon Herder hat Uebergangsgeschöpfe zwischen beiden, die fleischfressenden Pflanzen, erwähnt. Innerhalb des Tier: reiches vollzieht sich dann auch eine langsame Entwicklung, die immer weiter hinaufführt, bis schließlich mit dem Menschen der Gipfel der tierischen Organisation erreicht ist. Bevor das Tierreich sich entwickelt hatte, konnte auch der Mensch nicht entstehen.

Es handelt sich nun darum, festzustellen, ob Herder rein empi­risch eine ständig höhere Entwicklung feststellt, oder ob er aus die­sen seinen Feststellungen bestimmte Schlüsse bezüglich der Natur-und Geschichtsentwicklung ableitet. Die Grundfrage der Dialektik: wie vollzieht sich die Entwicklung, ist auch die Grundfrage der Her­derschen Geschichtsphilosophie.

Die treibende Kraft der Entwicklung

Als treibende Kräfte der Entwicklung betrachtet Herder die Naturkräfte, die, in einer bestimmten Gesetzmäßigkeit wirkend, zur Bildung immer höherer Organismen führen, so daß Pflanzen, Tiere, Menschen nicht eine zufällig entstandene Reihe der Entwicklung sind, sondern mit Notwendigkeit sich auseinander entwickeln muß­ten. Die Natur, die bei Herder keine tote Materie ist, ist nichts als ein ununterbrochenes Werden, wobei aus den niederen Formen immer höhere Formen hervorgehen. „Aller Zusammenhang der Kräfte und Formen ist weder Rückgang noch Stillstand, sondern Fortschritt."

Wie vollzieht sich nun dieser Fortschritt? Herder erklärt ihn aus den in der Natur wirksamen Kräften, die er in zwei Kategorien, in aufbauende und zerstörende, einteilt. Aus dem Aufeinander­wirken verschiedener Naturkräfte ergibt sich die Entwicklung, die ohne wirkende Kräfte undenkbar wäre. Die Entwicklung ist mithin kein abstraktes Gesetz, sondern sie resultiert aus der Wirksamkeit aufeinanderstoßender Naturkräfte, sie ist das Produkt eines be­stimmten Antagonismus dieser Kräfte. Soweit wäre nichts einzuwenden. Aber es erhebt sich die Frage, wieso aus dem Kampf antagonistischer Kräfte eine ständige Höherentwicklung abgeleitet werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage reichte Herders Ein­sicht nicht aus. Er konstatierte einfach, daß die aufbauenden Kräfte in der Natur die zerstörenden überwiegen, so daß das Ergebnis des Kampfes zwischen diesen Kräften eine stete Höherentwicklung sein müsse.

Heute ist es uns durchaus verständlich, daß Herder in der Ent­wicklung seiner Dialektik nur bis zu einem bestimmten Punkte vor­dringen konnte. Den Antagonismus in der Entwicklung hat er ge­sehen und klar erkannt. Aber er konnte diese Dialektik nicht bis zu Ende entwickeln. Und so sehen wir, wie er von einer kausalen zu einer teleologischen Erklärung der Entwicklung hinüberspringt, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Einerseits konstatiert er, daß die Natur und die menschliche Gesellschaft Produkte einer kausalen Entwicklung sind, anderseits kommt er zum Resultat, daß sich im Fortschritt der Gesellschaft ein bestimmter göttlicher „Plan" auswirkt.

Die Natur (respektive Gott) habe einen bestimmten geschicht­lichen Plan, welcher bewirkt, daß die menschliche Gesellschaft einem höheren Zustande zustrebt, den Herder als den Zustand der "Humanität" bezeichnet. „Der Mensch ist zur Humanität gebildet", lautet einer seiner Glaubenssätze. So finden wir bei Herder eine eigenartige Vermengung einer streng kausalen und einer teleologi­schen Geschichtsbetrachtung. Diesen Widerspruch können wir uns leicht erklären: Herder als kämpfender Revolutionär strebt nach der Abänderung der bestehenden Ordnung, sein Ideal war politisch der Aufbau einer staatenlosen Gesellschaft. Aber der Weg zu dieser idealen Gesellschaftsordnung, die Herder vorschwebt, ließ sich noch nicht kausal aus den im 18. Jahrhundert vorhandenen Bedingungen erklären, und Herder mußte daher die geschichtlich notwendigen Lücken seiner revolutionären Geschichtsauffassung durch teleolo-gische Betrachtungen stopfen. So ist für ihn die Humanität bald ein notwendiges Produkt der Entwicklung, bald ein Ziel, zu dem die Natur die Anlage schon in den Menschen gelegt hat.

Die zweite Frage, an der wir prüfen können, ob Herder tatsäch­lich die Elemente des dialektischen Materialismus vorbildete, ist seine Einstellung zur Frage der Revolution. Die Frage, ob die Widersprüche der Entwicklung- auf dein Wege einer allmählichen Ent­wicklung oder auf dem Wege der Revolution gelöst werden können, ist vom Gesichtspunkt des dialektischen Materialismus eine Ent­scheidungsfrage. Auch diese zweite Frage hat Herder positiv im Sinne der Revolution beantwortet. Die ganze Geschichte der Erde ist in seiner Darstellung die Geschichte von Revolutionen, durch die sich zunächst die Erde selbst, dann später die Lebewesen gebildet haben. Die Dialektik der Revolution ergibt sich aus dem Gegensatz der aufbauenden und zerstörenden Kräfte bei Herder mit Notwendig­keit. Die Zerstörung ist ein notwendiges Element des Aufbaus. Damit sich höhere Formen entwickeln, müssen niedere Formen zer­stört werden, aber trotz dieser Zerstörung geht keine Kraft unter: „Keine Kraft geht unter. Denn was hieße es: eine Kraft geht unter?" Wie Herder dialektisch die Gedanken von Aufbau und Zerstörung verbunden hat, zeigen schon seine naturwissenschaftlichen Betrach­tungen:

Über der Pflanze steht das Tier und zehrt von ihren Säf­ten. Der einzige Elefant ist ein Grab von Millionen Kräutern, aber er ist ein lebendiges, auswirkendes Grab, er animalisiert sie zu Teilen seines Selbst — die neuen Kräfte gehen in feinere Formen des Lebens über. Unter allen Tieren ist das Geschöpf der feinsten Organe, der Mensch, der größte Mörder. Er kann beinahe alles, was an lebendiger Organisation nur nicht zu tief unter ihm steht, in seine Natur verwandeln. Eine jede Zerstö­rung ist Uebergang zum höheren Leben. Das Wachstum eines Geschöpfes, was ist's anderes, als die stete Bemühung desselben, mehr organische Kräfte mit seiner Natur zu verbinden?"

Während für die meisten Deutschen dieses Zeitalters der Ge­danke der Revolution etwas Schreckhaftes hatte, hat Herder also die Revolution in der Natur wie auch in der Gesellschaft als notwen­diges Naturgesetz klargelegt. Ein Beitrag zum Verständnis dessen, wieso er viel konsequenter bis zum letzten Ende an den Gedanken der französischen Revolution festgehalten hat.

Die Entwicklung der Natur

Aus der allgemeinen Entwicklung der Erde greift Herder, immer den Gedanken seiner Dialektik folgend, die Entwicklung der orga nischen Natur heraus, als weitere Vorstufe zur Erklärung der Ent­wicklung der Gesellschaft. In der organischen Natur stellt er die Entwicklung von der Pflanze zum Tier und zum Menschen in einer so klaren Form fest, daß wir hier, achtzig Jahre vor Darwin, nahezu glauben können Darwin zu lesen. Welches sind nun die Haupt­gesetze der Entwicklung der organischen Natur nach Herder? Her­der nennt zwei Grundgesetze, denen alle Lebewesen folgen müssen: das Gesetz der Nahrung und das Gesetz der Fortpflanzung. Der Bau aller Lebewesen ist durch diese zwei Funktionen bestimmt.

„Das erste Merkmal, wodurch unsere Augen das Tier unter­scheiden, ist der Mund. Die Pflanze ist, wenn ich so sagen darf, noch ganz Mund: sie saugt mit Wurzeln, Blättern und Ohren; sobald sich das Geschöpf zum Tier organisiert, wird an ihm, selbst ehe noch ein Haupt unterscheidbar ist, der Mund merk­lich ... Das erste Hauptgesetz also, dem irgendein Trieb eines Lebendigen dient, ist Nahrung."

Wie verhält sich nun der Mensch dazu? Als Lebewesen aus dem Tierreich hervorgegangen, ist auch sein erstes Hauptgesetz Nahrung:

 „Stolzer Mensch, blicke auf die erste notdürftige Anlage deiner Mitgeschöpfe zurück; du trägst sie noch mit dir; du bist ein Speisekanal, wie deine niedrigen Brüder."

Als das zweite Hauplgesetz der organischen Natur erscheint bei Herder das Gesetz der Fortpflanzung. Wie sehr diese Auffassung den Grundgedanken des dialektischen Materialismus entspricht, braucht wohl hier nicht erläutert zu werden.

Ausgehend von den beiden Grundgesetzen der Nahrung und Fortpflanzung kommt Herder zu dem weiteren Resultat, daß die Entwicklung der Lebewesen abhängig ist von ihrer Lebensweise. Diese Tatsache zeigt er zunächst im Tierreich und seiner Entwick­lung auf, um dann denselben Gedanken auch auf die Entwick­lung der menschlichen Gesellschaft, zu übertragen. So stellt Herder bezüglich der am Lande lebenden Tiere folgende Aehnlichkeit fest: „Der ähnliche Knochenbau der Landtiere fällt in die Augen, Kopf, Rumpf, Hände und Füße sind überall die Hauptteile." Das Medium, in dem also die einzelnen Tierarten leben, bestimmt ihren ganzen Körperbau; dieser Gedanke ist es, der Herder schließlich zur ver­gleichenden Anatomie führt, die er, als einer der ersten, auch zur Erklärung des Ursprungs des Menschen heranzog.

Hierzu konstatiert er, daß der Mensch durchaus in seinem gan­zen Körperbau übereinstimmt mit den am Lande lebenden Tieren, daß er vielen Tiergattungen tatsächlich viel ähnlicher ist, als es äußerlich scheint.

„Wie manche Tiere, die uns von außen so unähnlich schei­nen, sind uns im Innern, im Knochenbau, in den vornehmsten Lebens- und Empfindungsteilen, ja in den Lebenverrichtungen selbst, auf die auffälligste Weise ähnlich."

So kommt Herder in seinen Betrachtungen immer mehr zu den Resultaten der Darwinschen Theorie, ja er formuliert sogar schon ein Gesetz, das nahezu hundert Jahre später von einem bekannten materialistischen Naturforscher, Ernst Haeckel, funkelnagelneu als „biogenetisches Grundgesetz" formuliert worden ist. Dieses bio­genetische Grundgesetz ist jedoch schon von Herder aus dem Ver­gleich der Anatomie der Tiere und Menschen abgeleitet worden.

„Das Kind im Mutterleib scheint alle Zustände durchgehen zu müssen, die einem Erdengeschöpf zukommen können. Es schwimmt im Wasser; es liegt mit offenem Mund; sein Kiefer ist groß, ehe eine Lippe ihn bedecken kann, die sich nur später bildet" usw.

Der Mensch macht also bei seiner individuellen Entwicklung schon nach der Theorie Herders alle jene Stufen durch, die das ganze Menschengeschlecht in der allgemeinen Naturgeschichte durchmachen mußte.

Von hier bis zum direkten Nachweis der Abstammung des Men­schen aus dem Tierreich ist nur ein Sprung. Einer direkten Ant­wort darauf, ob der Mensch sich aus dem Tierreich entwickelt hat oder ob die Unterschiede zwischen Mensch und Tier von vornherein gegeben sind, weicht Herder aus. Er erklärt dazu, dies sei eine Frage ..historischer Art". Er wolle alle Metaphysik beiseite lassen und sich nur an die Physiologie und Erfahrung halten. So schildert Herder die Unterschiede des Menschen von den Tieren, dabei wohl durchblicken lassend, daß seiner Ansicht nach der Mensch auch vom Tiere abslammt, ohne diesen Gedanken direkt auszusprechen. Daß dies aber Herders wirkliche Meinung war, geht schon aus dem Abschnitt hervor, in dem er die Menschenaffen, speziell den Orang-Utan behandelt, über den er schreibt:

„Der Orang-Utan ist im Innern und Aeußern dem Men­schen ähnlich, sein Gehirn hat die Gestalt des unseren; er hat eine breite Brust, platte Schultern, ein ähnliches Gesicht, einen ähnlich gestalteten Schädel — allerdings muß also auch in seinem Innern, in den Wirkungen seiner Seele etwas Menschen­ähnliches sein, und die Philosophen, die ihn unter die kleinen Kunsttiere erniedrigen wollen, verfehlen, wie mich dünkt, das Mittel der Vergleichung. Der Affe hat keinen determinierten Instinkt mehr; seine Denkungsart steht dicht am Rande der Vernunft, am armen Rande der Nachahmung. Er ahmt alles nach und muß also zu tausend Kombinationen sinnlicher Ideen in seinem Gehirn geschickt sein, deren kein Tier fähig ist."

Mit den Menschenaffen erreicht also nach Herder die Natur jene Grenze, an der der Affe zum Menschen wurde. Diesen Grund­gedanken belegt Herder durch ausführliche anatomische Vergleiche zwischen dem Körperbau des Menschen und des Affen. Begreif­lich, daß er in der Zeit, in der er lebte, seine letzten Grundgedan­ken in dieser Beziehung nicht offen aussprechen konnte. Sie sind ebensowenig zensurfähig gewesen wie seine Auffassung in bezug auf die Staatstheorie.

Der Mensch im Herderschen System und die Gesellschaft

Der Mensch kann nach dieser naturwissenschaftlichen Betrach­tung im Herderschen System nichts weiter sein als ein Naturprodukt. Indem Herder langsam, stufenweise die Entwicklung der Natur bis zur Entwicklung des Menschen verfolgt, hat er auch die Illusion der idealistischen Philosophie zerschlagen, die die mensch­liche Vernunft zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen macht.

Wenn der Mensch selbst nur ein Naturprodukt, kann auch die menschliche Vernunft nichts weiter sein als ein Produkt der Natur, allerdings ein Produkt solcher Art, das den Menschen erst zum Menschen macht und ihn über das Tier hinaushebt. Aber in diesem ganzen System bleibt kein Raum für eine menschliche Vernunft, die der Natur ihre Gesetze vorschreibt. Das menschliche Denken und die menschliche Vernunft als Produkt der Natur müssen auch durch die äußeren Verhältnisse des Menschen bestimmt werden. Der Mensch ist nach Herder „der erste Freigelassene der Natur". Das bedeutet aber noch immer, daß er durch die Verhältnisse der Natur bedingt und bestimmt wird. Anschließend an seine natur­wissenschaftliche Betrachtung erklärt Herder, was die menschliche Vernunft sei:

„Hieraus erhellt, was menschliche Vernunft sei — ein Name, der in den neueren Schriften so oft als ein Angeborenes auto­matisch gebraucht worden und als solches nichts als Miß­deutung gibt. Theoretisch und praktisch ist die Vernunft nichts als etwas Vernommenes. Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht, die Vernunft des Menschen ist menschlich. Sie ist ihm nicht angeboren, sondern er hat sie erlangt!"

Hier ist wieder der Ausgangspunkt, von dem aus Herder zu seinem späteren Kampf gegen Kant getrieben worden ist. Die menschliche Vernunft als Naturprodukt ist eben unfähig, Denk-begriffe a priori zu entwickeln, und deshalb kommt Herder bei sei­ner Betrachtung der menschlichen Geschichte zum Resultat:

„So wenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich selbst entspringt, so wenig ist er im Gebrauch seiner geisti­gen Kräfte ein Selbstgeborener. Nicht nur der Keim unserer inneren Anlagen ist genetisch wie unser körperliches Gebilde, sondern auch jede Entwicklung dieses Keims hängt vom Schicksal ab, das uns hier- oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jahren die Hilfsmittel der Bildung in uns legte. Schon das Auge mußte sehen, das Ohr hören lernen; und wie künstlich das vornehmste Mittel unserer Gedanken, die Sprache, erlangt wird, darf keinem verborgen bleiben .., Hier also liegt das Prinzipium zur Geschichte der Menschheit, ohne welche es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußeren Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich! Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir, beinahe ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Uebung zur Menschheit gebildet werden und sowohl die Per-fektibilität als die Korriipti'bilität unseres Geschlechts hierauf beruht, so wird eben damit auch die Geschichte der Mensch­heit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Glied."

Mit dieser Betrachtung der menschlichen Vernunft ist der Lieber-gang Herders von der individualistischen zur kollektivistischen Auffassung der Geschichte gegeben. Wenn wir in seinen Ideen allge­mein feststellen können, daß er vollständig von dem Prinzip abge­kommen ist, die Geschichte der menschlichen Gesellschaft als die Geschichte einzelner hervorragender Individuen darzustellen, so er­klärt sich diese Abkehr von der individualistischen Geschichts­schreibung vor allem aus seiner kollektivistischen Betrachtungs­weise, die ihn an die Spitze seiner gesamten Geschichtstheorie den Satz stellen ließ: „Der Mensch ist zur Gesellschaft geboren".

Außerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt es nach Herder keine menschliche Entwicklung, und auch das einzelne Individuum ist daher nicht bloß ein Produkt der Natur, sondern noch viel mehr ein Produkt der Gesellschaft.

Die Dialektik der menschlichen Geschichte

Welches sind nun die Grundlagen der Geschichte der Gesell­schaft, die Herder in seinem Werke entwickelt? Wie die Geschichte der Natur und der einzelnen Menschen auf natürliche Faktoren zurückgeführt wird, so sucht Herder auch die Entwicklung der ge­samten Gesellschaft aus diesen Faktoren zu erklären. Der äußere Rahmen der Natur bestimmt auch das Leben der Gesellschaft. Als den wichtigsten Faktor in dieser Beziehung betrachtet Herder das Klima, nach dessen Unterschieden sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft verschiedene Rassen mit verschiedener Lebensweise herausbilden. Der nächste wichtige Faktor ist dann die Lebens­weise eines Volkes, die aber wieder abhängig ist vom ersten Faktor, dem Klima.

So konstatiert Herder eine ganze Reihe äußerer materieller Kräfte, von denen er die Geschichte und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ableitet. Der Rahmen, in den er 'diese Geschichte hineinstellt, „ist die Beziehung der menschlichen Gesell­schaft zu ihrer Umgebung, der Natur. Ueber diesen Punkt ist Herder in seiner Geschichtsphilosophie nicht hinausgekommen. Das Zwischenglied, das hier weiterführt, die materiellen Produktiv­kräfte, aus denen dann die Analyse der Klassen entwickelt wurde, fehlt noch in seiner Geschichtsauffassung, so daß der konsequente materialistische Aufbau dieser Geschichtsauffassung Unvollendetes geblieben ist.

Im Rahmen, der durch die äußere Natur vorgeschrieben wird, vollzieht sich die geschichtliche Entwicklung. Welches sind aber ihre treibenden Kräfte? Die erste treibende Kraft, von der Herder ausgeht, ist die Tradition. Die Kenntnisse und Erfahrungen der einzelnen Generationen der Menschheit erben sich fort. Die jüngere Generation baut auf dem auf, was die ältere zurückgelassen hat, und so verwandelt sich die ganze Geschichtsentwioklung in eine un­unterbrochene Kette der Traditionen. Im heutigen Sprachgebrauch hat der BegrilT der Tradition einen reaktionären Beigeschmack an­genommen. Dieser fehlt ihm bei Herder, denn die Herdersche Tradition ist nicht etwas Unwandelbares, das unbedingt zu allen Zeiten aufrechterhalten bleibt. Sie wird im Laufe der Entwick­lung der menschlichen Gesellschaft verändert und immer weiter entwickelt. Der Begriff der Tradition sagt bei Herder nur, daß die nachfolgenden menschlichen Geschlechter abhängig sind von der Höhe der materiellen Kultur, die sie bereits vorgefunden haben, daß sie diese nicht einfach ignorieren können. Wie wenig Herder die Tradition als etwas Unwandelbares aufgefaßt wissen wölke, geht aus seinen Ausführungen über die Religion hervor, die er als älteste und „heiligste" Tradition des menschlichen Geschlechts bezeichnet. Was war die Religion in ihrem Ursprung? Die Menschen ver­mittelten einander die Kenntnisse durch religiöse Traditionen. Die Begriffe der Beligion galten ihnen als Symbole zum Ausdruck ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sobald nun aber im Laufe der Entwicklung die ursprüngliche Bedeutung eines religiösen Symbols vergessen wurde, verwandelte sich Sinn in Unsinn, mußte es ge­schehen, „daß die Priester, die ursprünglich die Weisen der Nation waren, nicht immer ihre Weisen blieben. Sobald sie nämlich den Sinn des Symbols verloren, waren sie stumme Diener der Abgötterei oder mußten redende Lügner des Aberglaubens werden. Und sie sind's last allenthalben reichlich geworden; nicht aus vorzüglicher Retrugsucht, sondern weil es die Sache so mit sich führte." An diesem Beispiel der Darstellung der Religionsgeschichte sehen wir also, wie bei Herder der Begriff der Tradition seinen starren, reak­tionären Charakter verliert, wie sich die Tradition als wirkende Kraft einreiht in den Verlauf der Geschichte.

Neben der Tradition erhält im System der Herderschen Ge­schichtsauffassung der Gedanke der Revolution sein volles Recht. Die Menschen sind nicht bloß das Produkt der äußeren Umgebung und der Tradition, sondern sie sind selbst als Teil der Natur auch eine treibende Kraft. Sie können sich wohl nicht aus den äußeren Zusammenhängen loslösen, die ihr Wirken und ihre Ideologie be­stimmen, aber in diesem Rahmen werden die Menschen selbst zu einer treibenden Kraft der Geschichte, ein Gedanke, den Herder kurz und klar in dem Satze formuliert: „Lebendige Men­schenkräfte sind die Triebfeder der Menschengeschichte." So wird die Tradition ergänzt durch die Wirksamkeit der menschlichen Kräfte, und erst diese beiden Faktoren zusammenwirkend ergeben das, was wir Geschichte nennen:

Sofort werden uns auch die Prinzipien dieser Philosophie (des Menschengeschlechts) offenbar, einfach und unverkenn­bar, wie es die Naturgeschichte des Menschen selbst ist; sie heißen Tradition und organische Kräfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Uebung, also durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Ueberlielerung nennen? Der Nachahmende muß aber Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mittelbare aufzunehmen und es wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu ver­wandeln . . . Mithin wird die Erziehung unseres Geschlechtes in zwiefachem Sinne genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten."

Die Tradition ist der Ausgangspunkt der Herderschen Ge­schichtsphilosophie: Die Revolution, die Anerkennung ihrer ge­schichtlichen Notwendigkeit ist der Endpunkt.

,,Die Philosophie der Geschichte, die die Kette der Traditio­nen verfolgt, ist eigentlich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle anderen Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden. Grauenvoll ist der An­blick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmer zu sehen. Ewigen Anfang ohne Ende. Umwälzung des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes."

Herder versucht also, die Revolutionen in der menschlichen Ge­schichte als notwendige Teile des Ganzen zu erklären.

Alle Traditionen müssen, wie am Reispiel der Religion bereits gezeigt wurde, veralten:

„Kein Menschendenkmal auf der Erde kann dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet ward und augenblicklich der Nachwelt ver­derblich wird, sobald es ihre neuen Bestrebungen unmöglich macht oder aufhält."

Sobald also eine Einrichtung innerhalb der Gesellschaft be­ginnt, deren Vorwärtsentwicklung aufzuhalten, muß sie beseitigt, zertrümmert werden. Aus dieser Betrachtung ergibt sich die Er­kenntnis der geschichtlichen Notwendigkeit, der Revolution:

„Torheit mußte erscheinen, damit die Weisheit sie über­winde; zerfallende Brechlicbkeit auch der schönsten Werke war von ihrer Materie unzertrennlich, damit auf den Trümmern derselben eine neue, bessernde oder bauende Mühe der Menschen stattfände . .. Nur unter Stürmen konnte die Pflanze (der Humanität) erwachsen; nur durch Entgegen­streben gegen falsche Anmaßungen mußte die süße Mühe der Menschen Siegerin werden . . . Das Maschinenwerk der Bevo-lutionen irrt mich also nicht mehr; es ist unserm Geschlecht so nötig, wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf wird."

Herders Staatstheorie

Wurden bisher die allgemeinen Grundsätze der Herderschen Geschichtsphilosophie dargestellt, so wollen wir diese auf einem Gebiete weiter verfolgen, das für uns heute ein besonderes Interesse hat. So wie Herder in der allgemeinen Darstellung seiner Philo­sophie zu einem Vorläufer des dialektischen Materialismus ge­worden ist, so ist er auch insbesondere in seiner Staatstheorie ein Vorläufer der marxistischen Auffassungen. Freilich fehlt ihm zu einer endgültigen Klärung der Staatsauffassung der Begriff der Klassen und des Klassenkampfes, aber trotzdem hat er sich der späteren Auffassung des Staates bedeutend genähert, weil er den Staat (ebenso wie auch die Religion) in den Prozeß der geschicht­lichen Entwicklung hineinwarf. Für eine Theorie, deren Ausgang-, punkt die ewige Veränderung, der ewige Fluß der Dinge ist, kann auch der Staat kein dauerndes und festes Gebilde sein. Er muß, in den Prozeß der Geschichte hineingestellt, sich auflösen und neuen Formen dar Gesellschaftsentwicklung Platz machen. Durch die Entwicklung dieser Auflassung Herders ist eigentlich sein theore­tischer Streit mit Kant veranlaßt worden. Auch wenn die Dar­stellung seiner Auseinandersetzung mit Kant über die Grundsätze der Philosophie im Anfange notwendig war zur Entwicklung der gesamten Geschichtsauffassung Herders, so war diese Auseinander­setzung zeitlich gesehen nahezu der Schlußpunkt des großen Kampfes zwischen den beiden Ideologen der bürgerlichen Revo­lution in Deutschland. Bevor Herder die Kantische Philosophie kritisierte, hatte er bereits die Kantische Geschichtsauffassung kri­tisiert und insbesondere als eines ihrer wichtigsten Kettenglieder die Staatstheorie Kants. Kant hatte nämlich in einer Kritik der ersterschienenen Teile der Herderschen Theorien die Auffassung dargelegt, daß das höchste Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung der Aulbau einer festen Staatenordnung sei. Der Staat war für ihn eine absolute Notwendigkeit, um die ungeselligen bösen Triebe der Menschen zu zügeln, ein Zwangsapparat, der die menschliche Ge­sellschaft gegen die schlechten Triebe der einzelnen Individuen sichern sollte. Kants Staatstheorie stand und fiel mit der Annahme, daß die menschliche Natur von Natur aus schlecht sei und daß wegen der angeborenen negativen Eigenschaften der Menschen daher eine Kraft da sein müsse, die sie im Zaume halte. Wir haben nun gesehen, wie Herder in dar dialektischen Entwicklung seiner Geschichtsauffassung die Existenz angeborener menschlicher Eigen­schaften bestritt, wie er alle Fähigkeiten und geistigen Kräfte des Menschen aus der Einwirkung seiner äußeren Umgebung ableitet. Er konnte daher auch die Begründung Kants für die Notwendigkeit des Staates nicht anerkennen und mußte dieser Theorie seine eigene dialektische Betrachtungsweise entgegenstellen.

Der Staat hört bei Herder auf, eine absolute Notwendigkeit der Existenz der menschlichen Gesellschaft zu sein. Er ist ein Produkt der Geschichte, und sobald seine geschichtliche Funktion erschöpft ist, muß er verschwinden.

Wie hat Herder die Entstehung des Staates erklärt? Aus der Gewalt. Wir wissen aus der Polemik Engels gegen Dühring, wie mangelhaft diese Erklärung ist; aber im 18. .Jahrhundert war es ein gewaltiger Fortschritt, den Staat als einen Gewaltapparat darzu­stellen. Wir müssen hier Herders Darstellung der Entstehung des Staates ausführlicher zitieren:

„Wer hat Deutschland, wer hat dem kultivierten Europa seine Regierungen gegeben.' Der Krieg. Horden von Bar­baren überfielen den Wellteil- ihre Anführer und Edlen teilten unter sich Länder und Menschen. Daher entsprangen Fürsten­tümer und Lehen; daher entsprang die Leibeigenschaft unter­jochter Völker; die Eroberer waren im Besitz, und was seit dieser Zeit in diesem Besitz verändert worden, hat abermals Revolution, Krieg, Einverständnis der Mächtigen, immer also das Recht des Stärkeren entschieden. Auf diesem königlichen Wege gehl die Geschichte fort, und Fakta der Geschichte sind nicht zu leugnen . . . Gewaltsame Eroberungen vertraten also die Stelle des Rechtes, das nachher durch Verjährung, oder wie unsere Staatslehrer sagen, durch den schweigenden Kon­trakt Recht ward; der schweigende Kontrakt aber ist in diesem Falle nichts anderes, als daß der Stärkere nimmt, was er will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er nicht ändern kann. Und so hängt das Recht der erblichen Regierung sowie beinahe jedes anderen erblichen Besitzes an einer Kette von Tradition, deren ersten Grenzpfahl das Glück oder die Macht einschlug und die sich, hie und da mit Güte und Weisheit, meistens aber wieder nur durch Glück oder Uebermacht forlzog. Nachfolger und Erben bekamen, der Stammvater nahm; und daß dem, der hatte, immer mehr gegeben ward, damit er die Fülle habe, bedarf keiner weiteren Erläuterung."

Das also ist die Geschichte der Entstehung des Staates. Was folgt daraus? Daß der Staat als Gewaltapparat zum Verschwinden verurteilt ist, sobald die menschliche Gesellschaft genügend weit entwickelt ist, sich von Gewalt und Unterdrückung zu befreien. Zwar erklärt Herder, daß der natürlichste Staat der nationale Staat sei, aber auch der nationale Staat ist für ihn nur ein Durchgangs­punkt bis zur vollständigen Beseitigung des Staates. Herders Aus­führungen sind in der endgültigen Fassung seiner Ideen nur frag­mentarische. Denn mit der Zensur rechnend, hat er das Kapitel über die Regierungen mehrmals abgeändert, und die ersten Fas­sungen sind erst sehr spät in der Herder-Gesamtausgabe von Suphan bekanntgeworden. Was führt Herder hier aus? „Der Staat ist eine Maschine, und keine Maschine hat Ewigkeit." Wer dem Staat als bloßer Maschine die Aufgabe zulegte, die Glückseligkeit der Men­schen zu verwirklichen, „der spricht für mich eine unverständliche Sprache."

Er polemisiert gegen den Satz Kants, daß der Mensch ein Tier sei, das einen Herrn nötig hat:

Kehre den Satz um: Der Mensch, der einen Herrn nötig hat, ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er keines eigentlichen Herrn mehr nötig." . . . „Im Begriff des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten, der auch Mensch sei, nicht; jener muß erst schwach gedacht werden, damit er eines Beschützers, unmündig, damit er eines Vormundes, wild, da­mit er eines Bezähmers, abscheulich, damit er eines Straf­engels nötig habe. Alle Regierungen der Menschen sind also nur aus Not entstanden und um dieser fortwährenden Not willen da. So wie es nun ein schlechter Vater ist, der sein Kind erzieht, damit es lebenslang unmündig, lebenslang eines Erziehers bedürfe; wie es ein böser Arzt ist, der die Krankheit nährt, damit er dem Elenden bis ins Grab hinein unentbehr­lich werde; so mache man die Anwendung auf die Erzieher des Menschengeschlechtes, die Väter des Vaterlandes, und ihre Erzeuger."

Herder mußte sich hier sehr vorsichtig ausdrücken. Aber selbst bei dieser vorsichtigen Formulierung geht aus seinen Ausführungen unverkennbar hervor, daß er die Notwendigkeit der Beseitigung des Staates, den er nur als Apparat der Unterdrückung betrachtet, erkannt hat. Es ist dies eine Tatsache, die von marxistischen Forschern noch wenig beachtet wurde, wohl aber von einem ziem­lich bekannten Pseudamarxisten, Herrn Vorländer, der in seinem Buche ül>er die „Philosophie unserer Klassiker" bewegte Klagen darüber führt, daß Herder ein so geringes Verständnis für die Be­deutung des Staates hatte. Herr Vorländer hat also sehr gut die Gefährlichkeit der Herderschen Philosophie auch für die sozial-patriotischen Theorien der Gegenwart verstanden — Grund genug, daß auch die wirklichen Anhänger der marxistischen Lehre auf einen ihrer bedeutsamsten Vorläufer wieder aufmerksam werden. Gerade in Herders Staatstheorie drückt sich die Tatsache aus, daß dieser umfassendste Geist des 18. Jahrhunderts, indem er die naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Kenntnisse seiner ganzen Zeitperiode verarbeitet und in sich aufgenommen hat, ent­scheidende Schritte in der Richtung zum Marxismus tat. Daß Herder auf Hegel, besonders in dessen Jugendzeit, einen großen und nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat, können wir zweifellos an­nehmen, selbst wenn uns nicht ausdrücklich von den Biographen Hegels mitgeteilt würde, daß Hegel Herders Schriften gelesen hat. Für den Einfluß Herders auf ihn spricht schon allein die Tatsache, daß er sogar im Titel eines seiner Hauptwerke: „Geschichte der Philosophie als Philosophie der Geschichte" ganz offenkundig an Herder anknüpft. Aber Hegel stand gleichzeitig auch unter dem Einfluß Kants, und so hat er Herders Geschichtsphilosophie nicht fortgesetzt, indem er ihren materialistischen Kern weiter ent­wickelte. Hegel hat wohl die dialektische Methode weiter ausge­bildet, aber er hat sie gleichzeitig auch ideologisch entstellt. Wieso schließlich diese idealistische Richtung in Deutschland in der Philo­sophie die Oberhand gewinnen mußte, ist schon erklärt worden.

Es wäre aber ein Unrecht, neben der Entwicklung der idealisti­schen Richtung der deutschen Philosophie dauernd die zweite Richtung der deutschen klassischen Literatur zu vergessen, die die ersten Grundlagen des dialektischen Materialismus geschaffen hat. Wenn diese kurze, noch lange nicht erschöpfende Darstellung der Herderschen Gesellschaftstheorie einen Anstoß zur Forschung in dieser Richtung gibt, so hat sie damit ihren Zweck erfüllt. Die Forschung in dieser Richtung wird zweifellos eine bedeutende Be­reicherung der Darstellung der Geschichte des dialektischen Mate­rialismus.

Fußnoten

1) Wir bringen diesen interessanten Artikel des Genossen Reimann, halten es aber für notwendig, zu bemerken, daß die Einschätzung Herders als eines Vertreters der Theorie des dialektischen Materialismus und geschichtlichen Vorläufers von Marx und Engels von uns nicht geteilt wird. / D. Red.

Quelle:

Unter dem Banner des Marxismus, Verlag für Literatur und Politik, Wien - Berlin, 1929, III. Jahrgang, Heft 1, S.52-77