Nicht alle Jahrestage geben Anlass zum freudigen
Feiern. So war es auch diese Woche im
nordfranzösischen Amiens. Am Donnerstag jährte
sich dort zum ersten Mal das – wie nicht nur
viele Gewerkschafter/innen meinen –
„Skandalurteil“, durch das am 12. Januar 2016
insgesamt acht CGT-Mitglieder zu je zwei Jahren
Haft verurteilt worden waren. Je neun Monate
davon wurden ohne Bewährung ausgesprochen, der
Rest mit.
Beinahe pünktlich zum Jahrestag fiel nun auch das
Urteil in der Berufungsinstanz, das am Mittwoch ,
den 11. Januar 17 um 13.30 Uhr verkündet wurde.
Rund 1.000 Menschen begleiteten die „Acht von
Goodyear“ dabei zum Justizpalast in der früheren
Bezirkshauptstadt der Picardie. (Laut
Veranstalterangaben zu Beginn der Kundgebung, um
circa zehn Uhr, waren es zu diesem Zeitpunkt rund
600 Menschen. Es handelte sich um die angereisten
Solidaritätsdemonstrant/inn/en. Später kam dann
noch ein bisschen örtliches „Laufpublikum“, v.a. um
die Mittagspausenzeit, hinzu.)
Hintergründe
An
diesem Samstag, den 14. Januar 17 jährt sich aber
auch zum dritten Mal die Schließung des
Automobilwerks von Goodyears in der Stadt. Just
diese Entscheidung des Autofabrikanten – und
Reifenherstellers Nummer Eins in den USA und Nummer
Zwei weltweit – hatte jenes Ereignis ausgelöst, das
den Anlass zu dem Prozess lieferte. Dreißig Stunden
lang waren zwei Führungskräfte, gewaltlos,
vorübergehend festgesetzt worden. Daran hatte sich
gewerkschaftlich organisierte und unorganisierte
Beschäftigte beteiligt, die dagegen protestierten,
dass rund 1.200 Lohnabhängige ihre Arbeit verlieren
sollten, obwohl das Unternehmen schwarze Zahlen
schrieb. Nach verbreiteter Ansicht war die
Entscheidung, das Werk in Amiens dicht zu machen,
ein Racheakt seitens der Direktion.
Im
Jahr 2008 hatte die Belegschaft, zusammen mit der
im Betrieb stark verankerten CGT, den Übergang zur
ausgesprochen gesundheitsschädlichen
Vier-Schicht-Produktion und zu einer extremen
„Flexibilisierung“ der Arbeitszeiten abgelehnt.
Eine ähnliche Auseinandersetzung war bereits einmal
zehn Jahre früher erfolgt; das Unternehmen hatte
daraufhin alle Prämienzahlungen und Lohnzuschläge
illegal gekappt, doch nach jahrelangem Rechtsstreit
konnte deren Auszahlung gerichtlich erstritten
werden. Trotz Gewinnen im Gesamtunternehmen, in
Frankreich wie in den USA, ließ Goodyear daraufhin
die Filiale in Amiens finanziell „austrocknen“. Es
sollte ein Exempel statuiert werden. (Damals, 2008,
beschäftigte das Werk noch 1.400 Lohnabhängige. Als
nach wiederholten Schließungsdrohungen dann im
Winter 2013/14 der reale Schließungsbeschluss
folgte, waren ihrer noch 1.173 übrig.)
Exempel
statuiert
Deswegen, aber auch
weil die Verhängung von Haftstrafen – noch dazu
ohne Bewährung - gegen Gewerkschafter in ihren
Augen einen gefährlichen Präzendenzfall darstellt,
mobilisierten viele Kolleg/inn/en und politische
Linke nach Amiens.
Rund um den zweitägigen Prozess am 19. und 20.
Oktober 16 waren zwischen fünf- und zehntausend
Menschen in einem Park in Amiens zusammengekommen.
Zur Urteilsverkündung, die auf diesen Mittwoch, den
11. Januar 17 angesetzt worden war, wurden es nun
rund ein Zehntel so viel. Aber parallel dazu hatten
am selben Tag in Paris Demonstrationen der CGT
stattgefunden, um die Einreichung der
Verfassungsklage von acht Mitgliedsverbänden des
Dachverbands CGT gegen die Ausführungsdekrete zum
berüchtigten „Arbeitsgesetz“ - es trat im August 16
in Kraft, Dekrete sollen nun in den Einzelheiten
das Nähere regeln - zu unterstützen. (Wir werden in
Kürze an dieser Stelle eine Analyse über den
aktuellen Stand der Umsetzung des „Arbeitsgesetzes“
veröffentlichen.)
Innerhalb der CGT
gibt es aber auch starke strategische Spannungen,
das relativ militante Vorgehen in Amiens war dort
nicht unumstritten. Doch „harte Kern“ von
CGT-organisierten Belegschaften etwa aus den
Ölraffinerien in Le Havre und Rouen, von Renault in
Cléon bei Rouen oder aus der Atomfabrik in
Tricastin an der Rhône waren auch am Mittwoch nach
Amiens gekommen. Sogar aus Nizza hatte ein Gruppe
die weite Anreise angetreten. Auch belgische
FGTB-Gewerschafter waren zu sehen.
Angeklagt sind
Wir Alle
Eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude wurde durch
die sehr aktive und dabei sehr unsektiererische
Mediengewerkschaft CGT Info’Com, vertreten durch
die Vorsitzenden Romain Altman, moderiert. Dabei
erfuhren die Anwesenden auch viel über soziale
Kämpfe, von denen man aus den Medien nicht so viel
erfährt. 64 Tage streikte eine Klinik bei Tarbes in
Südwestfrankreich und setzte die Verbesserung von
Löhnen und Arbeitsbedingungen durch, seit nunmehr
30 Tagen steht das Kulturkaufhaus FNAC auf den
Pariser Champs-Elysées im Arbeitskampf. Aber im
vergangenen Jahr wurden auch insgesamt 1.600
gewerkschaftlich Organisierte in Unternehmen
gemaßregelt, gekündigt oder mit Gerichtsverfahren
überzogen. Einige von ihnen sprachen auch in
Amiens, wie Matthieu, der Lokführer aus dem
elsässischen Mulhouse, der wegen einer verbalen
Auseinandersetzung beim Bahnstreik im Mai 16 nun
entlassen werden soll.
Um
punkt 13.30 Uhr gingen die betroffenen
Goodyear-Gewerkschafter zum Justizpalast, um ihr
Urteil abzuholen. Zwar enthält es – im Unterschied
zur ersten Instanz – nun keine Haftstrafen ohne
Bewährung mehr, doch für fünf von ihnen enthält es
nach wie vor zwölf Monate Gefängnis mit einer
fünfjährigen Bewährungsfrist. Dies droht bei
sozialen Auseinandersetzungen und Demonstrationen
wie ein Damoklesschwert gegen sie eingesetzt zu
werden. Zwei ihrer Kollegen erhielten kürzere
dreimonatige Bewährungsstrafen, ein achter wurde
freigesprochen. In erster Instanz hatten noch alle
dasselbe Strafmaß erhalten.
Die „Acht von
Goodyear“ reagieren, indem sie von einer
„politischen Entscheidung“ sprachen – zumindest die
Staatsanwaltschaften sind in Frankreich
weisungsgebunden - und kündigten nach dem
Urteilsspruch an, in die dritte (und letzte)
gerichtliche Instanz vor den Kassationshof zu
ziehen. Und danach notfalls vor den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg.
Ihr Wortführer
Michaël Wamen hatte eine Träne im Augenwinkel, doch
verkündete: „Hätte man mich freigesprochen, wie wir
es erwarteten, hätte ich mich erst einmal
ausgeruht. Jetzt aber werde ich erst recht
weiterkämpfen!“
Editorischer Hinweis
Livebericht aus Amiens. Vom Autor überarbeitete
Langfassung eines Artikels, welcher zuerst (in
einer leicht gekürzten Fassung) am Freitag, den 13.
Januar 17 in der Tageszeitung ,Neues Deutschland’
zu lesen war
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