60 Jahre nach dem
Aufstand kamen alte Debatten hoch: War dies ein
nationaler Volksaufstand des unterdrückten
ungarischen Volkes gegen die sowjetische
Besatzungsmacht? War es gar eine faschistische
Konterrevolution? Oder war es die von Leo Trotzki
vorhergesagte politische Revolution in einem
degenerierten Arbeiter*innenstaat? Die Analyse
eines Ereignisses, welches bis heute seine
Schatten wirft.
Stellen wir uns
vor, die Sowjetbürokratie sei gestürzt von einer
revolutionären Partei, die alle Eigenschaften des
alten Bolschewismus besitzt, zugleich aber auch
um die Welterfahrung der letzten Periode reicher
ist. Eine derartige Partei würde zunächst die
Demokratie in Gewerkschaften und Sowjets
wiederherstellen. Sie könnte und müsste den
Sowjetparteien die Freiheit wiedergeben.
Gemeinsam mit den Massen und an ihrer Spitze
würde sie schonungslos den Staatsapparat säubern.
– Leo Trotzki
Nikita
Chruschtschow hätte sich seine am 25. Februar
gehaltene “Geheimrede” vor hohen
Sowjetfunktionär*innen wohl lieber erspart, wenn er
gewusst hätte, was ihm acht Monate später blühen
würde. Die im Frühling jenes Jahres begonnene
Tauwetterperiode sollte innerhalb weniger Monate
die vereisten Verhältnisse in den Ostblock-Staaten
zum Schmelzen bringen und revolutionäre Prozesse in
Polen und vor allem Ungarn hervorbringen. Doch es
war nicht nur diese Rede, welche die Wut des
ungarischen Volkes zum explodieren brachte, sondern
auch und vor allem eine über zehn Jahre andauernde
Unterdrückung, die unmittelbar nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges angefangen hatte.
Das Ende des
weltweiten Gemetzels brachte widersprüchliche
Ergebnisse hervor, die Leo Trotzki sogar teilweise
vorhergesehen hatte. Für Trotzki war der Zweite
Weltkrieg analog zum Ersten Weltkrieg zu begreifen,
wobei er keinerlei Illusionen hatte:
Nazideutschland würde die Sowjetunion früher oder
später angreifen. Am Ende dieses weitaus brutaleren
Krieges sei jedoch die Möglichkeit gegeben, dass,
vergleichbar zum Ende des Ersten Weltkrieges,
revolutionäre Prozesse entstehen könnten, die die
Macht der Bourgeoisie brechen und so unter anderem
die Isolation der Sowjetunion beenden würden.
Eine solche
Situation trat ein: Von Griechenland über Italien
und Jugoslawien bis nach Frankreich lag die Macht
de facto in den Händen des Proletariats, das sich
heroisch und erfolgreich gegen den Faschismus
verteidigt hatte. Fabriken waren besetzt und in
Weiten der Bevölkerung war das Scheitern des
Kapitalismus offensichtlich geworden. Allerdings
kroch genauso wie bei der Spanischen Revolution die
Konterrevolution von zwei Seiten hervor: Vonseiten
des Imperialismus mit der neuen Führungsmacht der
USA sowie des Stalinismus der UdSSR. Der
trotzkistische Historiker Pierre Broué nannte dies
passenderweise die “Heilige Allianz zwischen
Bürokratie und Imperialismus”.
Alles fließt
Die Aufteilung
Europas in die Einflusssphären des Imperialismus
und Stalinismus wird wohl am besten deutlich in der
Vereinbarung zwischen Winston Churchill und Josef
Stalin im Jahre 1944, als diese auf einem Zettel
Länder wie Ungarn, Griechenland, Bulgarien oder
Rumänien per Federstrich untereinander aufteilten.
Ungarn wurde zu jener Zeit mit “50:50” deklariert,
doch es war nach dem schnellen Vorrücken der Roten
Armee bis nach Berlin schließlich klar, dass es ein
Satellitenstaat der UdSSR werden sollte.
Um die Herrschaft
der Sowjetbürokratie zu manifestieren, schuf der
Stalinismus eine Reihe von Staaten, die von Moskau
abhängig waren und in denen kremltreue
Bürokrat*innen eingesetzt wurden. Die Schaffung
dieser Satellitenstaaten, die ebenso Teil des
Warschauer Paktes zu sein hatten, dauerte mehrere
Jahre und wurde gewiss nicht ohne Widerstand
durchgesetzt. Schillerndstes Beispiel hierfür ist
die Kontroverse zwischen Jugoslawien und der UdSSR,
wobei erstere einen eigenen Weg gingen. Das
Interessante an diesen Jahren ist, dass der
Stalinismus die neuen “Volksrepubliken” wie Ungarn,
Polen oder Rumänien nicht in die Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken integrierte, wie
er es etwa nach der Oktoberrevolution mit den
Kaukasusländern oder nach dem Zweiten Weltkrieg mit
den baltischen Staaten tat, sondern formell
unabhängige Staaten kreierte, die von Kadern
geführt wurden, wovon nicht wenige während der
faschistischen Besatzungen im Moskauer Exil lebten
wie zum Beispiel Walter Ulbricht.
Einer dieser
Kader, die nicht selten auch
Komintern-Funktionär*innen waren, war Matyas Rakosi
– “Stalins bester ungarischer Schüler”. Nachdem am
20. August 1949 eine neue Verfassung
stalinistischen Typs für Ungarn auserkoren wurde,
war die Herrschaft der “Partei der ungarischen
Werktätigen” (ungarisch MDP) beschlossene Tatsache.
Nur sie war als Partei zugelassen und sollte in den
Jahren bis 1956 schätzungsweise zwischen 900.000
und 1 Million Mitglieder haben – bei einer
Bevölkerung von nicht einmal 10 Millionen! Rakosi
sollte in den Jahren 1949 bis 1956 der Diktator
Ungarns werden, der es exzellent verstand, die
Interesse der Bürokratie zu vertreten und sich
gegen andere Konkurrenten wie Laszlo Rajk, der
fälschlicherweise als echte Alternative propagiert
wurde, durchzusetzen. Mitte 1956 wurde er zwar
abgelöst, sein Nachfolger Ernö Gerö war jedoch
ebenso erfahren in Konspiration und Unterdrückung,
war doch auch er durch die Schule des sowjetischen
Geheimdienstes gegangen und einer der Handlanger
zur Ermordung der Spanischen Revolution (nicht
unwahrscheinlich, dass er gar an der Ermordung des
POUM-Führers Andres Nin direkt mitwirkte). Schon
1919 war er bei der kurzlebigen ungarischen
Räterepublik dabei gewesen und in seinen langen
Jahren in Moskau sollte er die Kunst der
Organisation beherrschen, sodass er mit der
Sicherheitspolizei AVH ein mächtiges Instrument
schaffen konnte.
Das Umfeld, in dem
höchst ergebene Apparatschiks wie Rakosi, Gerö oder
Kádár groß werden konnten, beschrieb Broué
folgendermaßen:
Die
stalinistische Parteikonzeption, das heißt
Monolithismus, das heißt eine streng gegliederte
Hierarchie, von der Parteispitze kontrolliert.
„Die Kader entscheiden alles“, beliebte Stalin zu
wiederholen, im Übrigen davon überzeugt, dass er
selbst der Kader der Kader war. Es war, im Grunde
genommen, ein Dienstverhältnis der Partei zur
Bürokratie durch Vermittlung des Apparats, die
Unterordnung der Mitglieder unter die politische
Polizei.
Das Ungarn vor der
Revolution glich einem offenen Gefängnis, in dem
niemand die eigene Meinung frei äußern konnte, in
dem das Streikrecht der Arbeiter*innen nicht
existierte und in dem ein Klima der Gefahr der
Denunziation herrschte. Der revolutionäre Terror,
der gegen die AVH in den Tagen zwischen Oktober und
Dezember 1956 eingesetzt wurde, offenbarte deswegen
einen tiefen Hass der Arbeiter*innen und
Studierenden. Unversöhnlicher Hass kennzeichnete
auch die Tage der Revolution und Konterrevolution
im Ungarn 1956.
Nur der Sieger
kennt kein Gericht
Gemeinhin wird der
Beginn der Ungarischen Revolution auf den 23.
Oktober datiert, als eine friedliche Demonstration,
die vor allem durch Studierende und Intellektuelle
organisiert wurde, von der AVH zusammengeschossen
wurde. Es wäre jedoch falsch, dies als eine
plötzliche Eruption zu sehen, die aus einer
Spontaneität heraus entstand. Genauso falsch wäre
es, in den nun beginnenden und sich rasant
entwickelnden Ereignissen, einen faschistischen
Umsturzversuch zu sehen. Zum einen fanden
Massenversammlungen und Diskussionen schon während
des Sommers statt, als noch Hoffnungen (oder wie
gesagt: Illusionen) in die Reformierbarkeit des
Stalinismus bestanden. Bekannt wurde vor allem der
Petöfi-Kreis, nicht zuletzt weil der bekannte
Philosoph Georg Lukács dazugehörte. Zum anderen
stellte sich schon schnell heraus, dass die
Forderungen der Jugend und der Arbeiter*innen durch
und durch revolutionär waren. In einer Versammlung
der Studierenden am Tag davor wurden folgende 16
Punkte als Forderungen aufgestellt:
1.) Wir fordern
den sofortigen Abzug aller sowjetischen Truppen
aus Ungarn, wie es der Friedensvertrag (zwischen
Ungarn und der Sowjetunion von 1947) vorsah.
2.) Wir fordern
die Neuwahl der Partei-Führer auf allen Ebenen
von oben nach unten in geheimer Wahl. Danach
sollen diese in kürzester Zeit einen neuen
Parteitag einberufen, der eine neue zentrale
Führung wählt.
3.) Wir fordern
die Bildung einer Regierung unter Leitung des
Genossen Imre Nagy, und dass alle kriminellen
Führer der Stalin-Rákosi-Periode entlassen
werden.
4.) Wir fordern
eine öffentliche Diskussion der Affäre um Mihály
Farkas und Konsorten. Ebenso fordern wir die
Rückkehr von Rákosi in unser Land, damit er als
Hauptverantwortlicher für die Pleite des Landes
und für all die Verbrechen der letzten Jahre vor
ein Volksgericht gestellt wird.
5.) Wir fordern
die Wahl einer Nationalversammlung unter
Teilnahme mehrerer Parteien und mittels geheimer
Wahl. Wir fordern das Streikrecht für die
Arbeiter.
6.) Wir fordern
eine grundlegende Neugestaltung und Berichtigung
der kulturellen, ökonomischen und politischen
Beziehungen Ungarns zu Jugoslawien und zur
Sowjetunion auf der Basis gegenseitiger
Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten
und der vollen ökonomischen und politischen
Gleichberechtigung.
7.) Wir fordern
die Neuorganisation des ungarischen
Wirtschaftslebens unter Einbeziehung ungarischer
Fachleute. Wir fordern die Neuorganisation der
gesamten Wirtschaft auf der Grundlage des Plans,
so, dass die nationalen Ressourcen zum Nutzen
unseres Volkes eingesetzt werden.
8.) Wir fordern
die Veröffentlichung der Außenhandelsverträge und
zuverlässige Zahlen über die
Kriegsentschädigungen. Wir fordern eine
öffentliche und komplette Information bezüglich
der russischen Konzession zur Ausbeutung und
Lagerung des Urans in unserem Land. Wir fordern,
dass Ungarn den Verkaufspreis seines Urans frei,
entsprechend den Weltmarktpreisen, festlegen
kann.
9.) Wir fordern
eine vollständige Revision der Arbeitsnormen in
der Industrie, und die Akzeptierung der
Lohnforderungen der Hand- und Kopfarbeiter. Die
Arbeiter wollen die Festschreibung eines
Mindestlohns.
10.) Wir fordern
die Zwangsablieferung auf neuer Grundlage zu
organisieren, um einen vernünftigen Gebrauch der
landwirtschaftlichen Produkte zu gewähren.
11.) Wir fordern
die Revision aller Prozesse wegen ökonomischer
und politischer Anklagen vor wirklich
unabhängigen Gerichten und die Rehabilitierung
unschuldig Verurteilter.
12.) Wir fordern
ein freies, unabhängiges Radio, vollständige
Pressefreiheit, Freiheit des Wortes und der
Meinung, sowie das Erscheinen einer neuen
Tageszeitung mit großer Auflage als Organ des
MEFESZ (unabhängige Studentenorganisation, die
sich neu gebildet hat).
13.) Wir
fordern, daß das Stalin-Denkmal als Symbol der
politischen Unterdrückung und der stalinistischen
Diktatur schnellstmöglich abgerissen wird, und
dass an seiner Stelle ein Denkmal für die Helden
und Märtyrer des Freiheitskampfes von 1848–1849
errichtet wird.
14.) Anstelle
der dem ungarischen Volk vollkommen fremden
Symbole fordern wir die Rückkehr zu den alten
Symbolen von Kossuth. Wir fordern eine neue
Uniform für die Armee, die den nationalen
Traditionen des Honvéd würdig ist. Wir fordern,
dass der 5. Mai (Unabhängigkeitstag von 1848) zum
arbeitsfreien Nationalfeiertag wird, und dass der
6. Oktober (Tag der feierlichen Bestattung Rajks)
zum arbeitsfreien Trauertag wird.
15.) Die Jugend
der technischen Universitäten Budapests
proklamiert in einstimmiger Begeisterung ihre
vollständige Solidarität mit der polnischen
Arbeiterklasse und der Jugend Warschaus und
Polens und der Bewegung für ein unabhängiges
Polen.
16.) Die
Studenten des Bauwesens der Technischen
Universität gründen schnellstmöglich die
Ortsorganisation des unabhängigen Studentenbundes
MEFESZ und haben entschieden, für Samstag, den
27. Oktober, ein Parlament der Jugend nach
Budapest einzuberufen, in dem die Gesamtheit der
Jugend des Landes durch Delegierte vertreten
wird.
Was ist der
Charakter dieser Forderungen? Wie sind sie zu
bewerten? Es sind mehrere Merkmale sichtbar, die in
Kombination stehen. Durch die gesamten Punkte
hinweg zieht sich der Wunsch nach nationaler
Souveränität, sodass zum Beispiel die stationierten
sowjetischen Truppen abgezogen werden sollten. Es
wird an die Revolution von 1848 erinnert, als das
ungarische Volk einen nationalen Befreiungskampf
gegen das russische Zarenreich führte. Dieses
Moment zieht sich durch die ganze Revolution, als
dessen Symbol ungarische Fahnen mit einem
ausgeschnittenen Kreis dienten, aus denen das
Sowjetemblem in der Mitte ausgeschnitten wurde –
hieran wird deutlich, welch‘ große Bedeutung die
nationale Frage in der Revolution spielte.
Zwei weitere
Länder werden angesprochen: Jugoslawien und Polen,
in denen ebenfalls 1956 ein Arbeiter*innenaufstand
erfolgte. Beide Länder standen – obwohl
unterschiedlich zu bewerten – für einen Kurs
unabhängig von Moskau und damit scheinbar auch vom
Stalinismus. Die wirtschaftlichen Forderungen
zeugen davon, dass die Budapester Jugend sehr wohl
verstanden hatte, dass die Verbrechen des
Stalinismus nicht nur aus dem “Personenkult”
resultierten, sondern inhärent sind in einem
System, welches die Unmöglichkeit des Aufbaus des
“Sozialismus in einem Land” mit einer Diktatur über
das Proletariat durchsetzen will. Das Bekenntnis
zur Planwirtschaft (Punkt 7) unterstreicht ebenso
den antikapitalistischen Charakter der Resolution,
die mit dem Streikrecht und dem Mindestlohn auch
Forderungen der Arbeiter*innenklasse aufnimmt.
Bemerkenswert, wie ähnlich dieses Programm mit der
Analyse Trotzkis zwanzig Jahre vorher war:
Doch was die
Eigentumsverhältnisse anbelangt so brauchte die
neue Macht keine revolutionären Maßnahmen zu
ergreifen. Sie würde das
Planwirtschaftsexperiment fortsetzen und
weiterentwickeln. Nach der politischen
Revolution, d.h. nach Niederringung der
Bürokratie, hätte das Proletariat in der
Wirtschaft eine Reihe wichtigster Reformen, doch
keine neue soziale Revolution durchzuführen.
Für die
stalinistische Bürokratie waren diese Punkte nicht
verhandelbar, sie ließ die Massendemonstration, die
mit 200.000 Menschen zum Parlament zog, mithilfe
des sowjetischen Militärs niederschlagen. Ein
Massaker, das nach Schätzungen mehrere hundert
Todesopfer forderte. Gleichzeitig aber auch der
Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. In den
Städten toben Straßenschlachten, wobei die
Repressionsorgane kein Erbarmen zeigten. Schon am
nächsten Tag weitete sich aber der Aufstand auf
andere Ort aus, in den Fabriken wurden
Arbeiter*innenräte gebildet und seitens der
Arbeiter*innenklasse der Generalstreik proklamiert.
Die Revolution der
Arbeiter*innenräte
Der Generalstreik
der Arbeiter*innenklasse übertrug das Kommando von
der Jugend und der Intelligenz auf das Proletariat.
Die Arbeiter*innenklasse bestimmte nun das Tempo
der Ereignisse, erst recht nachdem sich das
sowjetische Militär aus der Hauptstadt Budapest auf
das Land und in die Kasernen zurückgezogen hatte.
Diese Revolution war eine genuine Revolution der
Arbeiter*innenräte, die nun faktisch die Macht in
den Händen hielten. Sie waren es, die die Fäden
zogen und folglich auch einen Mann hinter sich
mitzogen, in den große Hoffnungen gesetzt wurden:
Imre Nagy.
Dieser war bereits
im Jahre 1955 kurzzeitig an der Macht und formte am
27. Oktober eine neue Regierung. Am gleichen Tag
wurde auch die AVH aufgelöst und die Göttin der
Nemesis zog durch die Straßen Budapests: Der
revolutionäre Terror der Arbeiter*innen und der
Jugend übte eine blutige Rache an den AVH-Kadern
aus. In diesen Tagen schien die Revolution
unbesiegbar und Ungarn schien einen ähnlichen Weg
wie Polen unter Wladyslaw Gomulka zu nehmen. Die
Hoffnung der Massen personifizierten sich in Imre
Nagy, der die Rolle des ungarischen Gomulka
einnehmen sollte.
Schon am 1.
November ergriff die Regierung, zu der auch Georg
Lukács als Kulturminister gehörte, weitgehende
Maßnahmen: Sie erklärte die Neutralität Ungarns und
ergo den Austritt aus dem Warschauer Pakt. In
diesem Moment schien das ungarische Drama einen
guten Ausgang zu finden. Die Straßen wurden nach
den verlustreichen Schlachten wieder aufgeräumt.
Vielleicht mag der 3. November 1956 der Tag des
höchsten Glücks für die ungarische
Arbeiter*innenklasse gewesen sein, denn schon in
der kommenden Nacht nahmen die Dinge eine
spektakuläre Wende ein – es war die
Konterrevolution, die einen umfassenden Angriff
plante.
Die Zerstörung
einer revolutionären Tradition
Obwohl das
ungarische Proletariat durch Jahrzehnte von
Revolution und Konterrevolution gestählt war, war
jener 4. November der Todesstoß für eine stolze
Generation, die erst dem weißen Terror unter Miklos
Horthy und dann dem Faschismus die Stirn geboten
hatte. Dieses Mal jedoch war die Konterrevolution
in den Gewändern der Roten Armee unterwegs, die
Budapest seit 4 Uhr unter Beschuss nahmen. Dieser
Angriff war so von den Revolutionären nicht
vorhergesehen worden. Warum? Es mag verschiedene
Gründe gegeben haben, von denen der wichtigste das
Fehlen einer revolutionären Partei war, d.h. einer
revolutionären Führung, welche ebenso die Kunst
des Rückzugs versteht. Imre Nagy wurde just am
selben Tag durch János Kádár ersetzt, weit davon
entfernt, der alles andere tat, als in irgendeiner
Form die Macht zu verteidigen.
Nagy
Es wäre
irritierend, Imre Nagy einen
“Reformkommunisten” zu nennen: Der gelernte
Agrarökonom gehörte vielmehr dem rechten,
dem Bucharinismus zugeneigten Flügel der
stalinistischen Partei an. Hinsichtlich des
politisch-wirtschaftlichen Modells schwebte
ihm ein Zustand ähnlich dem von Jugoslawien
vor; blockfrei und einen eigenen, scheinbar
unabhängigen Weg von der Herrschaft der
Bürokratie schreitend.
Das
jugoslawische Modell unter Josip Broz Tito
war jedoch ein Gesellschaftssystem, indem
es zwar teilweise eine Autonomie der
Arbeiter*innen in den Betrieben gab und in
denen nach eigenen Angaben eine
“sozialistische Marktwirtschaft” etabliert
war – in letzter Konsequenz lag die
Herrschaftskontrolle aber in den Händen der
Bürokratie und der KPJ. Der Titoismus war
ein Stalinismus sui generis. Eine
Ironie der Geschichte, dass sich Imre Nagy
in den ersten Tagen nach dem sowjetischen
Angriff mit Georg Lukács in der
jugoslawischen Botschaft versteckt hielt.
An einer
Verfemung für Imre Nagy und Georg Lukács
fehlte es nicht, nachdem die
Konterrevolution gesiegt hatte. Kádár zog
öffentlich über Nagy her: „Dieser Mann ist
zum Hampelmann der Konterrevolutionäre und
der Horthy-Anhänger geworden.“
Beide
wurden unter konspirativen Umständen nach
Rumänien ausgeflogen, wo ihr Prozess
vorbereitet werden sollte. Wie es sich
vorgetragen haben musste, mag heutzutage
unvorstellbar sein:
Nach
nächtlicher Verhaftung in Budapest 1956,
rasender Wagenfahrt mit verhängten
Fenstern zu einem unbekannten
Militärflugplatz, Abflug in einer
Maschine ohne Hoheitsabzeichen in ein
unbekanntes Land und Ankunft in einer
schloßartigen Villa an blinkendem
Meeresstrand, in der er lebte, halb
zeremoniös behandelter Staatsgast, halb
Zuchthäusler, noch immer ohne Kenntnis,
wo er sich überhaupt befand, sagte Georg
Lukács: Kafka war doch ein Realist.
|
János Kádár
verstand es hervorragend, sich taktisch in den
Ereignissen nach dem 4. November zurechtzufinden.
Der Unterstützung des Kremls sicher, spielt er nun
ein doppeltes Spiel, wobei er der sowjetischen
Armee die repressive Arbeit machen ließ und sich
selbst als “Versöhnler” darstellte. Er wusste um
die Macht und Stärke der Arbeiter*innenräte und
erkannte, dass er in dieser Phase eine Politik der
Zugeständnisse machen musste. Es war kein Zufall
also, dass er die Arbeiter*innenräte anerkannte:
Es gibt
Leute in Ungarn, die befürchten, dass diese
Regierung (Kádár) die Methoden der alten
kommunistischen Partei und ihres Systems der
Leitung wieder einführen würde. Es gibt keinen
Mann in führender Position, der an so etwas
denkt, denn selbst wenn er es wünschte, würde er
von den Massen weggefegt.
Oftmals wird der
4. November als Schlusspunkt der Ungarischen
Revolution angesehen, wobei missachtet wird, dass
vielmehr eine weitere Periode der Doppelmacht bis
Dezember andauerte und die letzten Räte gar erst im
Frühjahr 1957 aufgelöst beziehungsweise verboten
wurden. Auch die Kämpfe in den Städten gingen
weiter und wurden unter militärischen Aspekten mehr
als bravurös gegen eine der mächtigsten Armeen der
Welt ausgetragen. Doch diese Rote Armee erwies sich
als zu stark und konnte die vollständige Kontrolle
über das kleine Land wieder erlangen, freilich
erst, indem sie weite Teile selbst aus Zentralasien
dafür mobilisierte.
Es fehlt nicht an
Mut seitens der kämpfenden Massen; es fehlte auch
nicht an klassenbewussten Arbeiter*innen und last
but least fehlte es erst recht nicht an den
klassischen Klassenorganen des Proletariats, den
Räten, die das Herz dieser Revolution ausmachten.
Doch woran es fehlte, war eine Führung, die sich
nicht von den Manövern der Bürokratie täuschen
ließ; die einen Rückzug der kämpfenden Massen
anordnen und organisieren konnte – eine Führung,
die durch eine jahrelange und duldsame Schulung
auch in der Lage gewesen wäre, die Kader für eine
Regierungsübernahme zu stellen. Obwohl selbst nicht
kleine Teile der Basis der MDP an der Seite der
Massen kämpften, gab es keine Kraft, die nach dem
Eingangszitat von Leo Trotzki in der Lage gewesen
wäre, den “Staatsapparat zu säubern.” Nagy selbst
konnte einen solchen Apparat nicht hinter sich
versammeln, obwohl er (viel zu spät) am 1. November
mit der “Sozialistischen Arbeiterpartei Ungarns”
einen solchen Versuch unternahm.
Historische
Lehren
Was wir in der
Ungarischen Revolution sehen konnten, war die
eindrucksvolle Bestätigung der Notwendigkeit einer
politischen Revolution in den degenerierten
Arbeiter*innenstaaten. In seinem Buch “Die
verratene Revolution” schilderte Trotzki explizit
die Merkmale einer solchen Umwälzung:
“Die Revolution,
die die Bürokratie gegen sich selbst vorbereitet,
wird nicht wie die Oktoberrevolution von 1917
eine soziale sein. Diesmal gilt es nicht, die
ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft zu
ändern und die bestehenden Eigentumsformen durch
andere zu ersetzen. Die Geschichte hat in der
Vergangenheit nicht bloß soziale Revolutionen
aufzuweisen, die das Feudalregime durch das
bürgerliche ersetzten, sondern auch politische,
die, ohne die ökonomischen Grundlagen der
Gesellschaft anzutasten, die alte herrschende
Spitze hinwegfegten (1830 und 1848 in Frankreich,
Februar 1917 in Russland u.a.). Der Sturz der
bonapartistischen Kaste wird selbstverständlich
tiefe soziale Folgen haben, aber an sich wird er
im Rahmen eines politischen Umsturzes bleiben.”
Die Ungarische
Revolution war aber auch die Bestätigung für die
Notwendigkeit einer revolutionären Partei in solch
einem umfassenden Prozess. Sie ist die vielleicht
stärkste historische Mahnung an die internationale
Arbeiter*innenklasse, dass Räte als Form der
Selbstverwaltung und -organisierung zwar notwendig,
jedoch nicht ausreichend sind. Die Führung in Form
einer revolutionären Partei ist nicht durch die
Räte zu ersetzen – eine Negierung dieser
Unvermeidlichkeit verschließt die historischen
Lehren, für die das ungarische Proletariat bluten
musste.
Die Zerschlagung
dieser Revolution ist bis heute das Trauma des
ungarischen Proletariats geblieben. Während an den
“Volksaufstand” heute selbst von Regierungsseite
erinnert wird (freilich verfälschend und für die
bürgerlichen Zwecke instrumentalisierend), war die
Revolution von 1956 bis an das Ende des Stalinismus
ein Tabu. Im Gegensatz zu Polen etwa war die
Niederlage der Revolution so niederschlagend, dass
weitere Mobilisierungen der Massen ausblieben. Was
wir deshalb in der Niederschlagung der Ungarischen
Revolution analysieren können, ist die Zerstörung
einer revolutionären Kampftradition des ungarischen
Proletariats, welches bis dahin eines der aktivsten
und bewusstesten weltweit war. Die Niederlage ist
das Blutzeugnis, unter der das ungarische
Proletariat bis heute zu leiden hat.
Quelle:
https://www.klassegegenklasse.org/
|