Zur Geschichte der Moskauer Prozesse 1936/38

Gründe für die "Säuberung" der KPdSU

01/2017

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Text 1

Bei den Vorbereitungen zum Kriege gegen die UdSSR bedienten sich die imperialistischen Staaten der Vaterlandsverräter, der Trozkisten und der Bucharinleute. Die Gerichtsprozesse von 1935 bis 1938 zeigten, daß die Bucharinleute und dieTrozkisten schon seit langem eine vereinigte Bande von Volksfeinden, den Block der Rechten und der Trozkisten, gebildet hatten.

In Erfüllung des Willens ihrer Auftraggeber — der ausländischen Spionagedienste — hatten sich dieTrozkisten und die Bucharinleute das Ziel gesteckt, die Landesverteidigung zu untergraben, die auswärtige militärische Intervention zu erleichtern, eine Niederlage der Roten Armee vorzubereiten, die Sowjetunion zu zerstückeln, das Fernöstliche Küstengebiet der Sowjetunion an die Japaner, das sowjetische Belo-Rußland an die Polen, die Sowjetukraine an die Deutschen, den sowjetischen Norden an die Engländer auszuliefern, die Errungenschaften der Arbeiter und der Kollektivbauern zunichte zu machen und in der Sowjetunion die kapitalistische Sklaverei wiedereinzuführen. Die entlarvten Teilnehmer der konterrevolutionären trozkistisch-bucharinschen Terrororganisationen wurden vom Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs der Sowjetunion zum Tode durch Erschießen verurteilt.

Die verkappten Volksfeinde hatten nur deshalb so lange unentlarvt bleiben können, weil viele Parteimitglieder politisch sorglos gewesen waren.

Genosse Stalin wies auf die Notwendigkeit der unverzüglichen Liquidierung der politischen Sorglosigkeit hin. Indem er ihre Ursachen aufdeckte, hob er hervor, daß viele Genossen die kapitalistische Umwelt vergessen hatten, was sich die Volksfeinde zunutze machten. Genosse Stalin rief die Partei und das Sowjetvolk auf, die politische Wachsamkeit zu verstärken und den Bolschewismus zu meistern.

  • Aus: K.W. Basilewitsch u.a., Geschichte der UdSSR, Teil III, Moskau 1950, S.387

Text 2

Am 1. Dezember 1934 wurde Sergej Kirov, Mitglied des Politbüros, von dem jungen Kommunisten Nikolajew in Leningrad ermordet. Mit diesem einen Mord wurden fast sämtliche führenden Bolschewiki, die zu irgendeiner Zeit ihres Lebens zu Stalin in Opposition gestanden hatten, in Verbindung gebracht, auch diejenigen, die zur Zeit des Mordes bereits in Sibirien waren, und sie wurden alle ausnahmslos erschossen. Wie unsinnig die ganze juristische Konstruktion dieser Moskauer Prozesse auch war, so enthielten sie doch eine soziologische Seite, die von Bedeutung ist.

Der Mord an Kirov wurde von einem jungen Kommunisten begangen, der ganz offensichtlich nicht den geringsten Kontakt mit den alten Bolschewisten haben konnte, die insgesamt ihr ganzes Leben lang prinzipielle Gegner des individuellen Terrors gewesen sind. Gerade deshalb war dieser Mord ein Symptom dafür, daß auf der neuen, von Stalin geschaffenen Grundlage eine Opposition heranwuchs. Die Jugend, die Stalin glaubte hinter sich zu haben, die in seiner Ära groß geworden war, sie begann nun ebenfalls in Opposition zu gehen. Daß sie zum individuellen Terror griff, zeigte die Unreife ihrer Opposition. Daß diese kommunistische Jugend, die selbst zu den Privilegierten gehörte, begann, sich gegen den Terror Stalins aufzubäumen und ihn mit Terror zu beant­worten, war ein ernstes Symptom. Für Stalin lag eine große Gefahr darin, wenn die Verbindung dieser Jugend zu den alten Bolschewiki gelang. Wenn alle, die auf dem Boden der Stalinschen Privilegien groß geworden waren, jene Techniker, Facharbeiter, Traktoristen und Maschinisten auf den Dörfern eines Tages mehr als höheren Lohn, nämlich demokratische Rechte, die Anerkennung ihrer menschlichen Persönlichkeit fordern und sich mit den alten Bolschewiki verbinden würden, die immerhin noch eine gewisse Autorität im Lande genossen und zu natürlichen Führern einer solchen Bewegung werden konnten, dann war es mit der Herrschaft Stalins vorbei. Wie aber, wenn man die „Alten" vernichtete, wenn man den Kristallisationspunkt einer solchen möglichen Opposition zerstörte, dann würde es Jahre dauern, bis die Jugend aus sich heraus genügend Erfahrung sammeln würde, um mit diesem Regime abzurechnen.

Das war der eigentliche Sinn der Säuberungen, in denen das russische Volk soviel Blut lassen mußte, damit die Stalin-Bürokratie ihre Herrschaft bewahren konnte. Neben diesen rationalen Gründen gewinnt der Terror von einem gewissen Augenblick an einen absolut irrationalen Aspekt. Es kann ebensowenig gelingen, sämtliche Maßnahmen des stalinistischen Terrors rational zu erklären, wie es letzten Endes gelungen ist, etwa für die Ermordung von fast sechs Millionen Juden durch die Nazis eine verstandesmäßig einleuchtende Erklärung zu finden.

  • Aus: Jacob Moneta, Aufstieg und Niedergang des Stalinismus, Westberlin 1976, S.114f

Text 3

Zu viele Informationen und Einzelheiten fehlen uns noch, um die politischen Auseinandersetzungen jener Jahre erschöpfend erklären zu können. So sind wir immer noch gezwungen, auf Mutmaßungen und Hypothesen zurückzugreifen. Ich halte das im Rahmen einer historischen Rekonstruktion für durchaus legitim, zumal die Hypothesen durch das vorhandene Material bestätigt wurden. Es gibt einige Belege dafür, daß in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen stattfanden, da die Grundlagen der Politik der vorherigen Jahre zur Disposition standen. Einige sowjetische Parteiführer sprachen sich in mehreren Reden für eine Entspannung des innenpolitischen Klimas aus. Hierbei denke ich vor allen an die Reden von Kirow in Leningrad. Er sprach dort von der Notwendigkeit, sich mehr um die täglichen Bedürfnisse der Arbeiter, ihren Lebensstandard und ihre Probleme zu kümmern. Ordschonikidse lobte sowohl bürgerliche Spezialisten, die nach der Antiintellektuellenkampagne der zwanziger Jahre wieder eingesetzt worden waren, als auch trotzkistische oder altbolschewistische Wirtschaftsfachleute, die aus politischen Gründen in Ungnade gefallen waren. Er dankte ihnen für ihre Mitarbeit bei der Industrialisierung des Landes, so beispielsweise Lomindz. Diese Tendenz manifestierte sich von der Abschaffung der Lebensmittelkarten bis hin zum ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. Auch andere Dokumente dieser Zeit sind von Bedeutung: aus ihnen geht hervor, das Stalin gegenüber diesen Entspannungstendenzen sehr zurückhaltend war. In seinen damaligen Reden griff er große Teile der Partei an, und zwar nicht nur die Oppositionsgruppen der zwanziger Jahre. So attackierte er einmal ganze Teile der Partei, wie die alten Bolschewiki, dann polemisierte er wieder gegen große Teile der mittleren Funktionärsschicht, die er für alles, was im Lande nicht klappte, verantwortlich machen wollte. Man kann sogar sagen, Stalins Staats- und Parteikonzept lief jeder Entspannungstendenz absolut entgegen. Gerade in jener Zeit formulierte Stalin seine bekannte These vom Klassenkampf, der sich beim sozialistischen Aufbau verschärfte...

...  Auf dem XVII. Parteitag waren alle ehemaligen Oppositionellen wieder in das Parteileben integriert worden, wenn sie zu einem formellen Lob Stalins bereit gewesen waren. Nach dem Mordanschlag an Kirow richtete Stalin seinen allerersten Angriff einige Monate später gerade gegen sie. Einige Aspekte des Mordes an Kirow sind heute noch sehr mysteriös: Sicher ist, daß Stalin die Sache dazu be­nutzte, all jene zu bekämpfen, die eben erst wieder in die Partei integriert worden waren. Am Anfang traf es die Trotzkisten und die Sinowjewisten, dann alle anderen, einschließlich der Bucharinanhänger....

.... Stalin wollte ein für allemal jede Alternative eliminieren. Er hatte meh­rere tiefgreifende Krisen seiner Herrschaft bereits über­standen. Sowohl in Fragen der Landwirtschaft als in der Industrialisierung hatte er den Rückzug antreten müssen. Jederzeit konnte es neue Schwierigkeiten geben. Nach­dem Stalin alle seine Gegner im politischen Apparat entmachtet hatte, war seine Macht zwar praktisch abso­lut, aber ihre bloße physische Existenz stellte für ihn eine potentielle Gefahr dar. Stalin spürte, daß seine Macht trotz allem von heute auf morgen in Frage gestellt werden konnte. Offensichtlich fürchtete er vor allem die Männer, die Inbegriff der ruhmreichen Oktoberrevolution waren. Dabei dachte er zuerst an die Rote Armee. Die Säuberungen trafen später die militärischen Kader in großem Umfang.

Stalin schien von dem festen Willen getragen zu sein, jeden aus dem Weg zu räumen, der eines Tages beim Ausbrechen neuer Krisen seines Herrschaftssystems eine politische Alternative hätte verkörpern können. Dabei handelte er nicht so sehr in akuter Bedrängnis, sondern vor allem im Hinblick auf die Ungewisse Zukunft. So rechnete er sicher auch mit der Möglichkeit eines Krie­ges. Um der schwierigen Zukunft besser begegnen zu können, wollte Stalin sich die Machtmittel eines absolu­ten Herrschers sichern, damit seine Macht nicht mehr in Frage gestellt werden könne. Nach den Säuberungen schaffte es keine auch noch so starke Oppositionsbewe­gung mehr, zu einem tatsächlichen politischen Faktor zu werden. Stalin eliminierte jede vergangene und jede potentielle Opposition.

  • Aus: Guiseppe Boffa und Gilles Martinet: Marxistische Stalinismus-Kritik, Hamburg 1978, S.87-91, die zitierten Textteile aus dem Zwiegespräch stammen von G.Boffa.

Text 4

Erst die konkreten historischen Gegebenheiten, wie sie in der Sowjetunion der 20er und 30er Jahre wirkten, schufen die politischen, institutionellen und psychologischen Voraussetzungen dafür, daß eine so machtbesessene und zur schrankenlosen Gewaltanwendung bereite Persönlichkeit wie J. W. Stalin zum Zuge kommen konnte. Hätte Lenin zehn Jahre länger gelebt oder wäre der XIII. Parteitag 1924 seinem Rat gefolgt, Stalin als Generalsekretär abzulösen... Wäre Stalin nicht erst 1953, sondern schon 1933 gestorben und z. B. durch Kirow ersetzt worden... Es sind viele historische Varianten denkbar, die den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus ohne die Gesetzlosigkeiten und Verbrechen der Stalin-Zeit ermöglicht hätten.

Solche Gedankenspiele sind legitim. Aber wenn Stalin auch in keiner Weise eine „notwendige" Erscheinung gewesen ist, wenn es auch politische und personelle Alternativen zu ihm gegeben hätte - die objektiven Bedingungen, mit denen es Stalin zu tun hatte, hätten auch jedem anderen an der Spitze der KPdSU zu schaffen gemacht. Das zum einen. Und zum zweiten ist es leider so, daß J.W. Stalin aus der realen Geschichte des ersten sozialistischen Staates der Welt ebensowenig getilgt werden kann wie aus der der kommunistischen Weltbewegung. Die Geschichtswissenschaft kann diese historische Figur und die Zeit, die sie - im Guten wie im Bösen - wesentlich mitgeprägt hat, nicht voneinander trennen.

Text 5

In der SU und in den anderen sozialistischen Projekten ging es im Namen des Kommunismus nur um Produktionssteigerung durch Intensivierung von Arbeit. Sozialismus wurde als eine Gesellschaft aufgefaßt, die auf der Stufenleiter einer ständig sich erweiternden Reproduktion voranschreitet und in der die Surplusarbeit nur gerechter als im Kapitalismus verteilt werden sollte ("Die Müßigänger schiebt beiseite!"). Wurden Verringerung von Arbeitszeit, Senkung von Last und Mühen thematisiert, so schienen diese Aspekte ontologisch zur Arbeit zu gehören, die man mindern aber nicht aufheben konnte. Die (bewußte) Gestaltung der gesellschaftlichen (Reproduktions-)Arbeit blieb durch Partei und Staat besondert. Selbständige Gestaltung von Gesellschaft als Ganzes durch vergesellschaftete Individuen wurde gar nicht als gesellschaftlich notwendige Arbeit begriffen, da sie als jenseits von der Surplusarbeit angesiedelt erschien.

Dieses historische Konstrukt einer unfertigen Alternative zum Kapitalismus begründete sich nicht durch "Subjektivismus" oder gar durch eine "falsche Linie", auch lag es nicht an einem mangelhaften "proletarischen Standpunkt" oder "kulturellen bzw. zivilisatorischen Defiziten" .... , sondern war den materiellen Voraussetzungen geschuldet, in denen gesellschaftliche Arbeit vorwiegend nur als unmittelbare Produzententätigkeit daherkommen konnte. So glichen die sowjetischen Fabrikkonzepte dem Fordismus, und Hand- und Kopfarbeit waren wie im Taylorismus sauber voneinander getrennt. Während jedoch im Kapitalismus diese Strukturen im Prozeß der Wertvergesellschaftung und unter dem Druck von sozialen Kämpfen hervorwuchsen, mußten sie in der SU durch blutigen Despotismus von oben erzwungen werden. Während im Westen die Dynamik des Wertgesetzes diese Strukturen zersetzt und das Individuum zur Aneignung der allgemeinen Produktivkraft zwingt, konservierte der sozialistische Partei- und Staatsapparat gewaltsam den Widerspruch zwischen den besonderen und den gemeinschaftlichen Interessen auf der Grundlage einer als naturnotwendig bestimmten Arbeit. Gerade das "faktische Fehlen des Wertverhältnisses bzw. seine ungenügende Entwicklung" (Schlosser) verhinderten objektiv die Aufhebung dieses Widerspruchs, denn dies ist erst durch eine bestimmte Qualität der gesellschaftlichen Arbeit vorausgesetzt. Von ihrem Zustand hängt nämlich ab, ob das Individuum dauerhaft (da zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendig) Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse entwickelt, die auf die Gestaltung der Gesellschaft als Ganze gerichtet sind, und wodurch es sich als (vergesellschaftetes) Individuum überhaupt erst konstituiert. Dafür ist es notwendig, daß die gesellschaftliche Arbeit den "Schein bloßer Naturnotwendigkeit abgestreift hat" (Marx).

  • Aus: Karl Müller, Geschichtsbild der falschen Konkretheit,  Aufsätze zur Diskussion Nr. 57, Frankfurt/M 1993, S.95f