Die Kölner Ereignisse Stellungnahmen & Kommentare aus dem linken Spektrum

Gewalt gegen Frauen - kein Silvesterproblem ... und schon gar kein Vorwand für rassistische Hetze

Von Susanne Kühn

01/2016

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In Köln, Hamburg, München, Berlin und wahrscheinlich in vielen anderen Städten sind in der Silvesternacht hunderte Frauen von Männern angepöbelt, eingeschüchtert, bedroht wurden. Mindestens eine wurde sogar vergewaltigt. In Köln war das massive Ausmaß dieser Gewalttaten besonders hoch. Es gibt mittlerweile über hundert Anzeigen – oft wegen sexueller Belästigung in Verbindung mit Diebstahl und Raub infolge des sog. „Antanzens“. Dabei belästigten Männer einzelne Frauen massiv, während ihr Kumpan die Bedrohte beraubte.

Zahlen wie 53 Anzeigen in Hamburg (Stand 6. Januar) und auch in anderen Städten verdeutlichen, dass es sich bei sexuellen Übergriffen und Gewalt keineswegs um ein „Kölner“ Phänomen handelt.

Von Beginn an wurden Migranten für die Angriffe verantwortlich gemacht. Zuerst, heißt es, war von „Schwarzafrikanern“ und „Nordafrikanern“ die Rede. Nun sollen es vor allem syrische Flüchtlinge gewesen sein.

Bei allen medialen „Informationen“ und Augenzeugenberichten gibt es jedoch keine verlässliche Information über die Herkunft der Täter in Köln und anderswo. Natürlich kann niemand ausschließen, dass es sich bei den Gewalttätern um Gangs handelt, die organisiert und äußerst brutal Frauen sexuell angreifen, schlagen und ausrauben. Natürlich kann auch niemand ausschließen, dass in diesem Fall unter den jungen Männern viele Flüchtlinge sind.

Es handelt sich aber um kein „Flüchtlingsproblem“, wie es die Medien und erst recht rassistische Hetzer propagieren.

Im Morgenmagazin vom 7. Januar wies z.B. die Feministin und Bloggerin Anne Wizorek darauf hin, dass allein beim Oktoberfest jährlich 10 Vergewaltigungen angezeigt werden und die Dunkelziffer bei rund 200 liegt.

Seit Jahren ist außerdem bekannt, dass in Deutschland rund 40 Prozent aller Frauen und Mädchen Opfer sexueller Übergriffe, von sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen, wurden. Die Mehrzahl davon findet im „trauen“ Heim, in der Familie, in Beziehungen, unter Verwandten, Freunden und Bekannten statt.

Davon will die mediale Debatte jedoch nichts wissen. Während Linke in Presseerklärungen und Stellungnahmen zurecht vor einer stereotypen Schuldzuschreibung gegenüber „Flüchtlingen“, „Schwarzafrikanern“, „Muslimen“ warnen, haben bürgerliche Politiker und Medien sowie die extreme Rechte  die Übergriffe längst zur „Ausländerfrage“ gemacht.

Rassistischer Missbrauch sexueller Übergriffe

Dabei spielt die Boulevardpresse eine Vorreiterrolle. Die Bild-Zeitung gibt sich im neuen Jahr als Vorkämpferin der Frauen – freilich ohne auf deren tagtäglich sexistische Zurschaustellung zu verzichten.

Bild behauptet nicht, dass alle an sexistischen Übergriffen Beteiligten oder auch nur die Mehrzahl Flüchtlinge, Schwarzafrikaner oder Muslime wären. Aber, so der „fragende Rassismus“ unserer Zeit, trotzig: „Die Frage wird man ja noch stellen dürfen.“

So titelt Bild am 6. Januar „Warum berichten die Medien erst so spät?“, um sogleich mit den nächsten Fragen die Antwort zu suggerieren: „War es falsche Rücksichtnahme, weil die Täter offenbar aus arabischen beziehungsweise nordafrikanischen Ländern stammen? Weil einige von ihnen Flüchtlinge sein könnten?“

Der frühere CSU-Innenminister Friedrich, weiß Bild weiter zu berichten, vermutet gar ein „Schweigekartell“ und eine „Nachrichtensperre“, die dank Bild und anderer „durchbrochen“ werde.

Die „fragende“ Bild weiß anscheinend mehr als selbst die allzu migrantInnenfreundlicher Haltung unverdächtige Polizei. „Offenbar“ kämen die Täter aus „arabischen beziehungsweise nordafrikanischen Ländern“. Die Afrikaner sind auch alle „Schwarz“afrikaner, die Araber alle Muslime.

Werden an den ersten Tagen noch „Fragen“ aufgeworfen, so ist, jedenfalls bei der Bild, von einer vermeintlich „falschen Rücksichtnahme“ in den weiteren Artikeln nichts mehr zu spüren. Hier gibt es praktisch nur noch Täter aus dem Irak, Syrien, Pakistan und Nordafrika. Garniert werden diese „Enthüllungen“ mit jeder Menge „Insider-Berichte“ von PolizistInnen, die vom laxen Vorgehen gegenüber Migranten wissen wollen.

So stellen Bild und andere Kommentare der Boulevardpresse die Welt auf den Kopf. Vom tagtäglichen Rassismus deutscher Behörden, polizeilicher Schikanen gegen „Ausländer“, von Not und Verelendung von MigrantInnen, von Patriarchat und Sexismus, erst recht systematischer Frauenunterdrückung im Kapitalismus, wollen solche Enthüller natürlich nichts wissen.

Schuld an der Gewalt gegen Frauen sei eine angeblich „falsche Toleranz“ gegenüber Ausländern, „Menschen anderer Kultur“. Für diese „Schwarzen“, „Araber“, „Muslime“, „Türken“ wären Vergewaltigung und Missbrauch quasi normal. Weiße Männer tun das nicht – allenfalls als „Einzeltäter“. Daher wird über Silvester berichtet, über das Oktoberfest nicht.

Dabei sind die Angriffe vom Silvester eben nur die Spitze des Eisberges, des tagtäglichen Ausmaßes sexueller Gewalt. Pro Jahr werden in Deutschland 7000 bis 8000 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist weit höher. Nur gegen rund 1300 wird schließlich Anklage erhoben – gerade weil das Strafrecht vollkommen unzulänglich ist und die Ermittlungsbehörden alles andere als anti-sexistisch unterwegs sind.

Polizeiversagen und der Ruf nach noch mehr Polizei

Nicht nur Bild, die ganze bürgerliche Presse weiß vom „Polizeiversagen“ zu berichten. Innenminister de Maizière hat sich auch gleich an die Spitze der „Kritiker“ gestellt und fordert „Konsequenzen“.

Das hat bei den Polizeichefs und den Bullen-Gewerkschaften zu Entrüstung geführt. Schließlich wäre die Lage „unübersichtlich“ gewesen, de Maizière ohnedies nur ein Klugscheißer, der leicht reden können.

Der Polizei mangle es nämlich an Leuten. Die Bundespolizei würde an den deutschen Grenzen zu Österreich „zweckentfremdet“, weil es dort zu viele Flüchtlinge gebe, die von der „Willkommenskultur“ angezogen würden.

Mit der muss daher auch weiter zügig aufgeräumt werden. Den „Gutmenschen“ und ihrer „falschen Rücksichtnahme“ müsse endlich entschieden entgegengetreten werden: mit mehr Personal, mehr Repression und mehr „Konsequenz“, sprich möglichst raschen Abschiebungen von „kriminellen Ausländern“ oder solchen, die auch nur im Verdacht stehen, das zu werden.

Besonders abscheulich segeln AfD und andere offen rassistische Kräfte bis hin zu den offenen Nazis auf der Welle. So sieht sich der Thüringer Landeschef Höcke in seiner Hetze bestätigt, dass aufgrund der Refugees die „Angsträume“ „gerade für blonde Frauen“ immer größer würden. Auf ihrer Homepage fragt die AfD: „Ist ihnen nach der Welle an Straftaten und sexuellen Übergriffen Deutschland nun ‚bunt und weltoffen’ genug, Frau Merkel?“

Pro-NRW und die Pegida-Bewegung rufen gemeinsam mit der NPD zu Kundgebungen auf; in Düsseldorf soll eine erste „Bürgerwehr“ gegen MigrantInnen unter dem Vorwand der „Kriminalitätsbekämpfung“ gegründet worden sein. Rechtsradikale drohen offen damit, aufgrund der „Untätigkeit“ der Polizei die Sache „in die eigene Hand“ zu nehmen.

Bei aller Kritik am „Polizeiversagen“ kommen die Kritiker und Verteidiger des Staatsapparates jedoch auf eine gemeinsame Schlussfolgerung: Wir brauchen mehr Polizei auf deutschen Straßen – gegen gewalttätige, sexistische Migranten, gegen kriminelle Ausländerbanden. Und wir bräuchten härtere Gesetze gegen „straffällige Ausländer“, raschere Abschiebungen usw.

In diesen Chor stimmt auch die SPD ein. Justizminister Maas lässt über „raschere Abschiebungen“ von Kriminellen mit sich reden. SPD-Chef Gabriel fordert gar die „Haft im Heimatland“.

Sexismus, Rassismus, Barbarei

Bei der Kritik am rassistischen Diskurs über die reaktionäre Gewalt von Köln geht es nicht darum, zu bestreiten, dass in diesem Fall eine hohe Anzahl von MigrantInnen oder Geflüchteten an den Angriffen auf Frauen beteiligt gewesen sein mag.

Als InternationalistInnen und AntirassistInnen haben wir unsere Solidarität mit den Refugees nie daraus hergeleitet, dass diese „bessere“ Menschen sind, sondern vor allem Opfer eines kapitalistischen Systems, dessen Auswirkungen sie zur Flucht zwingen und dass der deutsche Imperialismus, die herrschende Klasse und die Regierung Profiteure und Mitverursacher dieses Elends sind.

Das heißt keineswegs, dass wir nicht ebenso entschieden gegen reaktionäre Einstellungen, Verhaltensweisen, sexistische Übergriffe von MigrantInnen eintreten wie in der gesamten Gesellschaft. Deren Bewusstsein ist, nicht anders als bei allen Männern und Frauen, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse beprägt, in denen sie leben müssen – und eine Änderung dieses Bewusstseins kann nur durch eine aktive, anti-rassistische und anti-sexistische ArbeiterInnenpolitik erfolgen, die nicht nur aufklärt und reaktionäre Ideen bekämpft, sondern vor allem die Verhältnisse, die sie hervorbringen.

Was von Seiten der bürgerlichen Öffentlichkeit, von Polizei und Sicherheitsexperten, von PolitikerInnen und erst recht von der rassischen/faschistischen Rechten passiert, ist das genaue Gegenteil. Sexismus, Frauenunterdrückung und erst recht Gewalt gegen Frauen (wie auch Bandenkriminalität) werden ethnisiert.

Damit wird einerseits der ohnedies wachsende Rassismus gegen Flüchtlinge, AfrikanerInnen, Muslime, AraberInnen usw befeuert – anderseits werden Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit weißer Männer entschuldigt. Dass die Kölner Polizei so spät eingegriffen hat, wird daher folgerichtig erst gar nicht mit dem bei der Polizei systematisch vertretenen Sexismus in Verbindung gebracht. Die 140 Einsatzkräfte in Köln hatten Berichten zufolge ihren „Schwerpunkt“ auf Eigentumsdelikte gesetzt statt auf den Schutz von Frauen. Das ist kein Zufall, sondern ist ebenso systembedingt wie die Untätigkeit gegenüber rassistischen und faschistischen Angriffen. Es ist daher blauäugig, auf den „Schutz“ der Polizei zu hoffen.

Welche Alternative?

Aber wie können wir der zunehmenden Gewalt gegen Frauen wirksam entgegengetreten? Die meisten „Ratschläge“, die in den letzten Tagen durch die Medien geisterten, zeichnen sich durch eine Mischung aus Allerweltsweisheiten und Hilflosigkeit aus. Ein gewisser Zynismus wie bei Kölns Oberbürgermeisterin Reker darf auch nicht fehlen. Ihr zufolge gebe es „immer eine Möglichkeit, eine gewisse Distanz zu halten, die weiter als eine Armlänge betrifft.“ Auch wenn sich Reker „missverstanden“ fühlte, so läuft ihr Ratschlag erstens darauf hinaus, nicht am „falschen Ort“ zu sein, läuft darauf hinaus, dass Frauen und Mädchen auch irgendwie Schuld seien, wenn sie nicht „eine gewisse Distanz“ halten würden. Zweitens bedient sie selbst ein rassistisches Bild, in dem „Distanzhalten“ vorzugsweise auf „Fremde“, Nicht-Deutsche bezogen wird.

Doch lassen wir diesen reaktionären Mist beiseite. Auch die anderen Vorschläge verbleiben hilflos, weil sie letztlich die Frage darauf konzentrieren, wie sich eine einzelne Frau umgeben von einer Überzahl verhalten soll. Natürlich sind alle individuellen Optionen in diesem Szenario sehr beschränkt – und es bleibt wenig übrig, als sich zu wehren, die Flucht zu ergreifen, nach Hilfe von PassantInnen oder nach der Polizei zu rufen.

Die Frage sexistischer Gewalt ist jedoch ein tief liegendes gesellschaftliches Problem, das durch Ratschläge für individuelles Verhalten – so sinnvoll sie im Einzelnen auch sein mögen – nicht zu lösen ist.

Vielmehr wirft die zunehmende sexuelle und sexualisierte Gewalt gegen Frauen die Frage nach der Organisierung von Frauen auf, danach, aktiv gegen Sexismus, Diskriminierung, Unterdrückung vorzugehen.

Das bedeutet erstens, dass innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, innerhalb der Linken, aber auch der anti-rassistischen Bewegungen und unter MigrantInnen die Frauenfrage nicht als „Nebenthema“ vorkommen darf, sondern ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen Kapitalismus und Imperialismus sein muss.

Um das sicherzustellen, brauchen Frauen nicht nur das Recht auf eigene Treffen und Strukturen – die eigene Organisierung von Frauen der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Schichten muss aktiv vorangetrieben werden. Es wäre naiv, sich vorzustellen, dass männlicher Chauvinismus in der ArbeiterInnenbewegung oder unter MigrantInnen einfach durch guten Willen und individuelle Überzeugungsarbeit verschwinden würde. Es braucht auch einen organisierten Zusammenhalt von Frauen, eine Bewegung, um gegen Chauvinismus oder gar Übergriffe vorzugehen, Frauen zu stärken und vor allem um eine aktive, öffentliche, anti-sexistische Kampfstruktur aufzubauen.

Eine solche Bewegung sollte von Beginn an einen klaren Klassenstandpunkt vertreten – sprich sich als eine proletarische Frauenbewegung konstituieren. Die Polizei ist offenkundig kein „Freund und Helfer“ der Frauen – und aufgrund ihres Rassismus schon gar nicht für MigrantInnen. Vielmehr sollten gegen sexistische Übergriffe, Anmache (aber auch anderes reaktionäres Verhalten im „eigenen“ Wohngebiet) Frauenorganisationen, fortschrittliche MigrantInnenorganisationen und die organisierte ArbeiterInnenbewegung selbst die Sache in die Hand nehmen und eigene Selbstverteidigungseinheiten gegen sexistische, rassistische, homophobe und andere reaktionäre Übergriffe bilden.

Das erfordert natürlich eine politische Initiative und Diskussion – und genau das wollen wir anstoßen.

Eine solche Bewegung braucht aber auch politische Forderungen. Eine sollte offenkundig die nach Selbstverteidigungstraining für Frauen (wie auch anderer von reaktionärer Gewalt bedrohter Menschen sein). Natürlich können Frauen auch heute schon Selbstverteidigungskurse machen – aber in der Regel nur gegen Bares und in ihrer knappen Freizeit.

Vielmehr sollten solche Kurse für alle kostenlos an Schulen, in der Ausbildung, im Betrieb gemacht werden – während der Arbeits-/Ausbildungszeit und bezahlt vom Unternehmen oder Staat. Kontrolliert und organisiert werden sollen sie nicht von der Polizei oder anderen Behörden, sondern von Gewerkschaften, Frauen- und MigrantInnenorganisationen.

Ein zweiter Aspekt müsste darin bestehen, dass neben anti-sexistischen Kampagnen und Aufklärung auch ein Kampf zur Verbesserung der sozialen Lage aller Teile der ArbeiterInnenklasse, vor allem aber der Flüchtlinge, MigrantInnen, Erwerbslosen und prekär Beschäftigten geführt wird. Das schließt den Kampf um die Enteignung leerstehenden oder zu Spekulationszwecken „genutzten“ Wohnraums wie ein Programm sozialen Wohnungsbaus unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle ebenso ein wie eine Kampagne für die Aufteilung der Arbeit auf alle zu tariflich gesicherten Bedingungen und mit einem Mindestlohn von 12.- Euro netto/Stunde.

Dieser Aspekt verdeutlicht auch, warum eine neu zu schaffende Frauenbewegung keine „Bewegung aller Frauen“ – von der Unternehmerin bis zur „illegal“ beschäftigten Billigjobberin – sein kann, sondern eine Bewegung der proletarischen, der lohnabhängigen Frauen sein muss.

Quelle: http://www.arbeitermacht.de/infomail/858/gewaltgegenfrauen.htm     | 9.1.2016