Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreichs Intellektuelle & Rechtsruck: Ein „geistiges Vakuum“ auf (Teilen) der Linken

01/2016

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Wo sind sie nur hin, all die kritischen Intellektuellen – in einem Land, in dem einstmals Geistesgrößen wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus und andere aktiv in die gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit eingriffen?

Frankreich durchlebt eine schwere politische Krise. Seit Mitte November 2015, als die aus dem Algerienkrieg stammenden Notstandsgesetze – als vorgebliche Reaktion auf die mörderischen Attentate vom 13. November 15 – in Kraft gesetzt wurden, nimmt das Land eine Sonderstellung innerhalb der entwickelten westlichen Demokratien ein. // Vgl. http://www.lemonde.fr/ Keine vergleichbare Demokratie in Europa wendet im Augenblick vergleichbare Regeln an, während Frankreich am 24. November d.J. den Europarat darüber informiert hat, dass es sich vorübergehend selbst von seinen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entbindet. // Vgl. http://www.europe1.fr// Die Regierung beruft sich dabei auf den Artikel 15 der EMRK, der einen solchen Rücktritt von ihren verbindlichen Regeln einem Staat im Kriegs- oder Katastrophenfall auf Zeit gestattet // vgl. http://www.lefigaro.fr //. Und dies in einem Land, in dem ohnehin eine fast beispiellose Machtkonzentration in wenigen Händen herrscht, aufgrund des seit 1958 bestehenden Präsidialsystems.
Die Kritik daran wächst, bleibt jedoch einer gesellschaftlichen Minderheit vorbehalten. Aus der Politik heraus rührt so gut wie niemand an den Entscheidungen, die auf Regierungsebene nach den Anschlägen getroffen wurden. Nur insgesamt sechs Abgeordnete auf der Linken votierten am 19. November 15 gegen die Verhängung des Notstands mit seinen potenziell weitreichenden Folgen, wie der Grüne
Noël Mamère // vgl. http://noelmamere.eelv.fr/ // und der junge Sozialist Pouria Amirshahi. In weiten Kreisen der politischen Landschaft ist man der Auffassung, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt für Kritik – ja, später vielleicht – und überlässt die Formulierung von Dissens den vermeintlich dafür zuständigen Akademiker-inne-n. // Vgl. http://www.lemonde.fr/ //

Unter Letzteren rührt sich tatsächlich etwas. Vor allem unter Juristinnen und Juristen, die quasi vom Fach her betroffen sind, mehren sich warnende und kritische Äußerungen über die Gesetzesbestimmungen. Und über die geplante Änderung an der Verfassung – die Vorlage dafür wurde am 23. Dezember 15 im Kabinett vorgestellt, die Parlamentsdebatte darum soll am 03. Februar 16 beginnen -, mit welcher der Notstand noch über die bislang geltende zeitliche Obergrenze von drei Monaten hinaus wird ausgedehnt werden können. Auch einzelne kritische Hochschullehrer wie der auf die Kolonialgeschichte und -verbrechen spezialisierte, sehr engagierte Politikwissenschaftler Olivier La Cour Grandmaison // vgl. https://blogs.mediapart.fr/olivier-le-cour-grandmaison/blog //, er trat am 17. Dezember 15 im Pariser Gewerkschaftshaus als Redner gegen den Ausnahmezustand auf, setzen sich sicht- und hörbar ein.

Doch diese Namen sind vor allem politisch engagierten Menschen und einem Spezialistenpublikum bekannt. Auch in der breiten Öffentlichkeit geläufige Vor- und Zunamen von Schriftsteller-inne-n, Publizisten oder Philosophinnen sucht man hingegen eher vergeblich. Entweder gibt es sie nicht, die „großen Namen“, denn im Vergleich zur Ära eines Jean-Paul Sartre, Louis Althusser oder Michel Foucault treten viele Denkerinnen und Denker heute eher als Spartenintellektuellen in ihrem Fachbereich und/oder in einem politischen Segment der Öffentlichkeit in Erscheinung. Was natürlichst auch und zuvörderst mit dem Medienbetrieb zu tun hat, in vorderster Linie mit dem Fernsehen, das nicht unbedingt die intelligensten oder kritischsten Köpfe auch zu den bekanntesten macht. Oder aber es gibt siem diese Intellektuellen, sie sind auch etwa über die TV-BIldschirme bekannt – und sind schlicht einverstanden mit dem, was geschieht. Bekannte Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy (den viele in Frankreich heute nicht nur aufgrund seines Finanzgebahrens als Multimillionär, sondern auch wegen seines Weit-sich-aus-dem-Fenster-Lehnens im Libyenkrieg 2011 heute weitaus eher negativ denn positiv sehen) haben am Ausnahmezustand und dem regierungsoffiziellen „Krieg gegen den Terrorismus“, mitsamt seinen konkreten Implikationen, nichts Grundsätzliches auszusetzen.

Dass es an kritischem Geist, an der Substanz bei vielen Intellektuellen fehlt – diese Feststellung trifft ein Teil der französischen Öffentlichkeit jedoch nicht erst vor dem Hintergrund der Mordattacken vom 13. November 15 sowie der politischen Maßnahmen, die als angeblich notwendige Reaktionen auf dieselben ausgegeben wurden.

Ein Rückblick auf einen lau-heißen Herbst

In den Herbstmonaten 2015 hatte sich das intellktuelle Klima zunächst deutlich aufgeheizt. „Der Krieg der Ideen ist erklärt – Antirassist, du verlierst die Beherrschung!“ hieß es beispielsweise auf dem Titel der Novemberausgabe von Causeur (ungefähr: Schwätzer), einem aggressiv neokonservativen bis reaktionären, erklärtermaßen »politisch unkorrekten« Monatsmagazin. Ein Krieg, den Elisabeth Lévy, die Herausgeberin des Magazins, in der Wochenendausgabe der Tageszeitung Le Figaro vom 07. November 15 allerdings schon wieder für beendet erklärte. Mit folgendem Ausgang: »Die lynchwütige Linke hat verloren!« Die Titelseite der Ausgabe ziert eine Fotomontage: Ein junger Mann mit Taucherbrille versucht, mit dem Baseballschläger einen Fernsehbildschirm zu zertrümmern, auf dem der Journalist und Kommentator Eric Zemmour zu sehen ist. Zemmours Tiraden zu Themen wie Einwanderung und nationaler Identität sind längst berüchtigt. Unter dem Bild heißt es: »Alain Finkielkraut antwortet auf die Hexenjagd« – gemeint ist jene, welche die sogenannten politisch Korrekten eröffnet hätten. In jüngster Vergangenheit sah der kulturkonservative und elitär-nostalgisch-larmoyante Philosoph Finkielkraut nicht nur das kulturelle Niveau durch den Einfluss von Massenkultur und neuen Kommunikationstechnologien bedroht, er äußerte sich auch betont negativ über Neuzuwanderung.

Bei der linksliberalen Tageszeitung Libération fühlte man sich plagiiert und verwies sogleich auf das Titelblatt einer Mitte Oktober 2015 erschienenen Wochenend-Ausgabe. // Vgl. http://www.liberation.fr/ // Abgebildet war der Rücken einer jungen Person, die einen Gegenstand auf einen TV-Bildschirm wirft, auf dem wiederum Eric Zemmour prangt. Die Überschrift dazu lautete: »Sie widerstehen den Réacs« – eine Kurzfassung für Reaktionäre. In dieser Ausgabe ging Libération auf die Suche nach Köpfen, die nicht dem konstatierten allgemeinen Rechtsruck der Intelligenzija im Lande anheimgefallen sind.

Das Ergebnis geriet zum Sammelsurium: Zehn ziemlich unterschiedliche Figuren wie der nationalismuskritische Historiker Nicolas Offenstadt, der Postkolonialismusexperte und Geschichtswissenschaftler Pap Ndiaye und der ansonsten eher als neokonservativ geltende Schriftsteller und Filmemacher Raphaël Glucksmann werden etwas unvermittelt nebeneinandergestellt. Das sozialliberale Wochenmagazin L’Obs (früher Le Nouvel Observateur) wiederum kritisiert dieses Vorgehen und kopiert es dennoch: »Wer sind die neuen Intellektuellen auf der Linken?« fragt die Titelseite // vgl. http://bibliobs.nouvelobs.com// und garantiert, in der Ausgabe fänden sich »null Prozent Finkielkraut, Zemmour und andere«.

Aber dafür ein ähnlich gemischtes Panoptikum. Man trifft beispielsweise auf den keynesianischen Wirtschaftswissenschaftler und Bestseller-Autor Thomas Piketty (»Das Kapital im 21. Jahrhundert«), der gegen allzu große soziale Ungleichheit anschreibt, aber vor allem den Kapitalismus retten will, auch vor sich selbst; den durch geschwollene Revolutionsromantik bekannt gewordenen Philosophiedoktoranden Julien Coupat, aber auch auf den für fundierte Analysen zur Ethnisierung sozialer Verhältnisse und Urbanismus bekannten Soziologen Eric Fassin. L’Obs hält jedoch zugleich die Methode der Kollegen von Libération für ungeeignet: »Nach Jahren, in denen man engagiertes Denken kritisierte (…), sucht man nun mit aller Kraft nach kämpferischen Linksintellektuellen. (…) Der Linksintellektuelle wurde auf einmal zur geschützten Spezies. Man versucht, ihm ein Biotop einzurichten, man verwöhnt ihn. Man kann jedoch schwerlich ignorieren, dass man auf diese Weise nicht Löwen züchtet, die einen ideologischen Guerillakrieg gegen die Lautsprecher der gefährdeten französischen Identität oder die kulturelle Verunsicherung führen« – mit erstem ist Zemmour gemeint, letzteres bezieht sich auf Finkielkraut –, »sondern nur gefügige Zuchtschafe.«

Allen gemeinsam ist die mal als pointierte geistige Kampfaufforderung, mal mit viel Larmoyanz und Katzenjammer vorgetragene Feststellung, dass es die großen, fachlich anerkannten und zugleich politisch oder sozial engagierten Intellektuellen vom Format eines Jean-Paul Sartre, Michel Foucault oder auch Pierre Bourdieu nicht mehr gebe. Auf der Linken herrsche, gemessen an jenen Geistesgrößen verflossener Zeiten, ein geistiges Vakuum. Gefüllt werde es von rechten, konservativen, reaktionären und populistischen Gestalten. Oder von solchen, die von links nach rechts herüberwanderten wie der nunmehrige Anhänger eines republikanischen starken Staates Régis Debray.

Onfray driftet

Die Feststellung eines Rechtsrucks bei einem Teil der französischen Intellektuellen machte sich in den letzten Wochen aber vor allem an Michel Onfray fest. Er bildet in der jüngsten Zeit einen der am stärksten in den Medien präsenten Intellektuellen.

Onfray stammt aus ärmlichen Verhältnissen und baute seirt 2002 die Université populaire im normannischen Caen auf, eine Art Volkshochschule mit gesellschaftspolitischen Inhalten, die der Verbreitung von Konepten und Ideen dient. In jüngster Zeit erwies er sich zunehmend als fernsehkompatibel und der Vulgarisierung von Inhalten nicht abgeneigt. Onfray kommt ursprünglich aus der libertären Linken, noch 2007 rief er zur Wahl des linken Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot auf. Seit kurzem betont er aber, nicht länger an einen Umsturz des Kapitalismus zu glauben. Neben ursprünglich stark im Vordergrund stehenden antiautoritären, teilweise individualistischen Ansätzen bilden der Atheismus und das Zurückweisen jeglicher Suche nach Transzendenz zentrale Elemente seines Denkens – auch wenn diese Positionen in Widerspruch zu gerieten schienen, als er im Frühherbst dieses Jahres ein Lob auf »laizistische Diktatoren im Nahen und Mittleren Osten« anstimmte. Als dezidierter Gegner westlicher Militäreinsätze behauptete Onfray dabei, gegenüber der Barbarei solcher Interventionen und jener der Jihadisten seien manche Regimes – unausgesprochen waren wohl das vormalige libysche und das amtierende syrische Folterregime gemeint – das kleinere Übel.

In einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro vom 11. September 15 // vgl. http://www.lefigaro.fr/ // hatte er unter anderem einen Gegensatz aufgemacht zwischen »dem französischen Volk, meinem Volk«, das durch die politische Klasse zugunsten einer proeuropäischen Orientierung und des Wirtschaftsliberalismus »im Stich gelassen, aufgegeben« werde – und der angeblichen privilegierten Behandlung von Neuzuwanderern.

Manche Passagen erinnern etwa an einen deutschen Rechtspropagandisten Jürgen Elsässer // vgl. http://nopegida.blogspot.de/2015/05/jurgen-elsasser-rechtspopulist-und.html // , als dieser mit seiner Behauptung, Randgruppen würden privilegiert, vor nunmehr zehn Jahren politisc abzudriften begann. Bei Onfray heißt es: »Das französische Volk wird missachtet, seitdem François Mitterrand im Jahr 1983 den Sozialismus auf den Kurs des wirtschaftsliberalen Europas brachte. Dieses Volk, unser Volk, mein Volk wird zugunsten von Ersatz-Mikrovölkern vergessen, zugunsten der Ränder, die das Postachtundsechzigerdenken feierte – die Palästinenser und die Schizophrenen von Deleuze, die Homosexuellen, die Verrückten und die Gefangenen bei Foucault, die Mischlinge bei Hocquenghem und die Ausländer bei Schérer, die illegalisierten Migranten (sans papiers) bei Badiou.«

Indirekt rechtfertigt Onfray an derselben Stelle auch den Teil der französischen Bevölkerung, der für Marine Le Pen stimmt, oder rationalisiert jedenfalls dessen Verhalten, das allein auf wirtschaftliche Not zurückgeführt wird: »Dass ein bankrotter Landwirt, ein Langzeitarbeitsloser, ein junger Hochschulabgänger ohne Stelle, eine alleinerziehende Mutter, eine Kassiererin mit Mindestlohn, ein Älterer mit geringer Rente, ein Handwerker kurz vor der Pleite sagen: ›Und was tut man für mich, während man die Verbrüderung mit der aufgenommenen ausländischen Bevölkerung in den Abendnachrichten des Fernsehens feiert‹ – ich sehe darin nichts Obszönes. Auch keine Fremdenfeindlichkeit. Nur ein Leiden. Die Republik darf nicht taub für die Leiden ihrer eigenen Leute sein.«

Vier Tage später erschien in Libération eine mehrseitige Entgegnung // vgl. http://www.liberation.fr/ // von Laurent Joffrin, dem Herausgeber der Zeitung. Er argumentierte für die Anerkennung und Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten und wandte sich gegen die Vorstellung, es gebe zwischen ihrem geringen Erfolg und angeblichen Großzügigkeiten gegenüber Ausländern eine Verbindungslinie. Der Artikel wiederum führte bei der sich als antikonformistisch verstehenden, oft schwülstig-patriotischen Wochenzeitschaft Marianne zu einem wütenden Aufschrei.

Eine Zensur durch die politischen Korrekten sei am Werk, man dürfe auch gar nichts mehr sagen, tönte es von dort, weinerlich und zornig zugleich. Und flugs organisierte die Chefredaktion, unter Leitung des Zeitungsgründers Jean-François Kahn, für den 20. Oktober 2015 eine Diskussionsveranstaltung. Unter dem Titel »Kann man in Frankreich noch debattieren?« wurde in den 1 500 Menschen fassenden Mutalité-Saal geladen.

Die Veranstaltung – der Verfasser dieser Zeilen verschwendete einen vollen Abend auf sie - geriet zum obereinlichen Megaflop. Eigentlich hatte sie dazu dienen sollen, die angeblich durch die Gutmenschen verriegelten Fenster zu öffnen und den frischen Wind offener Diskussionen ins Land wehen zu lassen. Tatsächlich aber trugen zehn ausgewählte Persönlichkeiten viertelstündige Besinnungsaufsätze vor, die sich in keiner Weise aufeinander bezogen und die man ohne inhaltlichen Verlust auf ein oder zwei Sätze hätte zusammenkürzen können. Der liberale Journalist Jacques Julliard etwa behauptete in seiner langatmigen Rede, in Frankreich arte eine Debatte immer gleich in einen geistigen Bürgerkrieg aus – so wie die Revolution von 1789 direkt eine Konterrevolution hervorrief. Stattdessen müsse man doch mal über alles in Ruhe reden können. Onfray, dem angeboten worden war, teilzunehmen und auf den Artikel in der Libération zu antworten, erschien nicht; mit der Begründung, Artikel über sich lese er grundsätzlich nicht.

Gegen 23 Uhr wurden die Saalmikrophone gereicht, »für ein paar Fragen, aber bitte kurz, denn in zehn Minuten muss der Saal freigegeben sein«. Zahlreiche Medien berichteten im Anschluss über die empörten Wutschreie des Publikums. Angesichts der acht kurzen Beiträge aus dem Publikum lässt sich jedoch vermuten, dass einem so eher etwas erspart geblieben ist. Fast ausschließlich Verschwörungstheoretiker, radikale Europagegner und Antisemiten, Fans von Alain Soral und Dieudonné M’bala M’bala meldeten sich zu Wort. Letztere waren offensichtlich zuhauf vom Thema angezogen worden.

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.