Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Djihad in Paris 

01-2015

trend
onlinezeitung

  • Zu den Hintergründen der Mordaktion bei ,Charlie Hebdo’ und im koscheren Supermarkt an der Porte de la Vincennes

  • Zum Vorleben der Täter, zur Ursachendiskussion und zu (sehr) unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen in der aktuellen Debatte

Die Mordaktion dauerte fünf Minuten, danach waren elf Menschen tot. Ein zwölfter, ein Polizeibeamter, starb wenige Minuten später beim Rückzug der Täter: Beim Eintreffen der Polizei kam es zu einem Schusswechsel. Am Mittwoch, den 07. Januar 15, eine halbe Stunde vor Mittag, wurde die Redaktion der für Satire und Karikaturen bekannten Wochenzeitung Charlie Hebdo im 11. Pariser Bezirk von zwei schwerbewaffneten und maskierten Attentätern angegriffen. Diese waren mit Kalaschnikows und Panzerfäusten ausgestattet und eröffneten das Feuer auf ihre, zur wöchentlichen Sitzung versammelte Redaktion. Ein Teil von ihr konnte glücklicherweise auf das Dach entkommen, einzelne Mitglieder überlebten auch unter Tischen versteckt, wieder andere aufgrund ihres Zu-Spät-Kommens bei der Redaktionssitzung. Alle Opfer wurden mit dem Gesicht nach unten liegend aufgefunden, wurden also in den Rücken geschossen. (Die Attentäter gingen, in den ausgesprochen engen Räumlichkeiten am Sitz der Zeitung, feuernd um den Redaktionstisch herum.)

Zehnjähriger Vorlauf

Der politisch-ideologisch-kriminelle Vorlauf der Täter dauerte zehn Jahre. Identifiziert wurden die beiden alsbald als die beiden Brüder Chérif und Said Kouachi, 32 und 34 Jahre alt. Angeblich, weil einer von beiden einen Personalausweis in dem zuerst benutzten Fluchtauto zurückgelassen haben sollen, als die flüchtigen Attentäter im Nordosten von Paris das Fahrzeug wechselten.

Daran hängen sich schon seit dem darauffolgenden Tag im Internet, in Cafés und Bürogesprächen zahlreiche Verschwörungstheorien auf: Da sehe man es doch, dieser Hergang sei doch unwahrscheinlich, und erinnere an den angeblich in den Trümmern des Word Trade Center und in der Asche des von ihm gesteuerten Flugzeugs gefundenen Pass des Todespiloten Mohammed Atta. Professionelle Verschwörungsideologien wie der Oberspinner Thierry Meyssan – ihm zufolge führt die Spur der angeblichen False Flag-Operation, wie könnte es anders sein, in die USA und nach Israel – basteln daraus ihre angeblichen „Zweifel an der offiziellen Theorie“. In Teilen der Gesellschaft, die sich von den offiziellen Eliten abgehängt fühlen, findet dies in Zeiten des Internet - über welches sich diverseste Gerüchte in Windeseilen verbreiten: Nach dem 11. September 2001 gingen sie innerhalb von Tagen um, nach dem 07. Januar 2015 jedoch innerhalb von Stunden – auch manchen Widerhall.

Wahrscheinlich ist, dass die Polizei die Täter schlicht auf anderem Wege als durch einen zurückgelassenen Ausweis problemlos ermitteln konnte, etwa durch digitale Gesichtserkennung mit Überwachungskameras – die Augenschlitze der vermummten Täter lassen dennoch die Iris der Augen erkennen – und Abgleich mit vorhandenen Dateien. Nur will die Polizei ihre Ermittlungsmethoden nicht in der Öffentlichkeit aufdecken.

Zelle des Butte-Chaumont-Viertels“

Dass die Behörden einige Daten über die Brüder Kouachi eingespeichert hatten, ist mehr als plausibel. Chérif Kouachi, der jüngere aber stärker ideologisch verhärtete Bruder, war im Jahr 2008 wegen als terroristisch eingestuften Straftaten zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Dass er entsprechend als polizeibekannt eingestuft wurde, nimmt also kein Wunder, in den USA stand er auf einer Flugverbotsliste.

Seit 2004 war Chérif Kouachi im 19. Pariser Bezirk in einer Zelle aktiv gewesen, die im Laufe des späteren Strafverfahrens als „die Seilschaft vom Viertel Buttes-Chaumont“ bekannt wurde. Die Buttes-Chaumont sind ein Park im Nordosten von Paris, der im Zweiten Kaiserreich angelegt wurde. Der jüngere der beiden Brüder kam in dem umliegenden Stadtteil über Moscheebesuche in Kontakt mit dem selbsternannten Prediger Farid Benyettou. Er besuchte zunächst die „offizielle“ Moschee Ad-Dawaa im Stadtteil rund um die Métro-Station Stalingrad, machte sich aber später selbständig, nachdem er eine Schar von jungen Getreuen um sich gesammelt hatte, und predigte in Privatwohnungen und Arbeitslosenheimen. Der junge Salafist (Benyettou) wiederum stand über seinen Schwager Youcef Zemmouri im Kontakt mit Ableger des radikalen und bewaffneten Islamismus aus Algerien, die in den frühen neunziger Jahren in Frankreich Fuß zu fassen versuchten. Mit Attentaten auf öffentliche Verkehrsmittel – die Pariser Métro, den Vorortzug RER und einen versuchten Bombenanschlag auf den Hochgeschwindigkeitszug Paris-Lyon – versuchten diese 1995/96, den bewaffneten Kampf ihrer Gesinnungsbrüder in Algerien zu unterstützen und den Krieg in die frühere Kolonialmetropole Frankreich zu tragen. Der harte Kern des Milieus wurde jedoch ausgehoben, und einer seiner Anführer, Khaled Kelkal, wurde im Umland von Lyon erschossen.

Die Zelle funktionierte wie eine Sekte, die ihre Anhänger einer Art Gehirnwäsche unterzog, immer stärker den Rhythmus auch ihres Alltagslebens prägte und sie zum Bruch mit Familie, Freunden und Beziehungen veranlasste. Chérif Kouachi war bis dahin sozial und psychisch instabil. Der in Paris geborene, als Kind in katastrophalen Verhältnissen (mit einem abwesenden Vater und einer Mutter, die sich prostituierte, um über die Runden zu kommen, bevor sie Selbstmord beging, vgl. http://www.reporterre.net/L-enfance-miserable-des-freres ) und später in Rennes als Waise aufgewachsene junge Mann hatte es beim Heranwachsen nicht leicht gehabt. Als junger Erwachsener interessierte sich zuvor eher für Kiffen, Trinken, Ausgehen und Mädchen. Aus seiner Sicht schien es ihm jedoch schwer, Lebensregeln und Grenzen zu finden. Da er offensichtlich eine Art „innerer Leere“ verspürte und zugleich wohl als autoritärer Charakter strukturiert war, schien ihm die neue Gruppe aus seiner Sicht einen neuen „Halt im Leben“ zu verleihen.

Internationale Verbindungen

Gleichzeitig schuf das kleine Netzwerk aus einigen Dutzend Personen, das Benyettou rund um sich aufbaute, immer stärkere internationale Kontakte. Nachdem es ursprünglich eher mit dem bewaffneten Islamismus in Algerien verbunden war, schlug es nun Brücken zu Jihadisten im seit 2003 besetzten ’Iraq (eingedeutscht Irak) und rekrutierte Aspiranten für den bewaffneten islamistischen Kampf auf dem dortigen Kriegsschauplatz.

Auch Chérif Kouachi wollte im Januar 2005 über Syrien in den Irak fliegen, wurde jedoch wenige Tage zuvor festgenommen. Die Gruppe wurde ausgehoben, Kouachi im Jahr 2008 zu drei Jahren verurteilt, die Strafe war jedoch mit der Untersuchungshaft abgegolten. In der Haftanstalt war er jedoch in Kontakt mit anderen Jihadisten gekommen, unter ihnen dem ebenfalls algerischstämmigen Djamel Beghal, der bereits im Jahr 2000 In Afghanistan gewesen war. Er saß eine zehnjährige Haftstrafe wagen der Planung eines Anschlags auf die Pariser US-Botschaft im Jahr 2001 ab. Nachdem Beghal im Jahr 2009 auf gute Bewährung entlassen wurde, traf er im April des darauffolgenden Jahres in der tiefsten französischen Provinz mit Chérif Kouachi zusammen. Aufnahmen von polizeilichen Beobachtern, die nunmehr durch die Presse gingen, zeigen die beiden im Laufschritt, denn ihre Treffen tarnten sie als Fußballspiele und Jogginggänge, während derer sie sich unterhielten.

Daran nahmen auch noch zwei weitere Personen teil, die nun in die Schlagzeilen gerieten, Amedy Coulibaly und seine Freundin (bzw. seit 2009 vor einem Imam, aber nicht standesamtlich, angetraute „Ehefrau“) Hayat Boumediennne. Man sieht die beiden Letzteren auf Fotos von damals, wie sie trainieren, beim Pistolenschießen für Monsieur, als Armbrust-Schützin für Madame. Aufnahmen aus den beiden Jahren zuvor, 2008 und 2009, zeigen Coulibaly und Boumedienne noch beim Urlaub in der Dominikanischen Republik und anderswo. 2008 trägt Boumedienne noch Bikini, im Jahr 2010 eine Vollverhüllung. Beide waren zwischenzeitlich tief in die Sekte eingetaucht.

Der Jihadist Coulibaly

Amedy Coulibaly war seit Jahren in kleinkriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen, bevor er im und über das Gefängnis in Kontakt mit dem djihadistischen Milieu kam. Der sprichwörtliche Ausdruck im Französischen, wonach die Haftanstalt mitunter als „Schule des Verbrechens“ dienen könne, trifft in seinem Falle auf manifeste Weise zu. Den Beginn eines Prozesses, der ihn zu einem ebenso immensen wie diffusen Hass auf das (von ihm in seinen Strukturen unverstandene) „System“ brachte, markiert wohl das Jahr 2000: Damals wurde sein bester Freund in einem Pariser Vorort zum Opfer von Polizeigewalt; der Polizist, der ihn tötete, wurde nie strafrechtlich belangt, vgl. http://www.larepublique77.fr/
 

Coulibaly wurde vergangene Woche aktiv, während die Polizei sich auf Verfolgungsjagd mit den beiden Brüdern Kouachi befand. Er nahm am Freitag insgesamt 17 Personen Personen als Geiseln im jüdischen Supermarkt HyperCacher im Südosten von Paris. Bei Gesprächen mit Fernsehsendern und der Polizei am Telefon stellte er mehr oder minder wirre Forderungen: Mal forderte er, Frankreich müsse „seine Soldaten als allen islamischen Staaten abziehen“, und mal, die Polizei müsse „die Brüder Kouachi in Ruhe lassen“. Er bekannte sich offen dazu, mit ihnen in Verbindung zu stehen, und hatte vor dem Beginn der Geiselnahme ein Bekennervideo aufgezeichnet. Dank eines schlecht eingehängten Telefons konnte ein Fernsehsender zudem die Gespräche zwischen Coulibaly und seinen Geiseln mithören. Er sagte diesen, er habe nichts gegen Juden, aber sie seien schuldig, weil sie ihre Steuern zahlten und Frankreichs Kriege gegen die Gläubigen im Irak, in Syrien und in Mali unterstützten: „Ich zahle meine Steuern nicht!“ Und er behauptete, es sei eine Verleumdung, dass die Jihadisten in Nordmali Übergriffe gegen die Bevölkerung verübt hatten; vgl. beispielsweise http://www.lefigaro.fr - . Im Gegensatz zu dieser Selbstdarstellung als vermeintlicher „Widerständler gegen das Imperium“, dem es eher auf die Makrostrukturen und nicht auf das Jüdisch-Sein seiner Geiseln ankomme, steht jedoch das Bekennervideo, das posthum veröffentlicht – d.h. am Freitag, den 09. Januar im Internet gepostet – wurde. Darin wird auf einem Textband am unteren Bildrand klipp und klar verkündet: „Er (Coulibaly) nimmt 17 Geiseln im jüdischen Supermarkt HyperCacher und richtet fünf Juden hin.“ Die Vermischung beider bzw. aller drei Ebenen (eine Selbststilisierung als Widerständler gegen böse Unterdrückermächte, eine Vision vom mehr oder minder apokalyptischen Religionskrieg, und Brutalität auch gegen wehrlose Zivilisten) ist typisch für Jihadisten.

Coulibaly war Franzose und in Frankreich aufgewachsen wie auch die Brüder Kouachi, seine Eltern stammen aus Mali. Dorther stammt übrigens auch der Supermarktbeschäftigte Lassana Bathily, der seinerseits fünfzehn der überwiegend jüdischen Kunden (unter ihnen befand sich nach vorliegenden Informationen lediglich ein nichtjüdischer Ladenkunde) schützte und ihnen möglicherweise das Leben rettete, indem er sie in einem Kühlraum versteckte und den Kältemotor abstellte. Er gilt nun als Held. Der aus Mali stammende Muslim wurde beim Verlassen des Supermarkts zunächst... durch die Polizei in Handschellen gelegt, die ihn für einen „Komplizen Coulibalys“ hielt. (Gemeinsame Abstammung begründet Vorurteile?) Die Wahrheit stellte sich jedoch schnell heraus. Der heute 26jährige Bathily war früher ein „illegaler Einwanderer“, und im Alter von 16 Jahren nach Frankreich gekommen. Am 20. Januar 15, wird ihm nun die französische Staatsbürgerschaft verliehen, als „Belohnung“ von Amts wegen.

Die Geiselnahme wurde am Spätnachmittag des Freitag (09. Januar) beendet, ungefähr zeitgleich mit der Flucht der Brüder Kouachi, die sich in einer Druckerei nordöstlich von Paris verschanzt hatten. Die Polizei erstürmte die beiden Orte, dies endete mit dem Tod der drei Geiselnehmer; lebend hätten sich die Jihadisten auch wohl kaum festnehmen lassen;. (Der Verfasser dieser Zeilen wurde, unfreiwillig, aus 300 bis 400 Metern Entfernung Zeuge des Sturms auf den belagerten koscheren Supermarkt.) Im Umfeld von Coulibaly wurden am Abend des Donnerstag, 15. Januar d.J. zehn Personen, Personen mit kriminellem Vorlauf und mögliche Komplizen, festgenommen.

Wie aus dem Bekennervideo von Coulibaly sowie den Ansprachen der Brüder Kouachi an die angegriffene Redaktion von Charlie Hebdo – bevor sie dort das Feuer eröffneten – hervorgeht, stellten die drei sich in den Kontext des internationalen bewaffneten Islamismus. Aber mit unterschiedlichen Referenzen: Die Brüder Kouachi sagten zu ihrer Opfern, sie seien „von Al-Qaida“, und die Mitarbeiter von Charlie Hebdo müssten nun „bezahlen“, weil ihre Zeitung durch Karikaturen „den Propheten beleidigt“ habe. Hingegen behauptete Coulibaly, im Auftrag des selbsternannten Kalifatsstaats des IS in Syrien und im Irak zu handeln.

Bereits am 02. Januar d.J. war seine Lebensgefährtin Hayat Boumedienne – die er im Jahr 2009 vor einem Imam, aber nicht zivilrechtlich ehelichte – über Spanien in die Türkei, und von dort weiter nach Syrien ausgereist. Dort hält sie sich nun mutmaßlich seit dem 08. Januar 15 in dem Bürgerkriegsland auf, ausweislich der Verbindungsdaten ihres Mobiltelefons, wie die türkische Regierung mitteilte. Ihre Ausreise war offensichtlich vorab organisiert und mit Coulibaly, in der Woche vor den mörderischen Attentaten, abgestemmt: Letzterer brachte Boumedienne persönlich zusamen mit vier weiteren Personen nach Madrid // vgl. http://www.lexpress.fr/ //, von wo aus sie dann ohne ihn nach Istanbul weiterflog. Allerdings nicht allein. Dorthin reiste sie, wie Fotoaufnahmen am Flughafen von Istanbul (asiatische Seite) belegen, mit einem jungen Mann und Gesinnungsgefährten: Man sieht auf den Aufnahmen der Flughafenkameras die tiefverschleierte Boumedienne in Begleitung des 23jährigen Mehdi Belhoucine. Bekannter war bislang dessen älterer Bruder Mohamed Belhoucine. Diese Personalie verweist auf ein weiteres in Frankreich aktives Netzwerk, das im vergangenen Jahrzehnt jihadistische Kombattanten nach Afghanistan zu schleusen versuchte – noch eine weitere internationale Connection.; vgl. zu http://www.francetvinfo.fr

Während Al-Qaida und der IS sich vergangenem Jahr erbitterte Rivalitäten liefern, bei welcher der IS unter Al-Baghdadi das von Ussama Bin Laden aufgebaute Netzwerk Al-Qaida tendenziell abzuhängen drohte, scheint die Zelle in Frankreich von sich aus Kontakte in unterschiedliche Richtungen aufgebaut zu haben.

Hieß es zunächst, laut polizeilichen Informationen habe Chérif Kouachi Zeit seines Lebens das französische Staatsgebiet nie verlassen, gilt nun als wahrscheinlich, dass er und sein Bruder sich im Jahr 2011 für vierzehn Tage im Jemen aufhielten und eine militärische Ausbildung bei der dort stark verankerten Gruppierung „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ erfuhren. (Letztere Struktur hat inzwischen auch formal die Bekennerschaft für den Anschlag auf ,Charlie Hebdo’ übernommen.) Mutmaßlich reiste Chérif Kouachi – der damals unter Justizkontrolle stand und sich einmal monatlich bei einer Polizeistelle melden musste - mit dem Pass einer anderen Person dorthin. Offensichtlich wurden also von einer autonom handelnden Zelle aus Kontakte und Querverbindungen im internationalen Raum geknüpft, die über die Gräben der Konkurrenzkämpfe zwischen internationalen Strukturen hinwegreichen.

Ursachendebatte – und Hetze

Die Diskussion nach den Ursachen hat noch kaum begonnen. Die rechtesten Strömungen in der französischen Gesellschaft, an die nun der Front National anzuknüpfen versucht, sprechen von einem „Ausländerproblem“ und suchen die Schuld in der Anwesenheit von Moslems auf französischem Boden. Das ist natürlich grundfalsch, denn sowohl die beiden Brüder Kouachi als auch Coulibaly waren in Frankreich geboren, aufgewachsen und sind weitgehend Produkte der französischen Gesellschaft. Ferner sind sie natürlich nicht repräsentativ für die in Frankreich lebenden Muslime als solche – die salafistisch-djihadistischen Strömungen, denen sie angehörten, umfassen einige Hundert Personen und werden durch den Großteil der in Frankreich lebenden Muslime scharf abgelehnt.

Aber auch eine Ursachendiskussion, die die Gründe vor allem in Diskriminierung und der Ghettosierung von Trabantenstädten sucht, greift in diesem Falle nicht. Zwar war Coulibaly ein Kind von stark ghettoisierten Vorstädten und wuchs in Grigny, einem echten sozialen Brennpunkt südlich von Paris, auf. Auch in der Biographie von Khaled Kelkal in den neunziger Jahren waren eine Vorstadtbiographie und, in seinem Fall, manifeste Diskriminierungserfahrungen markant – Kelkal hatte drei Jahre vor seinem Tod dem deutschen Soziologen Dietmar Loch in einem ausführlichen Interview seine Biographie erzählt.

Auf die Gruppe rund um die Brüder Kouachi trifft dies indes nicht in vergleichbarer Form zu. Zwar wuchsen diese beiden, wie oben erwähnt, zunächst in katastrophalen Verhältnissen auf (wenngleich innerhalb von Paris und nicht in einer Trabantenstadt). Doch ist der Stadtteil rund um den Park Buttes-Chaumont, wo sich ihre Gruppe herausbildete und ihre Zelle vor nunmehr zehn Jahren heranwuchs, alles, nur kein Armenghetto, auch wenn es ärmere Straßenzüge gibt. Ihr früherer „Guru“ Farid Benyettou, der sich inzwischen selbst als Aussteiger geriert und die jüngsten Mordtaten „verurteilt“ (beim Treffen mit der Tageszeitung ,Libération’ trug er vorige Woche einen „Ich bin Charlie“-Button am Revers), erklärte über sich selbst, wiederholt, er sei „nie diskriminiert worden“; und nach seinem offiziellen Abschied aus der Szene - und seiner Freilassung aus der Haft - seien ihm Türen ins Berufsleben geöffnet worden. Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/- Benyettou war einstmals als 16jähriger in die Ideologie der Szene eingetaucht, unter dem Einfluss von Familienmitgliedern, die mit dem radikalen Islamismus in Algerien eng liiert waren. Heute ist er 33.

Das gemeinsame Bindeglied zwischen diesen unterschiedlichen Personen und Figuren ist offensichtlich am ehesten ideologischer Natur - wobei soziale Ausgrenzungserfahrungen von Migranten- und Trabantenstadtkindern und verletzliche Persönlichkeiten mit kaputten Biographien jedoch ihrem Netzwerk zum Teil beim Rekrutieren halfen. Bei Coulibaly etwa war das Abrutschen in die Sekte nicht vorprogrammiert, in den 2000er Jahren kämpfte er noch um einen Job und um soziale Eingliederung. Ein Jahr lang arbeitete er 2008/09 in einer Fabrik, die zu Coca-Cola gehört, sein Vertrag wurde jedoch nicht verlängert.

Integrative und rassistisch/repressive Antworten

Auf den Demonstrationen wie denen vom Wochenende in Paris und ganz Frankreich, an denen insgesamt knapp vier Millionen Menschen teilgenommen haben sollen, überwog eine integrative Absicht: Das Bekenntnis zu freier Meinungsäußerung und kulturellen Freiheiten, für welche Charlie Hebdo nun zum Symbol geworden ist, aber auch zu Multikulturalismus und zum Zusammenleben jenseits konfessioneller Schranken. Anders, als manche im Vorfeld behauptet oder befürchtet hatten, handelte es sich auch keineswegs um eine allein weißen intellektuellen Mittelklassen getragene Mobilisierung. Auch viele afrikanischstämmige Demonstranten, und eine Reihe von erkennbar muslimischen Männern und Frauen nahmen daran teil. Zu den meistapplaudierten Demoblöcken zählte auch jener von syrischen Oppositionellen, die sich gegen „die jihadistischen Mörder und den Mörder Assad“ wandten. Gleichzeitig gibt es aber auch andere Strömungen in der öffentlichen Meinung, die sich etwa in den inzwischen über fünfzig Angriffen auf Moscheen und moslemische Gebetsstätten seit den Attentaten – mit Brandstiftung, Gewehrschüssen, Übungshandgranaten und Schmähparolen – ausdrückten.

Der rechtsextreme Front National (FN) nährt, auch wenn er sich offiziell in seinen Sprachregelungen noch zurückhält, eine „Kopf ab- und Ausländer Raus“-Stimmung. Auf den Demonstrationen kam dieser Teil der öffentlichen Meinung kaum zum Ausdruck, da diese eher durch den linksliberalen Teil der Öffentlichkeit geprägt wurden. Eher bei Menschen, die das Geschehen an ihrem Fernseher, i-Phone oder am Tresen des Café du commerce – Pendant zum deutschen Stammtisch – verfolgen. Aber zwischen beiden könnte in naher Zukunft, wenn die Gemeinsamkeit der von allen geäußerten Betroffenheit und Trauer nachlässt, ein Wettlauf stattfinden.

Auch manche etablierten Politiker in Europa gießen objektiv Öl in das Feuer der rechten Hetze. Beispielsweise wenn der griechische (konservative) Premierminister Antonin Samaras gleich in einer ersten Reaktion auf die Anschläge bei ,Charlie Hebdo’ behauptet, hier sehe man doch die Gefahren einer angeblich ungezügelten Einwanderung – wie seine linken innenpolitischen Widersacher von Syriza sie noch zu fördern drohten – illustriert. Vgl. http://www.lefigaro.fr - Dies ist dümmliche Hetze. Noch mal zur Erinnerung: Weder die Brüder Kouachi noch der Mörder Coulibaly waren Einwanderer (ihre Eltern hingegen, ja). Alle drei waren französische Staatsbürger, in Frankreich aufgewachsen und weitestgehend Produkte der französischen Gesellschaft - im Falle von Chérif Kouachi hatte der spätere Attentäter sogar das französische Staatsgebiet maximal einmal im Leben für vierzehn Tage verlassen, sofern die Informationen über seine Jemen-Reise im Jahr 2011 denn zutreffen. Ein, ehemals „illegaler“, Einwanderer war hingegen Lassana Bathily. Also der Mann, der fünfzehn Menschen im koscheren Supermarkt geschützt und ihnen möglicherweise hat Leben gerettet hat.
 

Auf eine harte Probe wird der scheinbare Konsens bei und nach den Demonstrationen auch in naher Zukunft durch die Regierungspläne gestellt werden. Die Regierung unter François Hollande und Manuel Valls hatte bereits in der vergangenen Woche den Charakter die Mobilisierungen verändert: Die ersten Aufrufe zu Protesten gegen die Morde kamen von antirassistischen und Bürgerrechtsgruppen, die zweite Welle von sämtlichen Gewerkschaften. Doch dann nahm die Regierung das Heft in die Hand, um die Pariser Demonstration – die vom ursprünglich geplanten Termin am Samstag auf Sonntag verschoben wurde – zum Aufzug mit Staatsvertretern an der Spitze werden zu lassen. Und zur internationalen Show, für die 45 Staats- und Regierungschefs eingeflogen wurden. Neben Angela Merkel und David Cameron sowie dem NATO-Generalsekretär, dem jordanischen König und dem Premierminister der Türkei waren darunter auch wenig respektable Gestalten. Etwa Diktatoren und Schlächter aus der französischsprachigen Einflusszone in Afrika wie Idriss Déby aus dem Tschad und Ali Bongo aus Gabun. Oder der völkisch-konservative ungarische Premierminister Viktor Orban (ein ungemeiner „Freund der Pressefreiheit“, ja sicher doch...). Dieses Profil der Demonstrationsspitze sorgte in ihrem Vorfeld für heftigen Streit in der radikalen Linken und unter Bürgerrechtsorganisation. Eine Minderheit unter ihnen zog deswegen ein Fernbleiben vor, auch wenn diese Position mehrheitlich nicht geteilt wurde.

Das Problem in der derzeitigen innenpolitischen Situation ist, dass aufgrund des innenpolitischen Alarmzustands – der seit den Anschlägen von 1995 bestehende Anti-Terror-Plan Vigipirate („Piratenwache“) wurde auf die höchste Stufe, „Scharlachrot“, geschaltet – keine Demonstrationen ohne ausdrückliche Genehmigung stattfinden dürfen. Ist in normalen Zeiten nur eine Anmeldung durch einfache Information der Behörden erforderlich, die ohne ausdrückliches und gerichtsfest begründetes Verbot als Erlaubnis gilt, liegen die Dinge nun genau umgekehrt. Insofern bleiben Initiativen, die unabhängig von der Staatsmacht bleiben, derzeit erschwert.

Die Regierung plant, innerhalb von drei bis vier Monaten eine neue Anti-Terrorismus-Gesetzgebung vorzulegen. Deren Inhalt bleibt noch im Dunkeln. Neben Vorhaben, die als im Prinzip unproblematisch gelten müssen, wie einer besseren Überwachung der Sicherheit für jüdische Gebetsstätten und Einrichtungen wird es auch um Überwachungsmaßnahmen in der Telekommunikation und im Internet gehen. Dabei haben sich zumindest die Brüder Kouachi und Coulibaly keineswegs „im Internet radikalisiert“, wie man es nunmehr vielfach für die Rekrutierungsmechanismen von jihadistischen Gruppen liest, sondern im nicht-virtuellen Leben. Ambivalent zumindest ist auch ein anderes Vorhaben, das darauf hinausläuft, Strafgefangene mit mehr oder minder verhärteten jihadischen Tendenzen von anderen Sträflingen zu isolieren und in gemeinsame Trakte zu verlegen. Dies könnte auch bedeuten, das Risikopotenzial durch räumliche Konzentration zu erhöhen, und zugleich das Gehirnwäscheprogramm für die Betreffenden vollständig werden zu lassen.

Konservative Prominente wie Ex-Hochschulministerin Valérie Pécresse fordern seit Anfang der Woche bereits einen „Patriot Act à la française“, unter Anspielung auf ein nach den Attentaten von 2001 eingeführtes und heute hoch umstrittenes Gesetz in den USA. Dieses erlaubt unter anderem die Überwachung von Telekommunikation und Hausdurchsuchungen auch in der Abwesenheit von verdächtigten Personen. Wobei von 11.129 im Jahr 2013 auf Grundlage des Patriot Act angeordneten Durchsuchungsmaßnahmen nur 51 eine Verbindung zum Terrorismus aufwiesen - hingegen 9.401 zu einem Verdacht im Zusammenhang mit Drogendelikten, wofür die Ausnahmegesetzgebung ursprünglich nicht geschaffen worden war.

Wenn es um absehbare innenpolitische Verschärfungen gehen wird, dürfte die derzeitige Gemeinsamkeit einem heftigen Streit weichen. Freiheitsrecht abzuschaffen dürfte noch immer die allemal falsche Herangehensweise gewesen zu sein, um „die Freiheit“ zu retten. Absolute Sicherheit kann es leider, zu 100%, definitiv nicht geben: Sogar in einem Staat wie NS-Deutschland war es Menschen, war es politischen Akteuren möglich, Anschläge zu planen (die selbstverständlich vollkommen anders als die jihadistischen Mordaktionen zu bewerten sind!). Vorhandene Freiheitsspielräume lassen sich also gar nicht in einem solchen Ausmaß einengen oder abschaffen, dass absolut null Risiken dafür bestünden, dass einige Individuen Schandtaten oder Verbrechen aushecken.

Nach dem Schock gilt es also, trotz allem einen kühlen Kopf zu bewahren, sich nicht auf rechte, repressive und rassistische Hetze einzulassen und sich solchen Tendenzen entgegen zu setzen. Zugleich gilt es, einen scharfen ideologischen Kampf gegen die Ansätze jihadistischer Ideologien zu führen, überall dort, wo Menschen in Versuchung geraten könnten, sie – etwa als „Widerständler“diskurs – in irgendeiner Weise für attraktiv zu halten.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.