Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach den zwölf Morden in der Reaktion der französischen Satirezeitung ,Charlie Hebdo’

01-2015

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Informationen zu den ersten Mobilisierungen und zu den Hintergründen – Weitere Nachrichten, u.a. zum „Republikanischen Marsch“ vom Sonntag, den 11. Januar hinter Staatspräsident François Hollande, folgen im Laufe der Woche.....

Unsere LeserInnen wissen es längst: Am Mittwoch, den 07. Januar 2015 um kurz vor Mittag griffen zwei schwer bewaffnete und militärisch ausgebildete Attentäter die Redaktion der in Paris ansässigen Satirezeitung Charlie Hebdo an. Zwölf Menschen wurden dabei kaltblütig ermordet. Unter ihnen zwei Polizisten, die beim Angriff selbst – der Personenschützer von Charlie-Chefredakteur Stéphane Charbonnier – und bei dem Schusswechsel, der sich infolge des Eintreffens der zu Hilfe gerufenen Polizei entwickelte, getötet wurden.

Die beiden Täter, Chérif und Saïd Kouachi (32 und 34 Jahre alt), wurden daraufhin identifiziert und lieferten sich eine rund 48stündige Verfolgungsjagd mit der französischen Polizei. Am Freitag, den 09. Januar fanden sie bei einem Schusswechsel den Tod. Am selben Tag hatte ein 32jähriger, Amedy Coulibaly, der in Verbindung mit den Brüdern Kouachi gestanden hatte. mehrere Menschen in einem koscheren Supermarkt im Südosten von Paris als Geiseln genommen. Auch er wurde am Spätnachmittag durch die polizeilichen Einsatzkräfte erschossen. Die Erstürmung der beiden Orte, an denen sich die drei Kriminellen verschanzt hatten, fand ungefähr zeitgleich gegen 17 Uhr statt.
Zu den Hintergründen dieser Täter und ihrem, im Falle von Chérif Kouachi ungefähr zehnjährigen, Vorlauf im radikalislamistischen und jihadistischen Milieu werden wir im Laufe der anstehenden Wochen noch Ausführlicheres berichten. Ebenso über den „Republikanischen Marsch“, zu dem nunmehr die französische Regierung für den Sonntag, den 11. Januar 15 in Paris aufruft. Dabei nahm die Regierung den antirassistischen Organisationen sowie Gewerkschaften, die als Erste einen Aufruf (allerdings zunächst für Samstag, den 10. Januar) lanciert hatten, aus der Hand und übernahm die Initiative. Zu dem von der Staatsspitze aus lancierten Marsch werden u.a. Angela Merkel, David Cameron, die Regierungschef Rajoy & Renzi, Donald Tusk, der amtierende Generalsekretär der NATO sowie der Premierminister von Sultan, pardon: Premierminister Erdogan aus der Türkei erwartet. An Kritikpunkten in Anbetracht dieser Instrumentalisierung eines ursprünglich ebenso spontanen wie legitimen Protesten mangelt es natürlich nicht.

Nun soll es in den folgenden Abschnitten, und in Erwartung weiterer Artikel im Laufe der kommenden Tage (auch über die Rolle der Rechten und extremen Rechten), zunächst um den Protest in den ersten 48 Stunden nach dem mörderischen Attentat gehen. Und in einem Schlussabschnitt werden wir auch die Zeitung Charlie Hebdo – die nun trotz der Ermordung eines Großteil ihrer Redaktion, auch dank logistischer Hilfe von Libération & Le Monde’ dennoch weitermacht und ihre nächste Ausgabe am kommenden Mittwoch in einer Million Auflage drucken will – kurz portraitieren.

Erste Proteste & staatliche Reaktionen

Alle Räder stehen still… für eine Minute. Sämtliche öffentlichen Dienste und Einrichtungen in Frankreich hielten am Donnerstag, den 08. Januar 15 eine Schweigeminute ein, nachdem Staatspräsident François Hollande am Tag zuvor einen nationalen Trauertag für die ermordeten Redaktionsmitglieder und MitarbeiterInnen von Charlie Hebdo beschlossen hatte. Die RER/Vorortzüge – vergleichbar mit S-Bahnen in Deutschland – im Raum Paris hielten auf freier Strecke an, in Schulen und Behörde wurde der zwölf Ermordeten gedacht.

Um punkt Mittag treten etwa die MitarbeiterInnen des Arbeitsministeriums, aber auch VertreterInnen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die zuvor zu Sondierungsgesprächen über Diskriminierungsbekämpfung berieten, zusammen in die Eingangshalle des Pariser Ministeriums für soziale Angelegenheit. Arbeitsminister François Rebsamen erklärt in einer kurzen Ansprache, er gedenke „jener, die für die Freiheit der Meinungsäußerung gestorben sind, die unser Land auszeichnet“. Und er erinnert an die Devise der Republik seit den Tagen der Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ -, die er an dem Tag um „Laizität“, also Säkularismus, als viertes Element ergänzt. Zu dem Zeitpunkt hat die Verfolgungsjagd zwischen der Polizei und den beiden Hauptverdächtigen, Said und Chérif Kouachi zwischen Nordostfrankreich und Paris bereits begonnen. Ganz Frankreich kennt nun ihr Gesicht. Die beiden Hauptverdächtigen sind keine Unbekannten. Chérif Kouachi hatte seit 2004 Aspiranten für den damals vorwiegend im ’Iraq (Irak) angesiedelten „Jihad“ im Raum Paris rekrutiert, und war dafür 2008 zu drei Jahren Haft verurteilt worden.

Die Anwesenden in der Halle sehen pflichtschuldig oder auch wirklich betroffen auf den Boden. Vor allem unter den anwesenden GewerkschafterInnen kannten viele zumindest einige der ermordeten Zeichner, auch persönlich wie „Charb“ (Stéphane Charbonnier), „Tignous“ (Bernard Verlhac) oder auch „Wolinski“ (Serge W.) Diese waren nicht ausschließlich für die bei dem Mordanschlag vom Mittwoch attackierte Wochenzeitung tätig. Bei vielen Kundgebungen, Gewerkschafts- und ATTAC-Versammlungen, antirassistischen Treffen oder Ökoprotesten waren sie als Zeichner aktiv, insbesondere Charb höchst regelmäßig. Oft kommentierten sie mit ihren bildlichen Darstellungen, die per Overheadprojektor auf eine Riesenleindwand geworfen wurden, live das Geschehen oder die Äußerungen am Mikrophon. François, 60jähriger Gewerkschafter, erinnert sich an zahllose Lebensjahre in stetiger Begleitung ihrer Karikaturen.

Deswegen war es nicht allein Protest gegen die „Ermordung der Meinungsfreiheit“, der am Abend des Mittwoch, 07. Januar d.J. mindestens 5.000 Menschen auf die Pariser Place de la République trieb; während in ganz Frankreich mindestens 100.000 Menschen an Kundgebungen teilnahmen. Viele trauern auch unmittelbar um Menschen, deren Engagement sie kannten.

Die Teilnehmerzahl bei der Pariser Solidaritäts- und Trauerkundgebung ist schwer zu messen, weil im Vorfeld unterschiedliche Aufrufe kursierten – von der CGT, von JournalistInnenverbänden oder von einer extra eingerichteten Facebookseite „Wir alle sind Charlie“. Mal war von 17, mal von 18 und dann wieder von 19 Uhr die Rede, was viele verwirrte. Die Nachrichtenagenturen werden im Anschluss von „35.000 Menschen“ sprechen. Das könnte die Gesamtzahl der Personen umfassen, die irgendwann einmal auf dem Platz vorbeischauten, dürfte aber dennoch eine wohlwollend umfangreiche Schätzung darstellen (denn so viele Menschen passen kaum auf den Platz)

Ab 17.30 Uhr gibt es auf der Place de la République kaum ein Durchkommen mehr zu Fuß. Man sieht Gewerkschaftsfahnen von der CGT und Solidarires, Abzeichnen von ,Ensemble‘ (einer der Komponenten der Linksfront, neben der KP und der Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon) oder antirassistischen Gruppen. Auf diesem Platz geht es klar um universelle Solidarität, die nicht Moslems auszugrenzen versucht, während Jihadisten von Anfang an mit höchster Wahrscheinlichkeit als Täter bei der Mordaktion gegen ‚Charlie Hebdo’ gelten, sondern allgemeine Grundrechte proklamiert. Die Gewerkschafterin Marlène etwa kommentiert: „Ich bin zuerst hier, um mich nicht allein zu fühlen, um nicht in Depression zu verfallen angesichts dieser extremen Gewalt, sondern Solidarität zu stärken.“

Nicht alle in Frankreich reagieren mit solchen Gedanken auf den zwölffachen Mord. In der Nacht zum Donnerstag, den 08. Januar wurden zwei Moscheen attackiert, im südfranzösischen Département Aude und im westfranzösischen Le Mans. Später kommt ein weiteres Gebetshaus in Villefranche-sur-Saône hinzu. Feuer wurde gelegt, mit Gewehrmunition geschossen, in einem Fall wurden Übungs-Handgranaten geworfen.

Von „genug von den Moslems“ bis zu „Kopf ab“ reichen die Reaktionen in manchen Kreisen – eher nicht denen, die am Mittwoch Abend auf die Straße gingen, sondern bei Leuten, die passiv vor dem Fernsehbildschirm oder an ihrem i-phone verharrten. Der rechtsextreme Front National (FN) versteht es, diese Stimmung auszunutzen. Seine Chefin Marine Le Pen wurde am Freitag früh neben anderen Parteivertretern, François Bayrou (christdemokratisch-liberal) und Jean-Luc Mélenchon (Linksparteie), von Präsident François Hollande offiziell im Elysée-Palast empfangen. Der FN hat keine Fraktion im französischen Parlament, sondern zählt dort im Augenblick nur zwei Abgeordnete, was sich in naher Zukunft zu ändern droht. Durch martialisches Auftreten, lautstarken Forderungen nach Todesstrafe und dem Ruf, man befinde sich nunmehr „im Krieg mit dem radikalen Islam“, versucht der FN, die Stimmung in autoritären Kreisen der Gesellschaft zu toppen. In Marseille nahm der FN-Bezirksbürgermeister der nördlichsten Stadtteile, Stéphane Ravier, zugleich ungehindert an der Kundgebung teil, zu der die Linke aufgerufen hatten. Und in der FN-regierten Gemeinde Hénin-Beaumont nahm die extreme Rechte die Kundgebung gleich selbst in die Hand.

Zu Lebzeiten hätten die JournalistInnen von Charlie Hebdo ihren Vertretern nicht die Hand gereicht, die ihnen nun auf den Gräbern heuchlerisch entgegengestreckt wird. Allerdings teilen nicht alle Bestandteile der extremen Rechten die vordergründige Anteilnahme. Auf den sich in Windeseile ausbreitenden Slogan „Ich bin Charlie“ reagierte die rechtsextreme Webseite NDF.fr, die dem nationalkatholischen Flügel des FN aber auch konservativen Rändern nahe steht, mit eigener Parole: „Ich bin nicht Charlie! Ich bin die beiden Polizisten, die von Fanatikern ermordet wurden, als sie andere Leute schützten.“ Zwei der Tote sind Beamte, die bei ihrem Einsatz gegen die Attentäter ums Leben kamen, vgl. oben.

Kurzportrait: Charlie Hebdo

Respektlos: Dies wäre wohl das Adjektiv, das am häufigsten genannt würde, befragte man einen willkürlich ausgewählten Querschnitt von in Frankreich lebenden Menschen zu der Wochenzeitung ,Charlie Hebdo’. Im positiven Sinne, also respektlos gegenüber Autoritäten und Dogmen, in den Augen der Einen – im eher negativen aus Sicht von Anderen, vor allem von religiös eingestellten Menschen. Diese Unterschiede verblassen nun, da von Rechtskonservativen wie dem Abgeordneten Eric Ciotti bis zu Linksradikalen alle der mittels tödlicher Gewalt angegriffenen Zeitung ihre Referenz erweisen.

,Charlie Hebdo’ (die zweite Namenshälfte steht für hebdomadaire, also „Wochenzeitung“) war im Jahr 1970 entstanden. Zum Teil, um als Ersatz für die kurz zuvor aufgelöste Wochenzeitschrift Hara-Kiri zu dienen, welche behördlich verboten worden war, weil ihr ein – nun ja – respektloser Titel über den Tod von Ex-Staatspräsident Charles de Gaulle vorgeworfen wurde. Damals war die Zeitung überwiegend anarchistisch-libertär orientiert, während sie in den letzten fünfzehn Jahren eher auf einen vorwiegend linksliberalen Kurs ging. Geblieben sind ein markanter Antiklerikalismus, ein frecher Tonfall, eine Vorliebe für witzige und oft in sexueller Hinsicht deutliche Zeichnungen. Letztere machen allein über die Hälfte der Zeitung aus, die nun mehrere ihrer prominentesten Karikaturisten wie Cabu (Jean Cabut), Georges Wolinski und Charb (Stéphane Charbonnier) zu den Mordopfern zählt.

Immer wieder spielte ,Charlie’ auch eine politische Rolle, die sich allerdings im Laufe der Jahre wandelte. In den ersten 25 Jahren ihrer Existenz ging es oft um den subversiven Angriff auf die herrschende Ordnung. Rechts von dieser stehende reaktionäre Kräfte waren erst recht in ihrem Visier. 1995 lancierte die Zeitung eine Petition für das Verbot des rechtsextremen Front National und sammelte dafür über 200.000 Unterschriften. Im selben Jahr wurde ihr damaliger Chefredakteur, Philippe Val, auf dem Parkplatz vor einem Fernsehstudio verprügelt. Er hatte sich live dafür ausgesprochen, „Anti-Lieber Gott-Kommandos“ zu gründen, als Antwort auf die Commandos anti-IVG von militanten und oft rechtskatholischen Gegnern der Abtreibung (abgekürzt IVG für interruption volontaire de grossesse = „freiwilliger Schwangerschafts-Abbruch“), die damals viel von sich reden machten. Im Frühjahr 1996 interviewte der Verfasser dieser Zeilen – damals für die ‚junge Welt’ - deswegen Val zu der Petition für das FN-Verbot, welche zu dem Zeitpunkt rund 200.000 Unterschriften erhalten hatte. Der Autor fiel allerdings beinahe vom Pferd, als Val dabei unter den Menschenrechten auch für die „unternehmerische Freiheit“ plädiert, was für den Verf. dieser Zeilen unerwartet kam. Philippe Val befand sich damals schon in einem Abrutschen nach wesentlich weiter rechts, verglichen mit dort, wo die Ursprünge der Zeitung angesiedelt waren.

Doch Val ging alsbald eigene Wege... und lag damit oft grundlegend falsch. Er unterstützte 1999 den NATO-Krieg gegen Serbien, gegen die Mehrheit seiner Redaktion – eine heute in Marseille erscheinende linke Monatszeitung, CFQD, spaltete sich daraufhin und deswegen ab. Im Jahr 2005 war die Redaktion gespalten über das Abstimmungsverhalten zum EU-Verfassungsvertrag: Val wollte für dessen Annahme stimmen, eine deutliche Mehrheit der MitarbeiterInnen gegen ihn. Schlussendlich trennte Val sich ab, kehrte der Redaktion 2009 den Rücken und wurde durch Präsident Nicolas Sarkozy zum Leiter der Rundfunkanstalt Radio France Inter berufen. Er verlor den Posten im abgelaufenen Jahr 2014. Die Redaktion machte ohne Val weiter und fand ohne ihn zu einem unabhängigeren Geist zurück, ohne allerdings wieder in vergleichbarem Ausmaß zu politisch radikalen Positionen wie in den Ausgangszeiten der 1970er Jahre zurückkehren (bei denen einzelne Redakteure allerdings stets verblieben waren).

Mehrfach legte die Zeitung sich mit Islamisten unterschiedlicher Couleur an. 2005/06, im internationalen Streit um die Mohammed-Karikaturen einer dänischen Zeitung, entschied Charlie sich für deren Nachdruck. Drei islamische Verbände warfen der Zeitung deswegen Volksverhetzung vor und erhoben Klage, doch Anfang 2007 erfolgte der Freispruch – einer der Klägerverbände hatte vor Gericht statt vom Rassismusvorwurf von „Blasphemie“ gesprochen. Diese ist in Frankreich, aus guten Gründen, schon seit 1791 nicht mehr strafbar. // Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0407/t230407.html //

2011 entschied Charlie sich abermals für eine Ausgabe, die überwiegend Mohammed-Karikaturen gewidmet war, und betrachtete dies als das Brechen einer Lanze für die Meinungsfreiheit. Am 02. November 11 wurde daraufhin in ihren Redaktionsräumen Feuer gelegt. // Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1111/t491111.html // Doch Charlie konnte weiter erscheinen und wurde einige Zeit lang durch die Tageszeitung Libération beherbergt.

Letztere nimmt auch jetzt, im Januar 2015, erneut die (dezimierte) Redaktion von ,Charlie Hebdo’ in ihren Räumlichkeiten auf. Alle Redaktionsräume und Arbeitsmaterialien der Satirezeitung selbst wurden durch die Polizei zu Beweiszwecken versiegelt. Die Computer, auf denen die Satirezeitung nun arbeitet, stellt derzeit die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde.
 

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.