„Bereits lange vor mir hatten bürgerliche
Geschichtsschreiber die historische Entwicklung
dieses Klassenkampfes und hatten bürgerliche
Ökonomen durch ihn die Anatomie der Ökonomie
beschrieben. Das Neue, das ich hinzufügte, war 1. zu
beweisen, daß die Existenz der Klassen nur an jene
Phasen einer historischen Entwicklung gebunden ist,
die von der Produktion bestimmt sind; 2. daß der
Klassenkampf notwendigerweise zur Diktatur des
Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur
einen Übergang zur Abschaffung
aller Klassen und zur klassenlosen Gese schaft
darstellt." (K. Marx, Brief
an Kugelmann,
1852)
Die Stadtideologie ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Sid
ist nicht auf die akademische Tradition oder die offizielle
Stadtplanung beschränkt. Sie befindet sich vor allem in deij
Köpfen der Menschen. Es gelingt ihr, sogar die Gedanken
derjenigen zu beeinflussen, die von einer kritischen Überlegung
über die gesellschaftlichen Verstädterungsformen ausgehen. Und
hier richtet sie auch das meiste Unheil an, da sie ihre
Einigkeits- und Gemeinsamkeits-Sprache, ihren harmlos sen
Tonfall ablegt, um einen Diskurs über Widersprüche zu
ermöglichen — über die . . . städtischen Widersprüche nämlich.
Diese
Verschiebung läßt jedoch die theoretischen Probleme
außer Acht, die man gerade ein wenig ins Blickfeld' gerückt
hatte, fügt aber neue, weitaus ernstere, politisch©; Probleme
hinzu. Ein solch handliches Register deckt derl: ideologischen
Charakter der „Stadtgesellschaft" auf, der
vorzugsweise mal „links", mal ,»rechts" angesiedelt sein kann,
ohne jemals etwas anderes zu verändern als die positive
oder negative Haltung, die jeder einzelne dazu hat.,;
Gleichzeitig erkennt man die Stadtgesellschaft als eine
historische Grundform an, die spezifische Eigenschaften besitzt,
gründlich definierte Merkmale aufweist und letztlich als
Endpunkt menschlicher Entwicklung erscheint« Am deutlichsten
kommt die „linksgerichtete Version" der ideologischen Thesen
über die Stadtgesellschaft in den stadtplanerischen
Vorstellungen des Mannes zum Ausdruck, der einer der größten
Theoretiker des modernen Marxismus gewesen ist, H. Lefebvre.
Wenn sich eine solche intellek* tuelle Potenz mit der
Stadtproblematik befaßt, muß sie notwendigerweise von
entscheidender Wirkung für dieses Gebiet sein, und zwar nicht
nur hinsichtlich ihres Einflusses, sondern auch wegen des
Aufspürens neuer Möglichkeiten der Problemfindung und neuer
Hypothesen. Letztlich verschlingt die Problematik aber dann
doch den Denker. Von einer
marxistischen
Analyse des Phänomens Stadt
ausgehend gelangt er über eine merkwürdige intellektuelle
Entwicklung mehr und mehr zu einer
stadtplanerischen
Theoretisierung der Problematik des Marxismus
... In diesem Sinne wird beispielsweise erklärt, daß die
Revolution, die neue Revolution, logischerweise
städtischen
Ursprungs sein muß, nachdem die entstandene Gesellschaft
ebenfalls als eine städtische definiert worden ist.
In welchem Sinne ? Wir wollen versuchen, ihn näher zu bestimmen,
denn wir sehen uns einer komplexen Denkweise gegenüber, die
voller Nuancen und theoretisch-politischer Modulationen ist und
nicht als zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden kann. Sieht
man aber genauer hin, so gibt es trotz des offenen und
unsymmetrischen Charakters einen Kern von Lehrsätzen, um den
herum sich die Hauptwege der Analyse anordnen. Wir werden diesen
Kern so kurz und genau wie möglich herausarbeiten, um die
Bedeutung seiner Implikationen für das Studium der Urbanisation
und in indirekter Weise für den Marxismus zu konkretisieren.
Trotz der Vielfalt und der breiten Fächerung derGedanken
Lefebvres (die ohne Zweifel die tiefgreifendste intellektuelle
Anstrengung verkörpern, die jemals unternommen wurde, um die
aktuellen
städtischen Probleme zu verstehen) verfügt man Anfang 1971 über
vier Texte, um diese Gedanken zu verstehen: Eine Sammlung seiner
Schriften zu diesem Problem — sie enthält die wichtigsten Texte
bis zum Jahre 1969,
Du rural ä
l'urbain
(von jetzt an mit DRU (24) bezeichnet); ein kleines polemisches
Buch,Ie
droit a la ville,
1968 (DV 25); und vor allem die erste zusammenfassende
Darstellung der Problematik in
La revolution
urbaine,
1970 (RU 26); und schließlich ein kleiner unveröffentlichter
Text,
La ville et
l'urbain,
1971 (VU) (27), der die wichtigsten Thesen in sehr klarer Weise
ausführt. Wir wollen alle unsere Hinweise auf Texte sehr
sorgfältig kennzeichnen, selbst wenn das die Darstellung etwas
erschwert).
Die Abhandlung Lefebvres über die Stadtplanung „baut auf einer
Hypothese auf, wonach die Krise der städtischen Realität die
wichtigste und zentralste von allen ist" (VU, S. 3).
Diese Krise, die schon immer latent vorhanden war, ist, wenn man
so will, durch andere Dringlichkeiten verschleiert, ja gebremst
worden, und das vor allem während der Industrialisierung: einmal
durch die „Wohnungsfrage", ein andermal durch die Organisierung
der Industrie und die Gesamtplanung. Aber schließlich setzt
sich diese Thematik immer mehr durch, weil ,,die Entwicklung der
Gesellschaft nur durch das Leben in der Stadt begreiflich wird,
durch die Realisierung der städtischen Gesellschaft" (DV, 158).
Aber was ist nun diese „Stadtgesellschaft" ? Damit wird „mehr
eine Tendenz, eine Richtung, eine Virtualität und weniger ein
fait accompli
zum Ausdruck gebracht . . ."; sie entsteht gleichzeitig aus der
völligen Verstädterung der Gesellschaft und aus der
abgeschlossenen Industrialisierung (man könnte sie auch
„nachindustrielle Gesellschaft" nennen) (RU, 8,9).
Hier liegt ein Hauptpunkt der Analyse; die urbane Gesellschaft
(deren
sozialer
Gehalt die Urbanisation als einen Prozeß definiert statt
umgekehrt) bildet sich durch die Entfaltung der Geschichte, die
Lefebvre als ein Modell dialektischer Sequenz versteht. Die
Geschichte der Menschheit wird in der Tat durch die
wirre
Folge dreier Epochen, Felder oder Kontinente definiert: der
landwirtschaftlichen,
der
industriellen,
der
Urbanen.
Die politische Stadt der ersten Phase weicht der Handelsstadt,
die ihrerseits durch die Industrialisierung hinweggefegt wird,
die die Stadt negiert; aber am Ende des Prozesses hebt eine
allgemeine Urbanisation, die durch die Industrie entstanden
ist, die Stadt auf eine höhere Ebene: das Urbane überwindet die
Stadt, die es als Keim in sich getragen hat, ohne es zur Blüte
bringen zu können; andererseits macht die Herrschaft des Urbanen
es der Stadt möglich, Ursache und Wirkung zugleich zu werden.
(RU, 25).
Innerhalb dieser Entwicklung gibt es zwei kritische Phasen; die
erste besteht darin, daß die Landwirtschaft der Industrie
untergeordnet wird; die zweite kann man derzeit beobachten: sie
besteht darin, daß die Industrie der Urbanisation untergeordnet
wird. Gerade diese Zusammenhänge geben dem Begriff der „Urbanen
Revolution" einen Sinn, den wir als „die Gesamtheit der
Wandlungen und Veränderungen zu verstehen haben, die unsere
heutige Epoche durchschreitet, um von einer Epoche, deren
maßgebliche Probleme Wachstum und Industrialisierung (Modell,
Planung, Programmierung) sind, zu jener überzugehen, in der die
durch
Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben..." (RU,
13)
Bezeichnend ist aber, daß diese
Felder
oder Schrittfolgen in der Menschheitsgeschichte (Marxisten
würden es
Produktionsweisen
nennen) nicht durch die
Formen
(des Raumes) oder die
Techniken
(Landwirtschaft, Industrie) bestimmt werden; sie sind vor allem,
„Denk-, Handlungs-und Lebensweisen" /RU, 47). Die Entwicklung
wird verständlicher, wenn man jeder Epoche einen rein sozialen
Inhalt zuordnet:
Bedarf — Ländlich
Arbeit — Industriell
Genuß - Urban (RU, 47)
Das Urbane, eine neue Ära der Humanität, (RU, 52) würde demnach
die Befreiung von Bestimmungsgrößen und Zwängen aus früheren
Phasen sein (RU, 43). Das wäre tatsächlich das Ende der
Geschichte, beinahe eine Nach-Geschichte. Marxistisch
ausgedrückt: „der Kommunismus" ... . als wahrer
Abriß
einer zu Ende gehenden Epoche (wobei die jetzigen Jahre das
Scharnier zwischen zwei Zeitaltern wären), realisiert und äußert
sich das Urbane vor allem durch einen neuen, konkreten
Humanismus, der durch den Typ des
Stadtmenschen
definiert wird, „für den und durch den die Stadt und sein Alltag
innerhalb der Stadt zum lebendigen Werk, zur Aneignung, zum
Gebrauchswert wird". (DV, 163. Zur Entfalung der gesamten
Problematik infolge historischer Veränderungen vgl.: RU,
13,25,43,47,52,58,62,80,99, 100, usw.)
Es ist klar, daß diese Analyse zu einem historischen
Gesellschaftstypus führt, zur
Stadtgesellschaft,
die durch einen fest umrissenen, kulturellen Gehalt („eine
Lebens- und Handlungsweise"), definiert ist. Das war auch bei
den Thesen zur Stadtkultur oder zur städtisch-modernen
Gesellschaft der Fall,
selbst wenn
dieser Gehalt Unterschiede aufweist.
Hier und dort ist jedenfalls die Verschmelzung einer Form, des
Urbanen, mit einem Inhalt das wesentliche (für die einen wäre
das die konkurrenzfähige, kapitalistische Gesellschaft, für die
anderen die „moderne technokratische" Gesellschaft, für
Lefebvre, die Herschaft der Freiheit und eines neuen
Humanismus).
Eine erste kritische Diskussion könnte an der anarchistischen
und aostrakten Konzeption Lefebvres einer nach-ge-schichtlichen
oder kommunistischen Gesellschaft ansetzen. In ihr sind über die
revolutionäre Veränderung der verschiedenen ökonomischen,
politischen und ideologischen Instanzen durch den Klassenkampf
und damit durch die
Diktatur des
Proletariats
keinerlei konkreten Hinweise zum Aufbau neuer gesellschaftlicher
Beziehung zu entdecken. Aber eine solche Debatte würde im
wesentlichen nichts anderes erbringen, als daß die theoretischen
Argumente wiederholt würden, die der Marxismus seit mehr als
einem Jahrhundert gegen den Anarchismus vorbringt; eine Debatte,
die die Geschichte der Arbeiterbewegung mit weitaus mehr Kraft
entschieden hat, als es jede noch so Schlagkräfte Beweisführung
hätte tun können ... Da wir also nicht die Absicht haben, einer
durch die politische Praxis längst überholten Polemik noch Neues
hinzufügen (die Spontaneität zerstört sich immer selbst durch
ihre theoretische Unfähigkeit, die realen Prozesse zu
lenken),
wollen wir nichts dazu sagen, daß in Lefebvres Gedanken
tausendjährige Utopien wieder auftauchen. Es ist sein gutes
Recht, daß er die utopische Gesellschaft, in der es keine
Unterdrückung der freien Äußerung von Bedürfnissen (RU, 235)
geben wird, mit dem Begriff ,,urban" belegt und auch die
kulturellen, schlecht identifizierten Veränderungen urban nennt,
die in den imperialistischen Metropolen entstehen.
Das ganze Problem liegt doch darin: der Begriff des Urbanen ist
(wie bei der Stadtkultur) nicht belastet; er suggeriert die
Hypothese von einer Produktion des gesellschaftlichen Inhalts
(des Urbanen) durch eine trans-historische Form (die Stadt), und
darüberhinaus stellt er eine vollständige allgemeine Konzeption
der Entstehung sozialer Beziehungen dar; also letztlich eine
Theorie der sozialen Veränderung,
eine
Revolutionstheorie.
Denn „das Urbane" ist nicht nur eine anarchistische Utopie; es
hat bei Levebvre einen fest umrissenen Inhalt: es handelt sich
um
Zentralität,
oder besser um
Simultanität,
um
Zusammenballung
(RU, 159, 164, 174; VU, 5). Charakteristisch ist, daß im
städtischen Raum „immer etwas geschieht" (RU, 174); es ist der
Ort, wo neben der Repression das Vergängüche vorherrscht. Aber
dieses „Urbane", das nichts anderes ist als schöpferische,
befreite Spontaneität, wird
produziert,
und zwar weder durch Raum noch Zeit, sondern durch eine
Form,
die weder Objekt noch Subjekt ist und vor allem durch die
Dialektik der Zentralität definiert wird oder durch ihre
Negation (die Segregation, die Streuung, die Peripherie - RU,
164).
Hinsichtlich des Produktionsmechanismus der
Gesellschaftsverhältnisse befinden wir uns damit ganz in der
Nähe der Wirth'schen Thesen. Die Dichte, das Klima der
Zusammenballung begünstigen durch die verstärkte Interaktion
und Kommunikation gleichzeitig die freie Entfaltung, das
Unvorhergesehene, den Genuß, die Soziabilität und die
Bedürfnisse. Um diesen Produktionsmechanismus der Soziabilität
(der sich direkt mit der Organismustheorie verbindet) zu
rechtfertigen, muß Lefebvre eine Theorie vorschieben, die durch
nichts gerechtfertigt ist: eine Theorie, wonach sich „das
(soziale) Beziehungsgefüge
... in der Negation der Entfernung aufzeigt" (RU, 159). Und
letzlich ist ja gerade dies das Wesen des Urbanen. Denn die
Stadt bringt nichts hervor. Aber dadurch, daß sie die
Kreativität zentralisiert, fördert sie sie. Jedenfalls ist sich
Lefebvre des äußerst groben Charakter der These bewußt, wonach
eine einfache räumliche Ballung das Entstehen neuer
Beziehungsgefüge ermöglichen soll, so als gäbe es keine
gesellschaftliche und institutionelle Organisation außerhalb
räumlicher Anordnungen. Deshalb fügt er eine Bedingung hinzu:
diese Ballung muß
sich jeder Repression entziehen;
letztlich nennt er dies
das Recht auf die
Stadt.
Aber die Einführung dieses Korrektivs zerstört jede kausale
Beziehung zwischen der Form (der Stadt) und der
menschlichen
Schöpfung
(dem Urbanen); denn wenn es repressive Städte und
ortsungebundene Freiheit (Utopien) geben kann, so muß dies doch
bedeuten, daß die gesellschaftlichen Determinanten für diese
Inaktivität, die Produktion von Entstehungsbedingungen für
Spontaneität, durch etwas anderes als durch
Formen
entstehen — durch eine politische Praxis beispielsweise. Und
welchen Sinn kann infolgedessen in der Urbanen Begriffsbildung
die Formulierung des Freiheitsproblems haben ! . . .
Man könnte noch vieles mehr zu dem theoretischen und
historischen Irrtum bemerken,
der Inhalt
sei vermrtlich durch
die Form
entstanden (eine struktualistische Hypothese,
wenn man so will). Zunächst genügt aber die Feststellung, daß
es sich höchstens um eine Korrelation handeln kann, die durch
die Einbindung in eine Analyse der gesamten
Gesellschaftstruktur noch theoretisiert werden muß. Es kommt
sogar vor, daß sich diese Korrelation
empirisch als
falsch erweist.
Wenn also Lefebvre von einer
allgemeinen Urbanisation spricht und dabei China und Kuba mit
einschließt, so ignoriert er ganz einfach das statistische und
historische Material über die von ihm beschriebene Entwicklung.
Das gilt insbesondere
für
China, wo sich das städtische
Wachstum auf das natürliche Wachstum der Städte beschränkt
(ohne Landflucht) und wo ganz im Gegenteil ein permanenter und
massiver Zug aufs Land stattfindet, der durch die Einrichtung
von Volkskommunen, einer besonderen Form der Integration von
Stadt und Land noch verstärkt wird. Wenn das Fehlen von
Informationen über die chinesischen, kubanischen und
vietnamesischen Erfahrungen auch keine endgültigen
Schlußfolgerungen erlaubt, so kann man doch jetzt schon die
Verallgemeinerung des Urbanen als einheitliche Form ablehnen,
die ebenso Merkmal des Kapitalismus wie des Sozialismus sein
soll, wie man so schön versichert
...
Da das Urbane für Lefebvre eine „Produktivkraft" darstellt,
orientiert man sich gerne an einer Überwindung der Theorie der
Produktionsformen, die man auf die Ebene eines „marxistischen
Dogmatismus" verbannt (RU, 220), und möchte sie durch eine
Dialektik der
Formen
ersetzen und damit den historischen Prozess erklären.
Beispielsweise scheint der Klassenkampf noch immer als Motor der
Geschichte angesehen zu werden.
Aber welcher
Klassenkampf ?
Es sieht so aus, als spielte für Lefebvre der Kampf in den
Städten (gleichzeitig als ein Kampf verstanden, der sich in
einem Raum abspielt und zugleich die Sache der Freiheit fördern
soll) eine bestimmende Rolle innerhalb der gesellschaftlichen
Widersprüche, einschließlich des Arbeitskampfes. Damit wird
beispielsweise die Kommune zu einer „revolutionären
Urbanen
Praxis", in der „die Arbeiter, aus dem Zentrum vertrieben und
zur Peripherie abgedrängt, sich auf den Weg zurück ins Zentrum
machten, das von der Bourgeoisie mit Beschlag belegt worden war"
. . . Und Lefebvre fragt sich, „wie und warum wurde die Kommune
nicht als
Urbane Revolution
konzipiert, sondern als eine Revolution des
Industrieproletariats gegen die Industrialisierung, was nicht
der historischen Wahrheit entspricht". (RU, 148, 149) Der
Gegensatz zwischen
Formen
ohne genauen strukturellen Inhalt (Industrie, Stadt) läßt durch
Wortspielereien die Behauptung zu, daß eine proletarische
Revolution die Industrialisierung anstreben muß, während eine
Revolution der Städte auf die Stadt gerichtet ist. Die Tatsache,
daß für Lefebvre auch der Staat eine Form darstellt (der immer
repressiven Charakter hat, ohne Rücksicht auf seinen
Klassengehalt), gestattet diese Verwirrung; denn wenn die
politische Macht der wichtigste Anlaß jedes revolutionären
Prozesses sein soll, dann führt uns diese Machtübernahme durch
einen Kunstgriff zu einem nie endenden Gegensatz aller möglichen
Formen
des Klassenkampfes (seien sie nun industriell, urban,
landwirtschaftlich, kulturell, usw.) und entbindet uns von
einer Analyse der
gesellschaftlichen Widersprüche,
die seine Grundlage bilden.
Verfolgt man eine solche Perspektive bis zu Ende, so führt sie
sogar zu politisch gefährlichen Konsequenzen, die den Gedanken
Lefebvres zwar fremd zu sein scheinen, ihrer wörtlichen
Bedeutung aber recht nahe kommen. Wenn ihm beispielsweise die
Analyse der Verstädterungsprozesses zu sagen erlaubt: „diese
Vision oder Konzeption des Klassenkampfes auf Weltebene scheint
heute überholt. Die bäuerliche Fähigkeit zur Revolution nimmt
nicht zu. Eher scheint sie, wenn auch ungleichmäßig, resorbiert
zu werden" (RU, 152). So stellt man der Blindheit der
Arbeiterbewegung angesichts dieses Themas die hellseherische
Fähigkeit des Science-fiction-Romans gegenüber (RU,
153)...
Oder wenn man vorschlägt, die bereits jetzt abgeschlossene
industrielle Praxis durch die
urbane Praxis
zu ersetzen: das ist nichts anderes, als eine elegante Art und
Weise, vom Ende des Proletariats zu sprechen (RU, 184) und
führt zu dem Versuch, eine neue politische Strategie zu
begründen,
die nicht von den Herrschaftsstrukturen ausgeht, sondern von der
Entfremdung im Alltag.
Man suggeriert sogar, die Arbeiterklasse habe kein politisches
Gewicht, weil sie hinsichtlich der Stadtplanung keine Vorschläge
macht (RU, 245). Sie bleibt zwar eine wesentliche
Kraft, muß den Sinn ihrer Aktionen aber von außerhalb vermittelt
bekommen. Zurück zum Leninismus ? Niemals ! Was die Optionen der
Arbeiterklasse erhellen könnte, ist bekannt:
die Philosophie
und die Kunst
(DV, 163). Dort, wo sich beide treffen, spielt der Urbanismus
demnach eine strategische Rolle und kann wahrhaft als
Avant-Garde betrachtet werden, die fähig ist, die Revolution
mit neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu versehen (die
Stadtrevolution) (RU, 215).
Wenn sich solche Betrachtungen in metaphilosophische Höhen
aufschwingen, weit über die bescheidene Reichweite des Forschers
hinaus, oder ganz einfach weit von den Menschen entfernt, die
mit den „städtischen Problemen" kämpfen müssen, könnte man sich
andererseits fragen, was sie uns über das sogenannte städtische
Problem, den Raum und/ oder darüber, was man gemeinhin das
Urbane nennt, schon Neues oder Originelles beibringen können.
Und spätestens hier wird man sich des tief ideologischen
Charakters der Lefebvre'schen These bewußt, das heißt, man
erkennt ihre eher
gesellschaftliche
als
theoretische
Bedeutung.
Der Raum schließlich nimmt in jeder seiner Analysen einen eher
bescheidenen und untergeordneten Platz ein. Entsprechend einem
berühmten Gesetz, das im wesentlichen auch zutrifft, projiziert
die Stadt eine vollständige Gesellschaft auf eine Fläche, mit
ihrem Uberbau, ihrer ökonomischen Basis und ihren
gesellschaftlichen Beziehungen (DRU, 147). Wenn es aber darum
geht, diese Beziehungen zu spezifizieren oder den Zusammenhang
zwischen gesellschaftlicher und räumlicher Problematik zu
zeigen, wird die zweite eher lediglich als
Entfaltungsmöglichkeit der ersten gesehen. Denn der Raum, das
ist „das Ergebnis einer Geschichte, die als Werk von sozialen
Agenten
oder Agierenden, von
YLoMzktiv-Subjekten
verstanden wird. Diese
Strukturen entstanden durch aufeinanderfolgende Wellen . . . Aus
ihren Interaktionen, ihren Strategien, Erfolgen und Niederlagen
erwachsen die Qualitäten und „Eigenschaften" des Urbanen Raumes"
(RU, 171). Wenn diese These bedeuten soll, daß die Gesellschaft
den Raum erzeugt, ist mit einer spezifischen Determination noch
alles verständlich zu machen. Aber sie geht ja weiter: sie
besagt, daß der Raum und auch die gesamte Gesellschaft das
immer wieder neue
Werk
dieser schöpferischen Freiheit ist, die ein Attribut des
Menschen und spontaner Ausdruck seiner Wünsche ist. Nur wenn man
diesem absoluten Humanismus von Lefebvre voll und ganz zustimmt
(was eine philosophische oder religiöse Angelegenheit ist),
könnte man die Analyse in diesem Sinne vorantreiben: sie wird
aber immer von ihrer metaphysischen Grundlage abhängig bleiben
. . .
Diese Spontaneität der gesellschaftlichen Aktion und die
Abhängigkeit vom Raum werden noch klarer, wenn man sich auf die
synchrone Analyse bezieht, die Lefebvre aus dem städtischen Raum
macht (RU, 129). Lefebvres Hauptstütze besteht darin, daß er
drei Ebenen unterscheidet: eine globale oder öffentliche; eine
gemischte oder „stadtorganisatorische"; eine private oder „den
Wohnraum betreffende" Ebene. Was die Urbanisation nun aber in
ihrer zweiten, kritischen, historischen Phase kennzeichnet, ist
die Abhängigkeit der globalen Ebene von der gemischten und der
Umstand, daß diese wiederum die Tendenz hat, vom
Wohnen
abhängig zu sein. Konkret
bedeutet dies, daß das
Wohnen, der
Alltag den Raum
gestaltet. Nun führt eine
solche Unabhängigkeit des Alltags aber dazu, daß man ihn nicht
als reinen Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher
Determinanten betrachtet. Er ist Ausdruck der menschlichen
Initiative, und damit ist diese (das heißt, die
Vorhaben der
Subjekte)
der Ursprung, aus dem der
Raum und die Stadtgestaltung entsteht. So kommt man zu folgendem
Paradoxon: während man in der
städtischen
Praxis
den Mittelpunkt sozialer Veränderungen erblickt, sind Raum und
Stadtstruktur reine, transparente Ausdrucksformen der
Interaktion der Gesellschaftsmitglieder. Noch ein Beweis mehr
dafür, daß der Begriff des Urbanen dazu benutzt wird, einen vor
allem kulturellen Inhalt zu beschreiben (das freie Werk).
Gleichzeitig gelangt man aber zu einer Schlußfolgerung, die
weitaus ernsteren Charakter besitzt: die gesamte Perspektive
gibt keine spezifische Antwort auf die theoretischen Fragen,
die von der gesellschaftlichen Determination des Raumes und der
Stadtgestaltung gestellt werden.
Somit stößt die „urbane Praxis", die als Praxis zur Veränderung
des Alltags verstanden wird, aufgrund der institutionalisierten
Klassenherrschaft auf viele „Hindernisse". Deshalb muß Lefebvre
die Frage nach der Urbanisation als einem ideologischen
Zusammenhang und staatlichen Eingriff mit repressivem und
regulierendem Charakter stellen. Und das ist dann die
kritische
Kehrseite der Gedanken
Lefebvres, die immer richtig und brillant sind und die neuen
Ursachen der Widersprüche zu entdecken wissen. Ein Großteil der
Resonanz, die das stadtplanerische Werk Lefebvres in der
Gesellschaft gefunden hat, ist auf die
politische Rolle
zurückzuführen, die eine unversöhnliche Kritik am System der
offiziellen Stadtplanung spielt - eine Kritik, die man nur
befürworten und weiterführen kann; und zwar auf dem Wege, den
Lefebvre mutig gezeigt hat.
Aber selbst diese Kritik wird als Problematik erlebt, die durch
die Entfremdung entstanden ist. Man sieht sie im Gegensatz zur
städtischen Spontaneität, die von der Stadtplanung abhängt und
als Kampf des alltäglichen Lebens gegen den Staat verstanden
wird, der vom Klassengehalt und vom spezifischen
Klassenverhältnis unabhängig ist (oder darüber steht). Daß der
„Alltag", das heißt das gesellschaftliche Leben, das vor allem
durch den Rythmus der Ideologie reguliert wird, der Ausdruck
für neue Formen von Widersprüchen in der gesellschaftlichen
Praxis sein könnte, daran zweifelt wohl niemand. Aber was auch
immer die Ursache sein mag: die komplexe Ausdrucksform der
Klassenbeziehungen, die letztlich durch die Ökonomie genau
beschrieben werden, kehrt die materialistische Problematik eher
um und geht eher von dem ,Renschen" aus, als von der
Beschreibung de Klassenbeziehunen, der Produktionsverfahren und
der Herrschaftsformen.
Es bleibt festzuhalten, daß Lefebvre einerseits das Auftauchen
neuer Widersprüche im kulturellen und ideologischen Bereich
voraussehen
und andererseits das Problem
Stadt mit dem erweiterten Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft
verknüpfen konnte. Damit hat er vielleicht einen entscheidenden
Weg in der „Stadtforschung" geebnet. Er hat ihn dann aber sofort
wieder gesperrt, weil er in die von ihm selbst gezeigte Falle
tappte. Er formulierte die gesellschaftlichen Prozesse in
städtischen Begriffen (und verknüpfte sie mit einer Theorie der
sozialen Formen),
die sich auf
ideologische
Weise
durch die Inhalte der
Stadtplanung gebildet hatten. Um diese ideologische Behandlung
des Problems zu überwinden, wäre folgendes notwendig gewesen:
-
Den Raum und das Urbane
getrennt zu behandeln, das heißt, den Prozess der
gemeinschaftlichen Konsumtion auf ihren verschiedenen Ebenen
zu behandeln;
-
Die Analyse der
gesellschaftlichen Determinanten dieser Prozesse vorzunehmen,
insbesondere deshalb, um die neuen Formen der Einflußnahme des
Staatsapparates in diesem Bereich zu beschreiben;
-
Die räumliche Organisation
als ein Kapitel der gesellschaftlichen Morphologie zu
untersuchen, wie es auch Lefebvre vorschlägt; die spezifische
Eigenschaft einer solchen Form festzuhalten, aber ohne aus
ihr einen neuen Motor der Geschichte zu machen;
-
Schießlich und vor allem die
gesellschaftlichen Grundlagen dieser
ideologischen
Verflechtung der Problematik
des Raumes mit der Problematik der Reproduktion der
Arbeitskraft zu erklären (für Lefebvre ist das „der Alltag").
Indem er eine neue Theorie der
sozialen Utopie (oder wenn man so will, vom Ende der Geschichte)
erarbeitete, fand Lefebvre in der „Urbanen Form" (einen
Ort)
eine „materielle" Stütze, die
er als Aufhänger für den Herstellungsprozeß neuer sozialer
Beziehungen
(das Urbane)
durch die Interaktion der
schöpferischen Fähigkeiten benutzt. Damit gehen die wegweisenden
Schnittmuster und Perspektiven verloren -im Strom einer ebenso
globalen wie erkenntnisbezogenen Metaphilosophie der Geschichte,
die die theoretische Diskussion ersetzt und versucht, die
politische Spontaneität sowie die Kulturrevolution auf die
imperialistischen Metropolen zu übertragen. Diese neue
Stadtideologie kann somit durchaus guten Zwecken dienen (es ist
nicht immer ganz sicher, ob der Spontaneismus eine ist),
verschleiert
aber zugrundeliegende Phänomene, die die theoretische Praxis
noch nicht so recht in den Griff bekommen hat.
Das teils offene, teils geschlossene theoretische Gebäude
Lefebvres ist in sehr treffender Weise durch die Gruppe
„Utopie", die sich mit Stadtplanung befaßt, aufgenommen worden.
Sie wird von Hubert Tonka beeinflußt, dem es gelungen ist, die
Stadtproblematik als eine „Problematik der
Reproduktion der Produktionsweise"
(28) zu definieren. Für diese Forscher ist das „Urbane", das als
Alltag begriffen wird, weder Angelpunkt der gesellschaftlichen
Entwicklung noch kulturelles Ergebnis der Geschichte, was sie
von Lefebvre sehr stark unterscheidet. Im Gegenteil, sie
beziehen ihre Analyse auf die kapitalistische Gesellschaft und
gehen von der Untersuchung der Produktion und der Realisierung
des Mehrwertes aus, um zu erklären, warum sich deren Logik auf
den Konsumbereich ausdehnen mußte; eine Ausdehnung, die
ihrerseits aus der Entwicklung der Produktivkräfte und des
Klassenkampfes abgeleitet wird.
Sie
ersetzen nicht so sehr die „industrielle" Problematik durch die
„urbane" Problematik, sondern schlagen den umgekehrten Weg ein.
Bei ihnen hängen die Probleme der Stadt völlig von den Formen
und Rythmen der Klassenbeziehungen und insbesondere des
politischen Kampfes ab: „Die sogenannten Probleme der Stadt
sind nichts anderes als der reinste Ausdruck der
Klassengegensätze, die in der Geschichte die Entwicklung der
Zivilisation bewirkt haben". Im Sinne der Machtpolitik wird die
Urbanisation als ein „zivilisiertes Benehmen" verstanden, daß
heißt, ihr wichtigstes Ziel besteht darin, die Klassengegensätze
aufzuheben. Eine solche Analyse scheint uns jedoch einerseits
gewisse spezifische Eigenschaften der Verflechtung zwischen Raum
und Gesellschaft vollständig wegzuzaubern. Andererseits scheint
er die Eingriffe zu unterschätzen, die in ganz besonderen
Bereichen als den politischen Beziehungen der Klassen
unternommen werden, zum Beispiel Reform- und
Integrationsversuche oder die Regulierung der Wirtschaft usw.
Letzten Endes ist es aber so, daß jeder gesellschaftliche
Eingriff von seinem Klasseninhalt geprägt bleibt. Dabei bliebe
noch die Art der Vermittlung zu spezifizieren.
Angesichts der hauptsächlich
kritischen
und
politisch-kulturellen
Perspektive der Gruppe hatten die wenigen Analysen von „Utopie"
keinerlei Auswirkungen auf die konkrete Forschung. Gerade das
erfordert die volle Unterstützung und Ermutigung derjenigen, die
sich — wie auch immer — gegen die etablierte „urbane Ordnung"
äußern. Immerhin beschäftigen sie sich mit den Problemen, deren
Bearbeitung wichtig ist, auch wenn sie die notwendige
theoretische Vermittlung beiseite lassen. Aber wenn sich eine
Perspektive zeigt, so wird sie nur dann Früchte tragen, wenn sie
sich den kulturphilosophischen und spontaneistischen Thesen
widersetzt. Das heißt, sie muß die neuen Bereiche
kapitalistischer Produktionsweise analysieren, indem sie
entsprechende neue theoretische Methoden erarbeitet, die die
Grundelemente des historischen Materialismus näher bestimmen,
ohne ihnen zu widersprechen.
Die
Stadtideologie wird somit überwunden, und die unterschiedlichen
Versionen einer Stadtkultur müssen eher als Mythos, denn als
spezifisch gesellschaftlicher Prozeß behandelt werden. Auch
wenn „die Stadt" oder „das Urbane", global betrachtet kein
gesellschaftlicher Ursprung von Wertesystemen sein, hätten
bestimmte Typen der Raumordnung oder bestimmte „Stadteinheiten"
nicht spezifische Auswirkung auf gesellschaftliche Praktiken ?
Sollte es „städtische Subkulturen" geben ?
Editorische
Hinweise
Wir entnahmen den Text aus: Manuel Castells:
Die kapitalistische Stadt, Hamburg/Westberlin 1977, S.75-89,
OCR-scan red. trend
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