Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Von der urbanen Gesellschaft zur urbanen Revolution
Kritische Anmerkungen zu Henri Lefebvres Stadtideologie

von Manuell Castells

01-2014

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„Bereits lange vor mir hatten bürgerliche Geschichtsschreiber die historische Entwicklung die­ses Klassenkampfes und hatten bürgerliche Öko­nomen durch ihn die Anatomie der Ökonomie beschrieben. Das Neue, das ich hinzufügte, war 1. zu beweisen, daß die Existenz der Klassen nur an jene Phasen einer historischen Entwicklung ge­bunden ist, die von der Produktion bestimmt sind; 2. daß der Klassenkampf notwendigerweise zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur einen Übergang zur Abschaffung aller Klassen und zur klassenlosen Gese schaft darstellt." (K. Marx,
Brief an Kugelmann,
1852)

Die Stadtideologie ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Sid ist nicht auf die akademische Tradition oder die offizielle Stadtplanung beschränkt. Sie befindet sich vor allem in deij Köpfen der Menschen. Es gelingt ihr, sogar die Gedanken derjenigen zu beeinflussen, die von einer kritischen Über­legung über die gesellschaftlichen Verstädterungsformen aus­gehen. Und hier richtet sie auch das meiste Unheil an, da sie ihre Einigkeits- und Gemeinsamkeits-Sprache, ihren harmlos sen Tonfall ablegt, um einen Diskurs über Widersprüche zu ermöglichen — über die . . . städtischen Widersprüche nämlich. Diese Verschiebung läßt jedoch die theoretischen Probleme außer Acht, die man gerade ein wenig ins Blickfeld' gerückt hatte, fügt aber neue, weitaus ernstere, politisch©; Probleme hinzu. Ein solch handliches Register deckt derl: ideologischen Charakter der „Stadtgesellschaft" auf, der vorzugsweise mal „links", mal ,»rechts" angesiedelt sein kann, ohne jemals etwas anderes zu verändern als die positive oder negative Haltung, die jeder einzelne dazu hat.,; Gleichzeitig erkennt man die Stadtgesellschaft als eine historische Grundform an, die spezifische Eigenschaften besitzt, gründlich definierte Merkmale aufweist und letzt­lich als Endpunkt menschlicher Entwicklung erscheint« Am deutlichsten kommt die „linksgerichtete Version" der ideologischen Thesen über die Stadtgesellschaft in den stadtplanerischen Vorstellungen des Mannes zum Ausdruck, der einer der größten Theoretiker des modernen Marxismus gewesen ist, H. Lefebvre. Wenn sich eine solche intellek* tuelle Potenz mit der Stadtproblematik befaßt, muß sie notwendigerweise von entscheidender Wirkung für dieses Gebiet sein, und zwar nicht nur hinsichtlich ihres Einflusses, sondern auch wegen des Aufspürens neuer Möglichkeiten der Problemfindung und neuer Hypothesen. Letztlich ver­schlingt die Problematik aber dann doch den Denker. Von einer marxistischen Analyse des Phänomens Stadt ausge­hend gelangt er über eine merkwürdige intellektuelle Ent­wicklung mehr und mehr zu einer stadtplanerischen Theoretisierung der Problematik des Marxismus ... In diesem Sinne wird beispielsweise erklärt, daß die Revolution, die neue Revolution, logischerweise städtischen Ursprungs sein muß, nachdem die entstandene Gesellschaft ebenfalls als eine städtische definiert worden ist.

In welchem Sinne ? Wir wollen versuchen, ihn näher zu bestimmen, denn wir sehen uns einer komplexen Denkweise gegenüber, die voller Nuancen und theoretisch-politischer Modulationen ist und nicht als zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden kann. Sieht man aber genauer hin, so gibt es trotz des offenen und unsymmetrischen Charakters einen Kern von Lehrsätzen, um den herum sich die Hauptwege der Analyse anordnen. Wir werden diesen Kern so kurz und ge­nau wie möglich herausarbeiten, um die Bedeutung seiner Implikationen für das Studium der Urbanisation und in in­direkter Weise für den Marxismus zu konkretisieren.

Trotz der Vielfalt und der breiten Fächerung derGedanken Lefebvres (die ohne Zweifel die tiefgreifendste intellektuelle Anstrengung verkörpern, die jemals unternommen wurde, um die aktuellen städtischen Probleme zu verstehen) verfügt man Anfang 1971 über vier Texte, um diese Gedanken zu verstehen: Eine Sammlung seiner Schriften zu diesem Problem — sie enthält die wichtigsten Texte bis zum Jahre 1969, Du rural ä l'urbain (von jetzt an mit DRU (24) bezeichnet); ein kleines polemisches Buch,Ie droit a la ville, 1968 (DV 25); und vor allem die erste zusammenfassende Darstellung der Problematik in La revolution urbaine, 1970 (RU 26); und schließlich ein kleiner unveröffentlichter Text, La ville et l'urbain, 1971 (VU) (27), der die wichtigsten Thesen in sehr klarer Weise ausführt. Wir wollen alle unsere Hinweise auf Texte sehr sorgfältig kennzeichnen, selbst wenn das die Darstellung etwas erschwert).

Die Abhandlung Lefebvres über die Stadtplanung „baut auf einer Hypothese auf, wonach die Krise der städtischen Realität die wichtigste und zentralste von allen ist" (VU, S. 3).

Diese Krise, die schon immer latent vorhanden war, ist, wenn man so will, durch andere Dringlichkeiten verschleiert, ja gebremst worden, und das vor allem während der Industrialisierung: einmal durch die „Wohnungsfrage", ein andermal durch die Organisierung der Industrie und die Gesamt­planung. Aber schließlich setzt sich diese Thematik immer mehr durch, weil ,,die Entwicklung der Gesellschaft nur durch das Leben in der Stadt begreiflich wird, durch die Realisierung der städtischen Gesellschaft" (DV, 158).

Aber was ist nun diese „Stadtgesellschaft" ? Damit wird „mehr eine Tendenz, eine Richtung, eine Virtualität und weniger ein fait accompli zum Ausdruck gebracht . . ."; sie entsteht gleichzeitig aus der völligen Verstädterung der Gesellschaft und aus der abgeschlossenen Industrialisierung (man könnte sie auch „nachindustrielle Gesellschaft" nennen) (RU, 8,9).

Hier liegt ein Hauptpunkt der Analyse; die urbane Gesellschaft (deren sozialer Gehalt die Urbanisation als einen Prozeß definiert statt umgekehrt) bildet sich durch die Entfaltung der Geschichte, die Lefebvre als ein Modell dialektischer Sequenz versteht. Die Geschichte der Menschheit wird in der Tat durch die wirre Folge dreier Epochen, Felder oder Kontinente definiert: der landwirtschaftlichen, der industriellen, der Urbanen. Die politische Stadt der er­sten Phase weicht der Handelsstadt, die ihrerseits durch die Industrialisierung hinweggefegt wird, die die Stadt negiert; aber am Ende des Prozesses hebt eine allgemeine Urbanisa­tion, die durch die Industrie entstanden ist, die Stadt auf eine höhere Ebene: das Urbane überwindet die Stadt, die es als Keim in sich getragen hat, ohne es zur Blüte bringen zu können; andererseits macht die Herrschaft des Urbanen es der Stadt möglich, Ursache und Wirkung zugleich zu werden. (RU, 25).

Innerhalb dieser Entwicklung gibt es zwei kritische Pha­sen; die erste besteht darin, daß die Landwirtschaft der In­dustrie untergeordnet wird; die zweite kann man derzeit beobachten: sie besteht darin, daß die Industrie der Urbani­sation untergeordnet wird. Gerade diese Zusammenhänge geben dem Begriff der „Urbanen Revolution" einen Sinn, den wir als „die Gesamtheit der Wandlungen und Veränderungen zu verstehen haben, die unsere heutige Epoche durch­schreitet, um von einer Epoche, deren maßgebliche Proble­me Wachstum und Industrialisierung (Modell, Planung, Pro­grammierung) sind, zu jener überzugehen, in der die durch Urbanisierung entstandenen Probleme den Vorrang haben..." (RU, 13)

Bezeichnend ist aber, daß diese Felder oder Schrittfolgen in der Menschheitsgeschichte (Marxisten würden es Produktionsweisen nennen) nicht durch die Formen (des Raumes) oder die Techniken (Landwirtschaft, Industrie) bestimmt werden; sie sind vor allem, „Denk-, Handlungs-und Lebens­weisen" /RU, 47). Die Entwicklung wird verständlicher, wenn man jeder Epoche einen rein sozialen Inhalt zuordnet:

Bedarf — Ländlich
Arbeit — Industriell
Genuß - Urban (RU, 47)

Das Urbane, eine neue Ära der Humanität, (RU, 52) würde demnach die Befreiung von Bestimmungsgrößen und Zwän­gen aus früheren Phasen sein (RU, 43). Das wäre tatsächlich das Ende der Geschichte, beinahe eine Nach-Geschichte. Marxistisch ausgedrückt: „der Kommunismus" ... . als wah­rer Abriß einer zu Ende gehenden Epoche (wobei die jetzigen Jahre das Scharnier zwischen zwei Zeitaltern wären), realisiert und äußert sich das Urbane vor allem durch einen neuen, konkreten Humanismus, der durch den Typ des Stadt­menschen definiert wird, „für den und durch den die Stadt und sein Alltag innerhalb der Stadt zum lebendigen Werk, zur Aneignung, zum Gebrauchswert wird". (DV, 163. Zur Entfalung der gesamten Problematik infolge historischer Veränderungen vgl.: RU, 13,25,43,47,52,58,62,80,99, 100, usw.)

Es ist klar, daß diese Analyse zu einem historischen Ge­sellschaftstypus führt, zur Stadtgesellschaft, die durch einen fest umrissenen, kulturellen Gehalt („eine Lebens- und Handlungsweise"), definiert ist. Das war auch bei den The­sen zur Stadtkultur oder zur städtisch-modernen Gesell­schaft der Fall, selbst wenn dieser Gehalt Unterschiede auf­weist. Hier und dort ist jedenfalls die Verschmelzung einer Form, des Urbanen, mit einem Inhalt das wesentliche (für die einen wäre das die konkurrenzfähige, kapitalistische Gesell­schaft, für die anderen die „moderne technokratische" Ge­sellschaft, für Lefebvre, die Herschaft der Freiheit und eines neuen Humanismus).

Eine erste kritische Diskussion könnte an der anarchistischen und aostrakten Konzeption Lefebvres einer nach-ge-schichtlichen oder kommunistischen Gesellschaft ansetzen. In ihr sind über die revolutionäre Veränderung der verschiede­nen ökonomischen, politischen und ideologischen Instanzen durch den Klassenkampf und damit durch die Diktatur des Proletariats keinerlei konkreten Hinweise zum Aufbau neuer gesellschaftlicher Beziehung zu entdecken. Aber eine solche Debatte würde im wesentlichen nichts anderes erbringen, als daß die theoretischen Argumente wiederholt würden, die der Marxismus seit mehr als einem Jahrhundert gegen den Anarchismus vorbringt; eine Debatte, die die Geschichte der Arbeiterbewegung mit weitaus mehr Kraft entschieden hat, als es jede noch so Schlagkräfte Beweisführung hätte tun können ... Da wir also nicht die Absicht haben, einer durch die politische Praxis längst überholten Polemik noch Neues hinzufügen (die Spontaneität zerstört sich immer selbst durch ihre theoretische Unfähigkeit, die realen Prozesse zu lenken), wollen wir nichts dazu sagen, daß in Lefebvres Gedanken tausendjährige Utopien wieder auftauchen. Es ist sein gutes Recht, daß er die utopische Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung der freien Äußerung von Bedürfnissen (RU, 235) geben wird, mit dem Begriff ,,urban" belegt und auch die kulturellen, schlecht identifizierten Veränderungen urban nennt, die in den imperialistischen Metropolen ent­stehen.

Das ganze Problem liegt doch darin: der Begriff des Ur­banen ist (wie bei der Stadtkultur) nicht belastet; er sugge­riert die Hypothese von einer Produktion des gesellschaftli­chen Inhalts (des Urbanen) durch eine trans-historische Form (die Stadt), und darüberhinaus stellt er eine vollständige allgemeine Konzeption der Entstehung sozialer Beziehungen dar; also letztlich eine Theorie der sozialen Veränderung, eine Revolutionstheorie. Denn „das Urbane" ist nicht nur eine anarchistische Utopie; es hat bei Levebvre einen fest umrissenen Inhalt: es handelt sich um Zentralität, oder bes­ser um Simultanität, um Zusammenballung (RU, 159, 164, 174; VU, 5). Charakteristisch ist, daß im städtischen Raum „immer etwas geschieht" (RU, 174); es ist der Ort, wo ne­ben der Repression das Vergängüche vorherrscht. Aber dieses „Urbane", das nichts anderes ist als schöpferische, be­freite Spontaneität, wird produziert, und zwar weder durch Raum noch Zeit, sondern durch eine Form, die weder Ob­jekt noch Subjekt ist und vor allem durch die Dialektik der Zentralität definiert wird oder durch ihre Negation (die Segregation, die Streuung, die Peripherie - RU, 164).

Hinsichtlich des Produktionsmechanismus der Gesellschaftsverhältnisse befinden wir uns damit ganz in der Nähe der Wirth'schen Thesen. Die Dichte, das Klima der Zusam­menballung begünstigen durch die verstärkte Interaktion und Kommunikation gleichzeitig die freie Entfaltung, das Unvorhergesehene, den Genuß, die Soziabilität und die Be­dürfnisse. Um diesen Produktionsmechanismus der Soziabilität (der sich direkt mit der Organismustheorie verbindet) zu rechtfertigen, muß Lefebvre eine Theorie vorschieben, die durch nichts gerechtfertigt ist: eine Theorie, wonach sich „das (soziale) Beziehungsgefüge ... in der Negation der Entfernung aufzeigt" (RU, 159). Und letzlich ist ja gerade dies das Wesen des Urbanen. Denn die Stadt bringt nichts hervor. Aber dadurch, daß sie die Kreativität zentralisiert, fördert sie sie. Jedenfalls ist sich Lefebvre des äußerst gro­ben Charakter der These bewußt, wonach eine einfache räumliche Ballung das Entstehen neuer Beziehungsgefüge ermöglichen soll, so als gäbe es keine gesellschaftliche und institutionelle Organisation außerhalb räumlicher Anord­nungen. Deshalb fügt er eine Bedingung hinzu: diese Ballung muß sich jeder Repression entziehen; letztlich nennt er dies das Recht auf die Stadt. Aber die Einführung dieses Korrek­tivs zerstört jede kausale Beziehung zwischen der Form (der Stadt) und der menschlichen Schöpfung (dem Urbanen); denn wenn es repressive Städte und ortsungebundene Frei­heit (Utopien) geben kann, so muß dies doch bedeuten, daß die gesellschaftlichen Determinanten für diese Inaktivität, die Produktion von Entstehungsbedingungen für Spontanei­tät, durch etwas anderes als durch Formen entstehen — durch eine politische Praxis beispielsweise. Und welchen Sinn kann infolgedessen in der Urbanen Begriffsbildung die Formulierung des Freiheitsproblems haben ! . . .

Man könnte noch vieles mehr zu dem theoretischen und historischen Irrtum bemerken, der Inhalt sei vermrtlich durch die Form entstanden (eine struktualistische Hypothese, wenn man so will). Zunächst genügt aber die Fest­stellung, daß es sich höchstens um eine Korrelation handeln kann, die durch die Einbindung in eine Analyse der gesam­ten Gesellschaftstruktur noch theoretisiert werden muß. Es kommt sogar vor, daß sich diese Korrelation empirisch als falsch erweist. Wenn also Lefebvre von einer allgemeinen Urbanisation spricht und dabei China und Kuba mit ein­schließt, so ignoriert er ganz einfach das statistische und historische Material über die von ihm beschriebene Entwick­lung. Das gilt insbesondere für China, wo sich das städtische Wachstum auf das natürliche Wachstum der Städte be­schränkt (ohne Landflucht) und wo ganz im Gegenteil ein permanenter und massiver Zug aufs Land stattfindet, der durch die Einrichtung von Volkskommunen, einer besonde­ren Form der Integration von Stadt und Land noch ver­stärkt wird. Wenn das Fehlen von Informationen über die chinesischen, kubanischen und vietnamesischen Erfahrungen auch keine endgültigen Schlußfolgerungen erlaubt, so kann man doch jetzt schon die Verallgemeinerung des Urbanen als einheitliche Form ablehnen, die ebenso Merkmal des Ka­pitalismus wie des Sozialismus sein soll, wie man so schön versichert ... Da das Urbane für Lefebvre eine „Produktiv­kraft" darstellt, orientiert man sich gerne an einer Überwin­dung der Theorie der Produktionsformen, die man auf die Ebene eines „marxistischen Dogmatismus" verbannt (RU, 220), und möchte sie durch eine Dialektik der Formen er­setzen und damit den historischen Prozess erklären.

Beispielsweise scheint der Klassenkampf noch immer als Motor der Geschichte angesehen zu werden. Aber welcher Klassenkampf ? Es sieht so aus, als spielte für Lefebvre der Kampf in den Städten (gleichzeitig als ein Kampf verstan­den, der sich in einem Raum abspielt und zugleich die Sache der Freiheit fördern soll) eine bestimmende Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Widersprüche, einschließlich des Ar­beitskampfes. Damit wird beispielsweise die Kommune zu einer „revolutionären Urbanen Praxis", in der „die Arbeiter, aus dem Zentrum vertrieben und zur Peripherie abgedrängt, sich auf den Weg zurück ins Zentrum machten, das von der Bourgeoisie mit Beschlag belegt worden war" . . . Und Le­febvre fragt sich, „wie und warum wurde die Kommune nicht als Urbane Revolution konzipiert, sondern als eine Revolution des Industrieproletariats gegen die Industriali­sierung, was nicht der historischen Wahrheit entspricht". (RU, 148, 149) Der Gegensatz zwischen Formen ohne ge­nauen strukturellen Inhalt (Industrie, Stadt) läßt durch Wortspielereien die Behauptung zu, daß eine proletarische Revolution die Industrialisierung anstreben muß, während eine Revolution der Städte auf die Stadt gerichtet ist. Die Tatsache, daß für Lefebvre auch der Staat eine Form dar­stellt (der immer repressiven Charakter hat, ohne Rücksicht auf seinen Klassengehalt), gestattet diese Verwirrung; denn wenn die politische Macht der wichtigste Anlaß jedes revo­lutionären Prozesses sein soll, dann führt uns diese Macht­übernahme durch einen Kunstgriff zu einem nie endenden Gegensatz aller möglichen Formen des Klassenkampfes (seien sie nun industriell, urban, landwirtschaftlich, kultu­rell, usw.) und entbindet uns von einer Analyse der gesell­schaftlichen Widersprüche, die seine Grundlage bilden.

Verfolgt man eine solche Perspektive bis zu Ende, so führt sie sogar zu politisch gefährlichen Konsequenzen, die den Gedanken Lefebvres zwar fremd zu sein scheinen, ihrer wörtlichen Bedeutung aber recht nahe kommen. Wenn ihm beispielsweise die Analyse der Verstädterungsprozesses zu sagen erlaubt: „diese Vision oder Konzeption des Klassen­kampfes auf Weltebene scheint heute überholt. Die bäuer­liche Fähigkeit zur Revolution nimmt nicht zu. Eher scheint sie, wenn auch ungleichmäßig, resorbiert zu werden" (RU, 152). So stellt man der Blindheit der Arbeiterbewegung an­gesichts dieses Themas die hellseherische Fähigkeit des Science-fiction-Romans gegenüber (RU, 153)... Oder wenn man vorschlägt, die bereits jetzt abgeschlossene industrielle Praxis durch die urbane Praxis zu ersetzen: das ist nichts anderes, als eine elegante Art und Weise, vom Ende des Pro­letariats zu sprechen (RU, 184) und führt zu dem Versuch, eine neue politische Strategie zu begründen, die nicht von den Herrschaftsstrukturen ausgeht, sondern von der Ent­fremdung im Alltag.

Man suggeriert sogar, die Arbeiterklasse habe kein politi­sches Gewicht, weil sie hinsichtlich der Stadtplanung keine Vorschläge macht (RU, 245). Sie bleibt zwar eine wesentliche Kraft, muß den Sinn ihrer Aktionen aber von außerhalb vermittelt bekommen. Zurück zum Leninismus ? Niemals ! Was die Optionen der Arbeiterklasse erhellen könnte, ist bekannt: die Philosophie und die Kunst (DV, 163). Dort, wo sich beide treffen, spielt der Urbanismus demnach eine strategische Rolle und kann wahrhaft als Avant-Garde be­trachtet werden, die fähig ist, die Revolution mit neuen ge­sellschaftlichen Bedingungen zu versehen (die Stadtrevolu­tion) (RU, 215).

Wenn sich solche Betrachtungen in metaphilosophische Höhen aufschwingen, weit über die bescheidene Reichweite des Forschers hinaus, oder ganz einfach weit von den Men­schen entfernt, die mit den „städtischen Problemen" kämp­fen müssen, könnte man sich andererseits fragen, was sie uns über das sogenannte städtische Problem, den Raum und/ oder darüber, was man gemeinhin das Urbane nennt, schon Neues oder Originelles beibringen können. Und spätestens hier wird man sich des tief ideologischen Charakters der Lefebvre'schen These bewußt, das heißt, man erkennt ihre eher gesellschaftliche als theoretische Bedeutung.

Der Raum schließlich nimmt in jeder seiner Analysen ei­nen eher bescheidenen und untergeordneten Platz ein. Ent­sprechend einem berühmten Gesetz, das im wesentlichen auch zutrifft, projiziert die Stadt eine vollständige Gesell­schaft auf eine Fläche, mit ihrem Uberbau, ihrer ökonomi­schen Basis und ihren gesellschaftlichen Beziehungen (DRU, 147). Wenn es aber darum geht, diese Beziehungen zu spezifizieren oder den Zusammenhang zwischen gesell­schaftlicher und räumlicher Problematik zu zeigen, wird die zweite eher lediglich als Entfaltungsmöglichkeit der ersten gesehen. Denn der Raum, das ist „das Ergebnis einer Ge­schichte, die als Werk von sozialen Agenten oder Agierenden, von YLoMzktiv-Subjekten verstanden wird. Diese Strukturen entstanden durch aufeinanderfolgende Wellen . . . Aus ihren Interaktionen, ihren Strategien, Erfolgen und Niederlagen erwachsen die Qualitäten und „Eigenschaften" des Urbanen Raumes" (RU, 171). Wenn diese These bedeuten soll, daß die Gesellschaft den Raum erzeugt, ist mit einer spezifischen Determination noch alles verständlich zu machen. Aber sie geht ja weiter: sie besagt, daß der Raum und auch die ge­samte Gesellschaft das immer wieder neue Werk dieser schöpferischen Freiheit ist, die ein Attribut des Menschen und spontaner Ausdruck seiner Wünsche ist. Nur wenn man diesem absoluten Humanismus von Lefebvre voll und ganz zustimmt (was eine philosophische oder religiöse Angelegen­heit ist), könnte man die Analyse in diesem Sinne vorantrei­ben: sie wird aber immer von ihrer metaphysischen Grund­lage abhängig bleiben . . .

Diese Spontaneität der gesellschaftlichen Aktion und die Abhängigkeit vom Raum werden noch klarer, wenn man sich auf die synchrone Analyse bezieht, die Lefebvre aus dem städtischen Raum macht (RU, 129). Lefebvres Haupt­stütze besteht darin, daß er drei Ebenen unterscheidet: eine globale oder öffentliche; eine gemischte oder „stadtorganisa­torische"; eine private oder „den Wohnraum betreffende" Ebene. Was die Urbanisation nun aber in ihrer zweiten, kri­tischen, historischen Phase kennzeichnet, ist die Abhängig­keit der globalen Ebene von der gemischten und der Umstand, daß diese wiederum die Tendenz hat, vom Wohnen abhängig zu sein. Konkret bedeutet dies, daß das Wohnen, der Alltag den Raum gestaltet. Nun führt eine solche Unabhängigkeit des Alltags aber dazu, daß man ihn nicht als reinen Aus­druck allgemeiner gesellschaftlicher Determinanten betrach­tet. Er ist Ausdruck der menschlichen Initiative, und damit ist diese (das heißt, die Vorhaben der Subjekte) der Ur­sprung, aus dem der Raum und die Stadtgestaltung entsteht. So kommt man zu folgendem Paradoxon: während man in der städtischen Praxis den Mittelpunkt sozialer Veränderun­gen erblickt, sind Raum und Stadtstruktur reine, transpa­rente Ausdrucksformen der Interaktion der Gesellschaftsmitglieder. Noch ein Beweis mehr dafür, daß der Begriff des Urbanen dazu benutzt wird, einen vor allem kulturellen Inhalt zu beschreiben (das freie Werk). Gleichzeitig gelangt man aber zu einer Schlußfolgerung, die weitaus ernsteren Charakter besitzt: die gesamte Perspektive gibt keine spe­zifische Antwort auf die theoretischen Fragen, die von der gesellschaftlichen Determination des Raumes und der Stadt­gestaltung gestellt werden.

Somit stößt die „urbane Praxis", die als Praxis zur Ver­änderung des Alltags verstanden wird, aufgrund der institutionalisierten Klassenherrschaft auf viele „Hindernisse". Deshalb muß Lefebvre die Frage nach der Urbanisation als einem ideologischen Zusammenhang und staatlichen Eingriff mit repressivem und regulierendem Charakter stellen. Und das ist dann die kritische Kehrseite der Gedanken Lefebvres, die immer richtig und brillant sind und die neuen Ursachen der Widersprüche zu entdecken wissen. Ein Großteil der Resonanz, die das stadtplanerische Werk Lefebvres in der Gesellschaft gefunden hat, ist auf die politische Rolle zurückzuführen, die eine unversöhnliche Kritik am System der offiziellen Stadtplanung spielt - eine Kritik, die man nur befürworten und weiterführen kann; und zwar auf dem Wege, den Lefebvre mutig gezeigt hat.

Aber selbst diese Kritik wird als Problematik erlebt, die durch die Entfremdung entstanden ist. Man sieht sie im Ge­gensatz zur städtischen Spontaneität, die von der Stadtpla­nung abhängt und als Kampf des alltäglichen Lebens gegen den Staat verstanden wird, der vom Klassengehalt und vom spezifischen Klassenverhältnis unabhängig ist (oder darüber steht). Daß der „Alltag", das heißt das gesellschaftliche Le­ben, das vor allem durch den Rythmus der Ideologie regu­liert wird, der Ausdruck für neue Formen von Widersprüchen in der gesellschaftlichen Praxis sein könnte, daran zweifelt wohl niemand. Aber was auch immer die Ursache sein mag: die komplexe Ausdrucksform der Klassenbeziehungen, die letztlich durch die Ökonomie genau beschrieben werden, kehrt die materialistische Problematik eher um und geht eher von dem ,Renschen" aus, als von der Beschreibung de Klassenbeziehunen, der Produktionsverfahren und der Herrschaftsformen.

Es bleibt festzuhalten, daß Lefebvre einerseits das Auftau­chen neuer Widersprüche im kulturellen und ideologischen Bereich voraussehen und andererseits das Problem Stadt mit dem erweiterten Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft verknüpfen konnte. Damit hat er vielleicht einen entschei­denden Weg in der „Stadtforschung" geebnet. Er hat ihn dann aber sofort wieder gesperrt, weil er in die von ihm selbst gezeigte Falle tappte. Er formulierte die gesellschaft­lichen Prozesse in städtischen Begriffen (und verknüpfte sie mit einer Theorie der sozialen Formen), die sich auf ideolo­gische Weise durch die Inhalte der Stadtplanung gebildet hatten. Um diese ideologische Behandlung des Problems zu überwinden, wäre folgendes notwendig gewesen:

  1. Den Raum und das Urbane getrennt zu behandeln, das heißt, den Prozess der gemeinschaftlichen Konsumtion auf ihren verschiedenen Ebenen zu behandeln;

  2. Die Analyse der gesellschaftlichen Determinanten dieser Prozesse vorzunehmen, insbesondere deshalb, um die neuen Formen der Einflußnahme des Staatsapparates in diesem Bereich zu beschreiben;

  3. Die räumliche Organisation als ein Kapitel der gesell­schaftlichen Morphologie zu untersuchen, wie es auch Lefebvre vorschlägt; die spezifische Eigenschaft einer sol­chen Form festzuhalten, aber ohne aus ihr einen neuen Motor der Geschichte zu machen;

  4. Schießlich und vor allem die gesellschaftlichen Grund­lagen dieser ideologischen Verflechtung der Problematik des Raumes mit der Problematik der Reproduktion der Arbeitskraft zu erklären (für Lefebvre ist das „der Alltag").

Indem er eine neue Theorie der sozialen Utopie (oder wenn man so will, vom Ende der Geschichte) erarbeitete, fand Lefebvre in der „Urbanen Form" (einen Ort) eine „materiel­le" Stütze, die er als Aufhänger für den Herstellungsprozeß neuer sozialer Beziehungen (das Urbane) durch die Interak­tion der schöpferischen Fähigkeiten benutzt. Damit gehen die wegweisenden Schnittmuster und Perspektiven verloren -im Strom einer ebenso globalen wie erkenntnisbezogenen Metaphilosophie der Geschichte, die die theoretische Dis­kussion ersetzt und versucht, die politische Spontaneität sowie die Kulturrevolution auf die imperialistischen Metro­polen zu übertragen. Diese neue Stadtideologie kann somit durchaus guten Zwecken dienen (es ist nicht immer ganz sicher, ob der Spontaneismus eine ist), verschleiert aber zugrundeliegende Phänomene, die die theoretische Praxis noch nicht so recht in den Griff bekommen hat.

Das teils offene, teils geschlossene theoretische Gebäude Lefebvres ist in sehr treffender Weise durch die Gruppe „Utopie", die sich mit Stadtplanung befaßt, aufgenommen worden. Sie wird von Hubert Tonka beeinflußt, dem es ge­lungen ist, die Stadtproblematik als eine „Problematik der Reproduktion der Produktionsweise" (28) zu definieren. Für diese Forscher ist das „Urbane", das als Alltag begriffen wird, weder Angelpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung noch kulturelles Ergebnis der Geschichte, was sie von Le­febvre sehr stark unterscheidet. Im Gegenteil, sie beziehen ihre Analyse auf die kapitalistische Gesellschaft und gehen von der Untersuchung der Produktion und der Realisierung des Mehrwertes aus, um zu erklären, warum sich deren Lo­gik auf den Konsumbereich ausdehnen mußte; eine Ausdeh­nung, die ihrerseits aus der Entwicklung der Produktivkräfte und des Klassenkampfes abgeleitet wird.

Sie ersetzen nicht so sehr die „industrielle" Problematik durch die „urbane" Problematik, sondern schlagen den um­gekehrten Weg ein. Bei ihnen hängen die Probleme der Stadt völlig von den Formen und Rythmen der Klassenbeziehun­gen und insbesondere des politischen Kampfes ab: „Die so­genannten Probleme der Stadt sind nichts anderes als der reinste Ausdruck der Klassengegensätze, die in der Geschich­te die Entwicklung der Zivilisation bewirkt haben". Im Sin­ne der Machtpolitik wird die Urbanisation als ein „zivilisier­tes Benehmen" verstanden, daß heißt, ihr wichtigstes Ziel besteht darin, die Klassengegensätze aufzuheben. Eine solche Analyse scheint uns jedoch einerseits gewisse spezifische Eigenschaften der Verflechtung zwischen Raum und Gesell­schaft vollständig wegzuzaubern. Andererseits scheint er die Eingriffe zu unterschätzen, die in ganz besonderen Be­reichen als den politischen Beziehungen der Klassen unter­nommen werden, zum Beispiel Reform- und Integrations­versuche oder die Regulierung der Wirtschaft usw. Letzten Endes ist es aber so, daß jeder gesellschaftliche Eingriff von seinem Klasseninhalt geprägt bleibt. Dabei bliebe noch die Art der Vermittlung zu spezifizieren.

Angesichts der hauptsächlich kritischen und politisch-kul­turellen Perspektive der Gruppe hatten die wenigen Analysen von „Utopie" keinerlei Auswirkungen auf die konkrete For­schung. Gerade das erfordert die volle Unterstützung und Ermutigung derjenigen, die sich — wie auch immer — gegen die etablierte „urbane Ordnung" äußern. Immerhin beschäf­tigen sie sich mit den Problemen, deren Bearbeitung wichtig ist, auch wenn sie die notwendige theoretische Vermittlung beiseite lassen. Aber wenn sich eine Perspektive zeigt, so wird sie nur dann Früchte tragen, wenn sie sich den kultur­philosophischen und spontaneistischen Thesen widersetzt. Das heißt, sie muß die neuen Bereiche kapitalistischer Pro­duktionsweise analysieren, indem sie entsprechende neue theoretische Methoden erarbeitet, die die Grundelemente des historischen Materialismus näher bestimmen, ohne ihnen zu widersprechen.

Die Stadtideologie wird somit überwunden, und die un­terschiedlichen Versionen einer Stadtkultur müssen eher als Mythos, denn als spezifisch gesellschaftlicher Prozeß behan­delt werden. Auch wenn „die Stadt" oder „das Urbane", global betrachtet kein gesellschaftlicher Ursprung von Wer­tesystemen sein, hätten bestimmte Typen der Raumord­nung oder bestimmte „Stadteinheiten" nicht spezifische Auswirkung auf gesellschaftliche Praktiken ? Sollte es „städtische Subkulturen" geben ?

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text aus: Manuel Castells: Die kapitalistische Stadt, Hamburg/Westberlin 1977, S.75-89, OCR-scan red. trend