Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Sans papiers in Lille
Hungerstreik von „illegalisierten“ Einwanderern ging nach 73 Tagen zu Ende, Aktionen gehen weiter

01-2013

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73 Tage Hungerstreik: Diese Strapaze haben vierzig Einwanderer aus Marokko, Algerien, Guinea und Thailand im nordfranzösischen Lille hinter sich. Am Abend des Sonntag, den 13. Januar 13 gaben sie den Abbruch ihrer Aktion bekannt - kurz bevor sie drohte, tödliche Konsequenzen für einige ihrer Teilnehmer zu haben. Am Montag, den 14. Januar d.J. bauten freiwillige Unterstützer das Zelt ab, in dem sie seit nunmehr über zwei Wochen verbrachten hatten und in dem es nicht nur für die vom Hungerstreik geschwächten Körper mitunter eiskalt war.

Am 02. November 2012 hatten damals 125 Einwanderer, die vom französischen Staat in „illegalisierter“ Situation gehalten wurden, den Hungerstreik dort begonnen. Aufgrund massiver gesundheitlicher Probleme hatten eine Reihe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihn am 19. Dezember 12 abbrechen müssen. Am übernächsten Tag (21.12.12) hatten die Flüchtlinge und Einwanderer versucht, die in unmittelbarer Nähe gelegene Kirche Saint-Maurice zu besetzen, um einen geschützteren und wärmeren Zufluchtsort zu finden. Die Kirche ließ ihr Gebäude binnen weniger Stunden polizeilich räumen, eine Strafanzeige des bischöflichen Amts wegen „Hausfriedensbruchs“ blieb in der Folgezeit anhängig.

Ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert, und noch härter als erwartet reagiert, hat der amtierende rechtssozialdemokratische Innenminister Frankreichs. Manuel Valls bemühte sich offenkundig nach vollen Kräften, zum „würdigen“ Nachfolger seiner rechten Amtsvorgänger zu werden. Am 58. Tag des Hungerstreiks veranlasste die Präfektur von Lille, dass zwei der Teilnehmer am Hungerstreik, die beiden algerischen Staatsbürger Ahmed und Azzedine, in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden.

Abgeschoben nach 58 Tagen Hungerstreik

Am 58. Tag dieses Hungerstreiks ließ der Präfekt in Lille (d.h. der Vertreter des Zentralstaats und Leiter der Polizei- und Ausländerbehörden im Bezirk, der dem Innenministerium untersteht und weisungsgebunden agiert) zwei Teilnehmer am frühen Morgen in ein Flugzeug setzen und in ihr Herkunftsland Algerien verfrachten. Ahmed und Azzedine, so lauten die Vornamen der beiden, wurden dabei an den Händen gefesselt, geknebelt und ihr Mund wurde mit Klebeband zugebunden.

Pikanterweise wurde ihre Abschiebung am 30. Dezember 12 durchgeführt, noch bevor der Appellationshof (d.h. das Berufungsgericht) im nordfranzösischen Douai über ihre Anträge auf Freilassung aus der Abschiebehaft entscheiden konnte. In erster Instanz hatten die Richter ihre Entlassung aus der Abschiebehaft angeordnet, doch der Präfekt hatte Berufung gegen die Entscheidung eingelegt und dadurch ihre Freilassung verhindert. Doch dann warteten die Behörden die Entscheidung des Gerichts nichts ab, sondern führten die Abschiebung einfach durch. Das ist theoretisch dann gesetzeskonform, wenn die erstinstanzliche Entscheidung zugunsten der Behörden ausfällt, da die Berufung (im Unterschied zur ersten Instanz) „keine aufschiebende Wirkung“ hat, also nicht die Aussetzung einer behördlichen Maßnahme erzwingt. Aber in diesem Falle hatte die Präfektur in erster Instanz verloren, ihre Abschiebeverfügung war also im Prinzip illegal. - Infolge des weit fortgeschrittenen Hungerstreiks (sowie ihres Transports zum Gericht in Douai in reiseunfähigem Zustand, für einen der beiden) waren die beiden Algerier körperlich erheblich geschwächt. Nach ihrer Ankunft in Tizi Ouzou – in der Berberregion Algeriens – wurden die beiden in medizinische Behandlung genommen. Mindestens einer von beiden lag für längere Zeit im Krankenhaus.

Lille ist seit langen Jahren ein Zentrum von harten Kämpfen der „illegalisierten“ Traditionen. Auch Hungerstreiks – eine Aktionsform, die durch viele Unterstützer/innen der Sans papiers, u.a. die Gewerkschaften im Kern eher abgelehnt wird – haben dort eine gewisse „Tradition“. Im Herbst 1998 fand dort bereits ein längerer Hungerstreik statt (Vgl. dazu auch http://jungle-world.com/artikel/1998/49/34010.html ). Im Jahr 2007 ein weiterer, auf den die damalige Rechtsregierung zum ersten Mal mit Abschiebungen während eines laufenden Hungerstreiks antwortete, vgl. dazu http://www.trend.infopartisan.net/trd0907/t230907.html - Bis dahin hatten auch rechte Regierungen gegenüber hungerstreikenden Sans papiers i.d.R. keine, potenziell gefährlichen, Abschiebungen vorgenommen. Der erste kollektive Hungerstreiks von „papierlosen“ Einwanderern, im Sommer 1996 in der Pariser Kirche Saint-Bernard, war zwar am 50. Tag durch das Eindringen von Polizeikräften in die Kirche abgebrochen worden. Allerdings wurde damals niemand abgeschoben, sondern die rund 300 Teilnehmer/innen an dieser ersten Protestbewegung der Sans papiers – auf die alle anderen zeitlich nachfolgten – wurden durch die Regierung de facto (ohne größeres Aufsehen darum erregen zu wollen) „legalisiert“. Also mit Aufenthaltstiteln ausgestattet, wie sie zuvor gefordert hatten. Seit den Ereignissen von 2007 in Lille wurde die Gangart jedoch erheblich verschärft.

Ein „würdiger“ Nachfolger

Seit dem Amtsantritt des rechten Sozialdemokraten Manuel Valls im Innenministerium (Mai 2012) trat dieser in vielfacher Hinsicht in die Fußstapfen seiner rechten Vorgänger. Er beließ in Lille den vom rechten Innenminister Claude Guéant ausgesuchten und im April 2011 eingesetzten Präfekten, Dominique Bur, im Amt. Sicherlich konnte er nicht alle Präfekten auf einmal auswechseln, allerdings ihnen klar Dienstanweisungen zur künftigen „Ausländerpolitik“ erteilen. Was im Übrigen auch geschah, aber eben nicht im Sinne einer deutlichen Änderung...

Auch frankreichweit wurde die Abschiebepolitik seines Vorgängers weitgehend bruchlos fortgesetzt. Um den Jahreswechsel 2012/13 verlautbarte, dass die Abschiebezahlen für das abgelaufene Jahr einen neuen Rekordweit von mutmaßlich gut 33.000 durchgeführten „Entfernungen vom Staatsgebiet“ erreichen, also einen höheren Wert als noch im Vorjahr 2011 unter einer strammen Rechtsregierung (damals 32.922). – LETZTE MELDUNG: Am Dienstag, den 22. Januar 13 wurden die realen Zahlen dazu publik. Die wahre Bilanz lautet demnach: 36.822 Personen wurden im Jahr 2012 aus Frankreich abgeschoben, ein absoluter historischer „Rekordwert“ (vgl. http://actu.orange.fr/ und http://www.lemonde.fr/- Sicherlich ist Manuel Valls „nur“ – er trat sein Amt im Mai 2012 an – „nur“ für sieben von zwölf Jahresmonaten politisch verantwortlich. Klar ist jedoch, dass er mitnichten versucht hat, die Abschiebemaschinerie zu bremsen.

Einzelfall-„Legalisierung“

Am 28. November 12 erließ Valls allerdings eine Dienstanweisung in Gestalt einer so genannten Circulaire, eines ministeriellen Rundschreibens an die Präfekten, zum Umgang mit den „illegalen“ Einwanderern. Es sieht eine Einzelfall-„Legalisierung“ unter Anlegen von präzisen Kriterien vor, und unterscheidet sich dadurch nicht wirklich vom Herangehen der Vorgängerregierungen, die ebenfalls „von Fall zu Fall“ unter Zuhilfenahme eines Kriterienkatalogs „legalisiert“ hatten. Der damalige rechte Innenminister Nicolas Sarkozy erteilte etwa im Sommer 2006 rund 7.000 Eltern in Frankreich eingeschulter Kinder (von rund 30.000, welche einen Antrag darauf stellten) auf diese Weise Aufenthaltstitel. Manuels Valls’ Rundschreiben sieht ebenfalls eine „Legalisierung“ der Familien schulpflichtiger Kinder vor, unter der Bedingung, dass diese seit mindestens drei Jahren permanent eingeschult sind. Ferner werden in Frankreich arbeitende (also auch Sozialabgaben, oft auch Steuern zahlende) Sans papiers „legalisiert“, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen.

Dazu gehört, dass sie sich seit mindestens fünf Jahren im Land aufhalten müssen und in den letzten beiden Jahren mindestens acht Monate sozialabgabenpflichtiger Tätigkeit – unter Vorlage von Lohnzetteln – nachweisen können. Nun arbeiten zwar fast alle Sans papiers; zumal sie ja keinerlei Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung oder andere Sozialleistungen haben. Aber eben nicht alle mit offiziellen Lohnzetteln und unter Abführung von Sozialabgaben durch ihren „Arbeitgeber“. Wollen Letztere doch oftmals ihre Situation ausnutzen, um sie in unerklärte Beschäftigungsverhältnisse ohne Einzahlung in die Sozialkassen zu zwingen. Dies trifft nicht in allen Fällen zu; es gibt etwa auch Situationen, in denen zwar der Aufenthalt in Frankreich „illegal“ ist, aber nicht das Beschäftigungsverhältnis als solches. (Es konnte beispielsweise eingegangen werden, indem dem Arbeitgeber der Aufenthaltstitel einer anderen Person vorgezeigt wurde, und/oder indem der Arbeitgeber beide Augen zukniff, auch wenn er sich seit 2007 im Falle der Beschäftigung eines „illegalen Ausländers“ im Prinzip strafbar macht.) Doch werden faktisch viele, auch arbeitende, Sans papiers durch diese Dienstanordnung aus dem Innenministerium vom Zugang zu Aufenthaltstiteln ausgegrenzt.

Darauf war, und ist, der Hungerstreiks von Lille die Antwort. „Aus humanitären Gründen“ versuchen die Teilnehmer/innen, ihre Legalisierung durch die Erzeugung von öffentlichem Druck zu erzwingen.

Solidaritätsaktionen

Zur Unterstützung des jüngsten Hungerstreiks, der zunächst hoffnungslos isoliert erschien, hatten jüngst einige spektakuläre Aktionen stattgefunden. Neben Demonstrationen in Lille, in Paris und vor kurzem auch in anderen Städten wie Strasbourg und Saint-Nazaire kam es zu Besetzungsaktionen. In Paris etwa wurde am Sylvestertag 2012 die Nonciature apostolique – d.h. die Botschaft des Vatikan in Frankreich – besetzt.

Am 03. Januar 13 wurde in Paris auch versucht, die Parteizentrale der regierenden „Sozialistischen Partei“ in der rue Solférino zu besetzen. Rund 20 Teilnehmer/inne/n gelang es, in den Innenhof des Gebäudes zu kommen. Acht weitere ketteten sich an den Gittern fest. Drinnen wurden sie nach starkem Drängen durch Berater des (seit November 12 amtierenden) Parteivorsitzenden, und früheren Chefs von SOS Racisme, Harlem Désir empfangen. Er selbst weilte offiziell im Urlaub. Diese Berater verpflichteten sich, „die mitgeteilten Informationen ins Innenministerium weiterzugeben“ und sich für eine régularisation (d.h. „Legalisierung“) der Betreffenden stark zu machen. Allerdings erklärte die Partei im Nachhinein in der Presse (Le Monde), für die Erfüllung dieser Forderung sei sie nicht zuständig. Die Teilnehmer/innen an der Aktion, die draußen von mehreren Hundert Menschen erwartet wurden, gaben an Ort und Stelle ebenfalls eine Pressekonferenz, unter starker Aufmerksamkeit der Medien.

Ungefähr zeitgleich wurde in Lille das dortige Rathaus, wo Martine Aubry – von Ende 1998 bis Ende 2012 Parteivorsitzende der französischen „Sozialisten“ – als Bürgermeisterin amtiert, vorübergehend besetzt. Den Teilnehmer/innen an der Aktion wurde eine spätere Diskussion mit Martine Aubry zugesagt. (Einige Tage später erklärte Martine Aubry, sie habe menschlich schon immer „die Sans papiers“ unterstützt, „aber nicht alle Methoden“ in ihrem Kampf bzw. ihrer Unterstützer/innen. Sie missbillige solche Methoden und ziehe es vor, „in Stille“ und „zusammen mit dem Innenministerium“ zu arbeiten, um Lösungen zu finden.)

Am Samstag, den 05. Januar 13 demonstrierten wiederum rund 300 Menschen in Lille, unter Beteiligung des progressiven (und vom Vatikan geschassten) Bischofs Jacques Gaillot, und rund 200 in Paris. Am Abend des Montag, 07. Januar wird in Paris und an den den darauffolgenden Abenden fand täglich eine Protestversammlung vor den Türen des Sitzes der „Sozialistischen“ Partei in der Pariser rue Solférino statt. Auch in Lille kam es zu täglichen Versammlungen.

In Boulogne-Billancourt (einem Vorwort westlich vor den Toren von Paris) wurde das dortige Gewerkschaftshaus durch Unterstützer/innen der Sans papiers – mit Unterstützung der örtlichen CGT.

Vorläufiges Ergebnis

Die Hungerstreikenden kämpften weiterhin, um Aufenthaltstitel zu erreichen. Einige von ihnen steckten parallel dazu in Asylverfahren, ohne sich jedoch Hoffnungen auf deren Ausgang zu machen - junge Frauen waren etwa einer Zwangsverheiratung entflohen, ohne die eingeforderten Beweise dafür vorlegen zu können.

Im letzten Stadium hat die Präfekt jedoch am Wochenende des 12./13. Januar 13 dann lediglich „eine wohlwollende Bearbeitung der individuellen Akte“ jedes und jeder Teilnehmenden zugesagt; ohne das feste Versprechen einer „Legalisierung“. Mehr war zu dem Zeitpunkt nicht herauszuholen, ohne Todesfälle unter den Streikenden zu riskieren.

Unterdessen gingen einige Aktionen zu ihrer Unterstützung ungebrochen weiter, um den Druck weiterhin aufrecht zu erhalten. Am Montag, den 14. Januar 13 demonstrierten Sans papiers fast den ganzen Tag über in Paris. Im Laufe des Nachmittags besetzten sie vorübergehend die Place Saussaies im nobel-hoblen 8. Pariser Bezirk, „unter den Fenstern“ des Innenministeriums von Manuel Valls (an der Place Beauvau). Dabei wurden 150 Teilnehmer vorübergehend festgenommen, fast alle Anwesenden wurden eingesammelt und zur Personalienaufnahme in Polizeiwachen im 18. Pariser Bezirk transportiert. Am frühen Abend kamen allerdings alle wieder frei.

Unterstützung zersplittert

Allerdings bleibt das generelle Problem bestehen, dass die Unterstützerbewegung für die Sans papiers seit spätestens 2009 außerordentlich zersplittert ist – ebenso wie ein Großteil der „Kollektive von Sans papiers“ selbst. Ein starker Spaltungsfaktor war der Streik von 2008/09, der zur „Legalisierung“ von einigen Arbeitskräften ohne Aufenthaltstitel führte. Denn diese Waffe des, mit gewerkschaftlicher Unterstützung geführten, Streiks war (aufgrund ihrer objektiven Stellung im Arbeitsprozess) nur einigen der Betroffenen zugänglich – nämlich jenen Sans Papiers, die zusammen mit anderen Arbeitskollegen in derselben Situation waren und also gemeinsam einen Betriebe lahmlegen konnten. Anderen jedoch stand diese Möglichkeit nicht offen, weil sie isolierte einzelne Beschäftigte in Klein(st)betrieben sind, oder aber die einzigen Mitarbeiter „ohne Papier“ in Unternehmen, deren andere Mitarbeiter keine Sans papiers sind. Von den damaligen Spaltungen, etwa zwischen Teilen der Gewerkschaften und den „Sans Papiers-Kollektiven“, aber auch unter Letzteren, hat die Unterstützungsbewegung sich insgesamt nicht erholt.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.