Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Mord an drei kurdischen Politikerinnen mitten in Paris
Der lange Arm des „tiefen Staates“? – Ein respektive zwei Tatverdächtige wurden jetzt in Paris präsentiert

01-2013

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In der Nacht vom 09. zum 10. Januar dieses Jahres wurden in der Pariser rue Lafayatte, in der Nähe des Nordbahnhofs, die Leichen dreier kurdischer Politikerinnen aufgefunden. Jede von ihnen war in der Bürowohnung, die auch das „Kurdische Informationszentrum“ beherbergte, mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe getötet worden. Es handelte sich, erstens, um die 55jährige Sakine Cansiz, die im Jahr 1978 Mitgründerin der (seit 1984 in Südost-Anatolien bewaffnet gegen den türkischen Staat kämpfenden) „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK war. Zum Zweiten wurde die 1982 in Türkisch-Kurdistan geborene, jedoch als Flüchtlingskind in Ostfrankreich aufgewachsene Fidan Dogan – diplomatische Vertreterin des „Kurdistan Nationalkongresses“ (KNK) in Frankreich und Verantwortliche des Informationszentrums – ermordet. Drittens starb auch die in Deutschland, die meiste Zeit über in Halle lebende, 23jährige Leyla Söylemez. Sie hielt sich für ein einmonatiges Praktikum in den Räumen des Kurdischen Informationszentrums auf.

Die Polizei stellte ihre Ermordung um kurz vor zwei Uhr früh fest. Der Lebensgefährte einer der drei Kurdinnen hatte einige Minuten zuvor die Wohnungstür aufgeschlossen, nachdem er sich – in wachsender Sorge, weil seine Freundin seit 15 Uhr telefonisch völlig unerreichbar war – einen Schlüssel dafür besorgt hatte, und dabei die Leichen entdeckt.

Die Morde fanden jedoch mutmaßlich an jenem 09. Januar zwischen 15 Uhr und dem frühen Abend statt. Ein Nachbar sagte gegenüber den Ermittlern und der Presse aus, gegen 18 Uhr schussähnliche Geräusche gehört zu haben; er habe ihnen jedoch keine weitere dramatische Bedeutung zugemessen. Der oder die Mörder hatten bei der Tat Schalldämpfer benutzt, so dass die Schüsse allenfalls gedämpfte Geräusche erzeugten. Vor allem muss er oder müssen sie die drei Frauen wahrscheinlich gekannt, oder jedenfalls ihr Vertrauen erweckt haben.

An der Tür der Bürowohnung waren keine Kratzspuren oder Anzeichen eines gewaltsamen Aufbrechens aufzufinden. Die drei kurdischen Frauen müssen dem Täter oder den Tätern vermutlich selbst die Tür geöffnet haben – sei es, weil sie ihn kannten, oder sei es, dass unter einem Vorwand geklingelt worden war. Die Tageszeitung Libération dachte etwa an eine Finte vom Muster „Ein Einschreibbrief von der Post für Sie!“, was allerdings am Nachmittag eher ungewöhnlich wäre. Alle drei Frauen waren mit ihren Mänteln bekleidet und schickten sich also entweder zum Hinausgehen an, oder waren soeben erst zur Tür hereingekommen – möglicherweise in Begleitung des Täters oder der Täter. Diese müssen sich im Prinzip gut ausgekannt haben. Zum Einen war das „Kurdistan Informationszentrum“ durch keinerlei Hinweisschild an der Tür gekennzeichnet, es sah nach außen hin lediglich nach einer Wohnung aus, und wurde auch von Fidan Dogan bewohnt. Einem breiteren Publikum bekannt war dagegen das Kurdische Kulturzentrum, das einige hundert Meter entfernt im 10. Pariser Bezirk liegt (und wo sich am Vormittag nach Bekanntwerden der Tat sofort bis zu 2.000 Menschen versammelten, während fast alle „türkischen“ – oft von Kurden gehaltenen - Restaurants und Imbisse im umliegenden Viertel spontan schlossen).

Zum Zweiten hielt Sakine Cansiz sich nur kurz in Paris auf, wo sie am Vortag eingetroffen war. Sie lebte offiziell in Frankreich mit anerkanntem Flüchtlingsstatus – nachdem sie zwölf Jahre lang in der Türkei inhaftiert, und nachweislich gefoltert worden war -, hielt sich jedoch wenig in Frankreich auf. Je nach Angaben verbrachte sie mehr Zeit in Deutschland (so die französische Presse) oder in Kurdistan, so politische Freunde von ihr. Die politische Aktivistin war nur für kurze Zeit in Paris, um ihren Aufenthaltstitel erneuern zu lassen. Der Mordanschlag dürfte entweder ihr, oder Fidan Dogan, oder beiden Frauen gegolten haben. Sofern Sakine Cansiz absichtlich persönlich ins Visier genommen wurde, müssen Täter oder Hintermänner also von ihrem Aufenthalt in der französischen Hauptstadt gewusst haben.

Am politischen Charakter der Mordtat hatte von Anfang an niemand ernsthafte Zweifel. Die Ermittler bestätigten dies, indem sie in der Presse darauf hinwiesen, es sei nicht nur nichts aus der Wohnung gestohlen worden, nicht einmal die Handtaschen der Frauen seien von dem Täter oder den Tätern durchsucht worden. Allerdings gaben die Ermittler sich in ihren Verlautbarungen zugleich in politischer Hinsicht betont neutral und betonte, „in alle Richtungen zu ermitteln“. Gleichzeitig gerieten sie von kurdischer Seite her selbst in die Kritik, da gefragt wurde, wie es möglich sei, dass ein rund um die Uhr bewachtes Objekt wie das Kurdische Informationszentrum zum Ort eines solches Dreifachmords werden konnte, ohne dass etwas Verdächtigen auffiel, zumindest im Nachhinein. Um eine lückenlose Aufklärung der Tat zu fordern, organisierten die Kurdinnen und Kurden schnell massive Proteste. Am Samstag, den 12. Januar demonstrierten laut polizeilichen Angaben offiziell 15.000 überwiegend kurdische Menschen – in Wirklichkeit war die Teilnehmerzahl mutmaßlich etwas größer – u;a. aus Frankreich, Deutschland und den Benelux-Ländern im Pariser Ostbahnhofsviertel.

Offizielle und andere Spuren

Französische Presseorgane legten ihrerseits in den ersten Tagen mehrere Spuren, die auch mit den politischen Interessen des französischen Staates oder anderer Akteure zusammenhingen. Während pro-israelische Webseiten vor allem das syrische und das iranische Regime verdächtigten – diese unterdrücken tatsächlich jeweils ihre „eigenen“ Kurden (was im iranischen Falle etwa mit dem Vierfach-Mord im Berliner Restaurant „Mykonos“ vom 17. September 1992 „gekrönt“ wurde), gingen aber bislang nicht mit Mordmitteln gegen Kurden anderer Staaten vor -, sprachen die bürgerlichen Zeitungen anfänglich auch von der Hypothese eines blutig ausgetragenen Konflikts innerhalb der PKK. Diese Idee war, als einem der Ersten, am Tag nach dem Mord vom türkischen Premierminister Recep Teyyip Erdoğan selbst lanciert worden.

Der konservative Figaro seinerseits sprach von Ermittlungen, die zunächst den „Finanzierungsquellen und Schutzgeldströmen der PKK“ nachgehen müssten. Dem zugrunde liegt die These, dass ein möglicher Friedensschluss zwischen türkischem Staat und PKK einigen Fraktionen innerhalb der nationalen Befreiungsbewegung – die das Drogen- und Waffengeschäft der Organisation zu Zwecken ihrer illegalen Finanzierung kontrollierten – in die Quere käme. Nun gibt es zwar möglicherweise wirklich fragwürdige Praktiken der PKK bei der Finanzierung (um ihre materielle Zwänge zu bewältigen), ihre Haupteinnahmequelle ist jedoch die Solidarität der in Europa lebenden kurdischen Bevölkerung. Und: Zwar hat die nationale Befreiungsbewegung PKK im Inneren auch autoritäre Strukturen, die in den Jahren 1987 für 1988 für mehrere Morde an politischen „Dissidenten“ auf westdeutschem Boden, u.a. in Hamburg, sorgten. Im vorliegenden Fall erscheint eine solche „Spur“ jedoch als schlicht falsch: Es handelte sich bei den drei Frauen nicht um politische „Dissidentinnen“ der PKK, sondern – bei zwei von ihnen – um hochrangige Diplomatinnen der Organisation. Und Sakine Cansiz zu treffen, bedeutete, direkt die Führung und das Umfeld des seit 1999 inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, der ihr vertraute, zu treffen. Auch wenn die Annahme zuträfe, dass Kreise im oder am Rande der PKK etwa aus geschäftlichen Interessen gegen ihren aktuellen Kurs auf Verhandlungen mit dem türkischen Staat querschießen, so wären diese Leute schlicht wahnsinnig, würden sie direkt auf den Kopf der Organisation zielen. Diese „Spur“ ist also hochgradig unwahrscheinlich. Sie zu „verfolgen“, kann jedoch einigen Ermittlungsbehörden in den Kram passen, in deren polizeilicher Optik die – seit 1994 in Frankreich wie in Deutschland verbotene – PKK als solche schlicht eine finstere „Terrororganisation“ bildet.

Ungleich plausibler ist da eine These, die in Bereiche des türkischen Staatsapparats und seiner Schattenstrukturen führt. Unwahrscheinlich ist allerdings (in den Augen fast aller Beobachter) ein Mord direkt im Auftrag der türkischen Regierung, würde er doch ihrem aktuell verfolgten Kurs diametral widersprechen und dessen Erfolg beeinträchtigen: Premierminister Erdoğan, der derzeit eine Präsidentschaftskandidatur vorbereitet, möchte gerne eine (vorläufige oder nicht) „Lösung des Kurdenkonflikts“ an sein Revers heften können. Deswegen hat die türkische Staatsspitze seit Dezember 2012 de facto grünes Licht für offene Verhandlungen mit der PKK gegeben. Als Vermittler dient dabei die „pro-kurdische“, im Parlament vertretene (jedoch immer wieder auch Repressalien ausgesetzte) Partei Bari ş ve demokrasi partisi – BDP, „Partei für Frieden und Demokratie“. Zwei ihrer Abgeordneten erhielten Anfang Januar 13 offiziell die Erlaubnis, Abdullah Öcalan auf der Insel Imrali (im Marmara-Meer) zu besuchen, wo er inhaftiert ist und in den Monaten zuvor noch unter strenge Isolation gestellt war. Dies ist ein Bestandteil der aktuellen Verhandlungspolitik der Regierung in Ankara.

Doch der türkische Staatsapparat weist eine Reihe von ultranationalistischen Fraktionen in seinen repressiven Organen auf, denen dieser Kurs viel zu weit (in die falsche Richtung) geht. Ferner bestehen strukturelle Querverbindungen von Teilen dieses Staatsapparats zu Mafiaorganisationen, zu faschistischen oder paramilitärischen Vereinigungen und rechten Milizen. Dies wurde in den Augen einer breiten Öffentlichkeit auffällig symbolisiert, als am 03. November 1996 ein Autounfall den so genannten Susurluk-Skandal auslöste. In dem Unfallauto hatten ein Mafiaboss, ein bekannter Aktivist der unter dem Namen „Graue Wölfe“ (bozkurtlar) faschistischen Miliz der rechtsextremen „Nationalistischen Aktionspartei“ (MHP), der stellvertretende Polizeichef von Istanbul und ein Abgeordneter der damals regierenden Mitte-Rechts-Partei DYP (Doğru Yol Partisi, „Partei des Rechten Weges“ von Premierministerin Tansu Ciller) gesessen. Seitdem ist der Begriff des „tiefen Staates“ – derin devlet – als Bezeichnung für diese Schattenstrukturen in breiteren Kreisen gebräuchlich.

Kurz nach den Morden von Paris sprachen nun auch französische Presseorgane, wie die sozialdemokratische Tageszeitung Libération, offen vom Verdacht einer Mordaktion aus ebendiesen Kreisen des „tiefen Staates“ heraus. Parallel dazu wird auch eine Tat etwa der faschistischen „Grauen Wölfe“ für möglich erachtet. Letztere aber ist – siehe oben – nicht unbedingt so weit von den als „tiefer Staat“ beschriebenen Strukturen entfernt. Vor allem für die Durchführung einer Tat, die eine größere Vorbereitung erfordert, können durchaus die Mittel staatlicher oder para-staatlicher Organe zum Einsatz gekommen sein – eventuell im Verbund mit anderen, vordergründig eigenständig agierenden Kräften.

Zwei Tatverdächtige präsentiert

Am 18. Januar 13 wurde unterdessen in Paris bekannt, dass die französische Polizei am Vortag zwei gebürtige Kurden festgenommen habe und diese verhöre. Es handele sich um zwei 1974 und 1982 auf türkischem Staatsgebiet geborene Männer, die im Pariser Vorort La Courneuve wohnten. Es handele sich um vormals den Mordopfern „nahe stehende“ Personen, einer von ihnen habe etwa einer der drei Frauen als Fahrer gedient. Die französische Polizei spricht laut ersten Pressemeldungen von einer „ernsthaften Spur“.

Am 21. Januar 13 wurde bestätigt, dass einer der beiden Männer – der jüngere, 30Jährige – als Haupt-Tatverdächtiger gehandelt werde. Er wurde einem Untersuchungsrichter vorgeführt, und ein formelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft beantragte seine Verweisung in U-Haft. Presseveröffentlichungen, die auf Informationen der Ermittlungs- und Justizbehörden zurückgehen, zufolge verfügt er für den Tatzeitpunkt über kein Alibi und er verstrickte sich in widersprüchliche Erklärungen dazu. Ferner sollen Schmauchspuren an einem seiner Kleidungsstücke gefunden worden sein. Der Mann wird als „Fahrer“ von Sakine Cansiz präsentiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr ) Von französischen bürgerlichen Presseorgane wurde daraufhin festgestellt, es bestätige sich die „interne Spur“, also die Wahrscheinlichkeit einer vom Inneren der PKK ausgehenden Tat. (Vgl. ebenda)

Hingegen schrieb eine kurdische Nachrichtenagentur dazu kurz darauf, entgegen anderslautenden Darstellungen habe der Betreffende nichts mit der PKK zu tun. Sein in der Türkei lebender Onkel sagte demzufolge aus, die gesamte Familie habe mit der PKK nichts zu schaffen. Ferner stand der 30jährige dieser Darstellung zufolge erst seit „einem Jahr und zwei Monaten“ in Kontakt mit der kurdischen Vereinigung in Paris. Und es wird dementiert, dass er – wie behauptet worden war - der Fahrer von Sakine Cansiz gewesen sei. Ferner leidet der Betreffende dieser Darstellung zufolge an einem schweren Gehirntumor. (Vgl. http://www.actukurde.fr/) Trifft diese Darstellung zu, so könnte mit einem weitestgehend manipulierten Individuum als dem Ausführenden der Tat zu rechnen sein. Die Frage lautet dann nur: Von wem…?

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.