Sozialdemokratie und Stalinismus:
zwei Gesichter der Konterrevolution
Das antirevolutionäre Wirken der
Sozialdemokratie in der deutschen Revolution von 1918/1919, die
von der Sozialdemokratie zustimmend geduldete Ermordung der
führenden kommunistischen Köpfe – Liebknecht und Luxemburg-,
aber auch die eingeübte sozialdemokratisch reformistische
Grunddisposition der deutschen Arbeiterschaft haben die erhoffte
weltweite Revolution, die unbedingt durch Deutschland hätte
hindurchgehen müssen, verhindert. Der antirevolutionäre
Stalinsche „Sozialismus in einem Land“ erhob sich auch auf den
Folgen der deutschen sozialdemokratischen Konterrevolution.
Die Sozialfaschismus-These war eine
direkt aus Moskau stammende Direktive, die die deutsche
Sozialdemokratie in einer Phase, in der diese auf Annäherung an
„den Westen“ – vor allem Frankreich – intendierte, angreifen
sollte, weil die Sozialdemokratie den von der Sowjetunion in
dieser Zeit verfolgten Kurs einer am Versailler Vertrag vorbei
operierenden intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland und der
Reichswehr gefährdete.
Abgesehen von diesen
außenpolitischen politischen Interessen traf jedoch die
„Sozialfaschismus“-These bei der kommunistischen Basis auch auf
einige Erfahrungswerte mit dem sozialdemokratischen Wirken, das
die sozialistische-kommunistische Bewegung zuweilen mit
repressiven Mitteln traf. Prominentes Beispiel hierfür war gegen
Ende der Weimarer Republik der „Blutmai“ 1929 in Berlin, den der
Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel (SPD) zu verantworten
hatte.
Lenin, Stalin, Trotzki
Wie verhält es sich mit Kontinuität
und Buch zwischen Leninismus und Stalinismus? Sowohl
Rätekommunisten und Anarchisten, die eine bloße Kontinuität
unter negativem Vorzeichen behaupten, als auch Trotzkisten, die
den Bruch überbetonen, sehen die Ambivalenzen nicht. Wobei die
frühe Repressionspolitik der Bolschewiki an der Macht gegenüber
anderen Revolutionsparteien und -strömungen (Anarchisten, linken
Sozialrevolutionären, Syndikalisten) die anarchistische
Kontinuitätsthese stützt. Rosa Luxemburg war nur eine der vielen
Beobachterinnen aus der Ferne, die die autoritäre Politik der
Bolschewiki scharf verdammte und frühzeitig und hellsichtig vor
einer Parteiendiktatur warnte.
Zwar gab es noch in den 30er und
40er Jahren kluge Kritik am Stalinismus, die u.a. von Trotzki
und der trotzkistischen Opposition, den Rätekommunisten,
Anarchisten oder selbst der frühen Frankfurter Schule vertreten
wurde – doch diese Kritik konnte sich nie zu einer
machtpolitischen Alternative zu dem stalinistischen Weg der
Sowjetunion verdichten. Machtpolitisch setzte sich unter dem
Stalinismus in der Sowjetunion die politische Großlinie durch,
der zu Folge das uneingeschränkte Primat der Sicherheits- und
Außenpolitik, der Absicherung des nationalen Territoriums
vorherrsche, die Absage an jeglichen Versuch einer
„Weltrevolution“ war somit impliziert, was sich wiederum
eindrucksvoll um 1968 zeigte, als sich die KPs (wie in
Frankreich) auf die Seite der herrschenden Ordnung schlugen.
Stalinismus und Antistalinismus nach
Stalin
Der eigentliche Kern Stalinistischer
Herrschaft war letzten Endes mit dem Tod Stalins vorbei. Auch
die sich anbahnende antisemitische Kampagne war durch den Tod
Stalins beendet. Stalinismus als Herrschaftslogik,
Machtstrategie und mentale Disposition sollte jedoch Stalin noch
weit überleben. Bei aller Personenkult-Kritik Chruschtschows
hielt sich der Personenkult in der „kommunistischen
Weltbewegung“ und fand und findet vor allem in bäuerlichen
Gesellschaften mit ihren personalisierenden Weltbildern eine
willige Aufnahme. In diesen Bauerngesellschaften hatte eine
stalinisierte Politik oftmals den Zweck verfolgt, das Land
autoritär und staatsdirigistisch zu entwickeln.
In den 50er Jahren wurde – besonders
in Frankreich, aber auch England - eine linke Stalinkritik
ausgeübt (Orwell schon in den 40er Jahren, Sarte-Leford-Debatte
in Frankreich in den 50ern), die schließlich in den 60er-Jahren
von der außerparlamentarischen Bewegung aufgegriffen wurde. Das
historische 1968 in Ost und West war eindeutig
antistalinistisch, Rudi Dutschke und Daniel-Cohn-Bendit waren
als bekennende Antistalinisten nicht umsonst
Repräsentationsfiguren der 68er-Bewegung. Allerdings bildeten
sich schon sehr bald ab 1969 maoistische Gruppen (in Frankreich
waren diese schon 1968 aktiv) die unter dem Vorzeichen von
Chinabegeisterung und „Revisionismus-Kritik“ die antiautoritäre
Phase „aufheben“ wollen, jedoch eher beenden haben.
Der fehlwahrgenommene Stalin
Stalinismus wurde beständig als
„revolutionär“ fehlrezipiert und bot sich so für sich subjektiv
revolutionär Dünkende als Bezugspunkt subversiver Performanz an.
Nicht nur heutige konservative und
neuere osteuropäische Historiker, sondern das falsche
Alttagsbewusstsein im Kalten Krieg wollte in Stalin einen
revolutionären Staatsmann, eine revolutionäre Bedrohung der
„freien Welt“ sehen – im puren Umkehrschluss haben so Rebellen
gegen den Zustand in eben dieser „freien Welt“ sich gerne auf
die inkriminierte, und mit dem Adjektiv „revolutionär“ versehene
Figur bezogen. In einer Umkehrung des falschen
Alltagsbewusstseins schien so (in Westdeutschland ab1969) der
Bezug auf Stalin und die Chinesische Revolution mit ihrer
Stalin-Mao-Verehrung das ultimative Provokationspotential zu
offerieren. Da Mao den „Revisionismus“ unter Chruschtschow und
nach Stalin ablehnte und sich revolutionär inszenierte, meinten
viele Revolutionäre, die Mao-Stalin-Linie verspreche noch
Revolutionäres. Selbst in der DDR hefteten sich Oppositionelle
in den 60er Jahren das Mao-Konterfei schlicht aus provokativem
Bekenntnis gegen die verknöcherte DDR-Herrschaft an die Brust.
Sie deuteten den Maoismus falsch.
Während nämlich unter Chruschtschow die Arbeiterklasse in einen
sozialistischen Wohlstaatsfahrt geführt werden sollte, und in
der Sowjetunion die Ideologie der Aufopferung und des Verzichts
zurück gefahren wurde, erhoben Länder wie China und Albanien
aufgrund ihrer Rückständigkeit und ihrer nachholenden
Entwicklungsambitionen genau diese autoritäre Appell-Logik, die
im Westen als „revolutionär“ missverstanden wurde. Davon
abgesehen wurden die „Rebellion-ist-gerechtfertigt“-Sprüche
nicht als das erkannt, was sie waren: ein Zugeständnis an die
Aufbrüche der chinesischen Jugend, die von der Staatsführung
wieder eingeholt werden sollte.
Neostalinismus heute?
Neostalinismus im wörtlichen Sinne
findet sich heutzutage vornehmlich in „kommunistischen“
migrantischen Organisationen, die auf ihren Plakaten nicht nur
Lenin und Mao, sondern auch Stalin huldigen. So ist nicht nur
der Gedenkstein der Opfer des Stalinismus am Ende der Route des
Luxemburg-Liebknecht-Gedenkmarsches alljährlich Stein des
Anstoßes von vermeintlich „revolutionären“ Gruppen, sondern es
wurden dort bereits antistalinistische Sozialisten, die sich
deutlich gegen die positive Bezugnahme linker Zusammenhänge auf
die Führerfiguren Stalin, Mao und Lenin wendeten, angegriffen.
Neostalinismus sollte jedoch nicht nur als Wiederaufkochen eines
Personenkultes verstanden werden, sondern beinhaltet ebenso den
unkritischen Bezug auf vergangene bürokratische Herrschaft des
„Realsozialismus“.
Pro-stalinistische
Revisionismuskritik
Innerhalb des
traditionskommunistischen Spektrums haben sich die letzten Jahre
immer wieder Stimmen hervorgetan, die einen „Revisionismus“ in
Form des XX. Parteitags beklagen. Offensichtlich läuft für diese
Publizisten, Historiker und Kritiker die Entwicklung seit 1956
auf einen Ausverkauf des Ostens an den Westen hinaus. Ihr
Neostalinismus ist Trauer über den Verlust des Realsozialismus,
den sie nicht als ein gesellschaftliches Verhältnis im
historischen Prozess untersuchen können, in dem genau die
vormaligen treuen Stalinisten unter den gegebenen Verhältnissen
von Systemkonfrontation, Ansprüchen der eigenen Bevölkerung,
technischen Anforderungen agierten. Eine Person muss her, die
für den „Ausverkauf“ verantwortlich ist: Ob nun Chruschtschow
oder erst Gorbatschow, eines wissen diese pro-stalinistischen
„Revisionismus“-Kritiker: Unter Stalin war alles besser. Dieser
Neostalinismus ist eine Form der rückwärtsgewandten Nostalgie,
begleitet aber auch intellektuell eine gewisse
Stalin-Renaissance in Osteuropa, wo den Folgen der brutalen
neoliberaler Deregulierung zuweilen besonders von alten Menschen
mit Reminiszenzen begegnet wird.
Stalinismus durch Antifaschismus?
Der linke DDR-Oppositionelle
Reinhard Schult warnt vor einem Neostalinismus und erklärt, dass
über den Antifaschismus die sich organisierenden Altstalinisten
den Sprung zur Radikalen Linke schaffen. Er erinnert an die
Veranstaltung der Antifaschistischen Revolutionären Aktion
Berlin (ARAB) vom Januar 2010 in dem NVA-Offiziere und die
RAF-Aussteigerin Inge Viett die Stasi und ihre
menschenverachtenden Operationen verharmlosten.
Doch die sich ab den späten 70er
Jahren entwickelnde Antifa-Szene hat sich in diversen
Organisationsdebatten und als Teil der autonomen Bewegung
weitgehend antistalinistisch positioniert. Allerdings ergeht
sich besonders die Strömung der antiimperialistisch
ausgerichteten Antifa-Gruppen in merkwürdiger historischer
Rehabilitierung des KP-Antifaschismus der 20er, 30er und 40er
Jahre. Eine solche Vereinfachung der linken Traditionspflege
zieht sich von der legendären Göttinger Antifa (M) der späten
80er Jahre bis zur heutigen ARAB und den Zusammen
Kämpfen-Gruppen. Doch diese als „stalinistisch“ zu bezeichnen,
ist verkürzt und wirkt diffamierend. Nicht jeder, der nicht
erkennen kann, dass der KP-Antifaschismus der späten 20er Jahre
durch die Sozialfaschismustheorie verdorben und in die
außenpolitischen Erwägungen der Sowjetunion eingespannt war,
kann als „Stalinist“ bezeichnet werden. Aufmerksam machen sollte
man allerdings auf das eindrucksvolle Werk von Bernhard H.
Bayerlein „Der Verräter, Stalin, bist Du!“. Darin wird das
mörderische Ende der linken Solidarität für die Jahre 1939-1941
beschrieben, das von Stalin und der Sowjetunion besiegelt wurde.
Angesichts des Hitler-Stalin-Pakts propagierten die Stalinisten
strategisch einen „Antiimperialismus“, der den Antifaschismus
verdrängen sollte und der merkwürdige Ähnlichkeiten mit der
Nazi-Propaganda gegen die westlichen „Plutokratien“ aufwies.
Auch der in größter Not 1941 ausgerufene große Vaterländische
Krieg wurde von der Aktivierung des Nationalismus, der Auflösung
der Komintern und der definitiven Absage an Emanzipation und
Revolution begleitet.
Allerdings kann nach dem Angriff der
Sowjetunion durch die Deutschen der Anteil der Sowjetunion an
der Niederringung des Faschismus nicht deutlich genug betont
werden. Ob der Sieg über die Nazis trotz oder wegen Stalin
gelang, ist historisch allerdings weitgehend offen und zu
diskutieren. Ein sozialgeschichtlich geprägter Blick kann sich
allerdings nicht damit begnügen, lediglich den „Großen Drei“ –
Stalin, Churchill, Roosevelt – dankbar zu sein. Es waren die
einfachen Soldaten und Soldatinnen, die mit der Nazibarbarei
Schluss machten.
Stalinistische Diskurslinien
Interessanterweise sind die
intellektuell meist besser aufgestellten Gegner des
Antiimperialismus aus dem Antifa-Milieu, die Antideutschen,
alles andere als im Kern antistalinistisch. Zwar nehmen diese
oftmals den historischen Stalinismus aufs Korn, den sie
besonders wegen seiner antisemitischen Manöver und Strategien
bekämpfen wollen, aber in ihrer Politikform selbst bleiben sie
der stalinistischen Logik verhaftet. Ihr Hauptinteresse ist es,
dem Staat Israel die bedingungslose Solidarität auszusprechen.
Und diesen zeichnen sie in ähnlicher Weise wie die historischen
Stalinisten des Kalten Krieges die Sowjetunion: Der Staat
erscheint nur noch als Erbe des Faschismus und als Heimstätte
der Opfer des Zweiten Weltkrieges. Geschichte wird eingefroren.
Nicht umsonst verfährt die linke Monatszeitschrift konkret mit
Israel und seinen Gegnern wie vormals mit der Sowjetunion und
ihren Gegnern. Die militärische Stärke des Staates wird schlicht
unterschlagen, um ein Bedrohungsbild zeichnen zu können. Alle
internen Prozesse, Repressalien, sozialpolitischen Entwicklungen
werden von dem Bild der außenpolitischen Bedrohung überdeckt.
Der Stalinist warnte vor dem „objektiven Kalten Krieger“ und
„objektiven Konterrevolutionär“ – das waren Dissidenten in der
Sowjetunion oder linke Renegaten der kommunistischen Bewegung.
Der Antideutsche kennt seinen „objektiven Antisemiten“ – das
sind linke Kritiker der israelischen Regierung. Je profunder und
herrschaftskritischer deren Analyse, umso grenzenloser fallen
die Schmähungen aus wie beispielsweise gegenüber dem Kritischen
Theoretiker Moshe Zuckermann.
In diesem Zusammenhang muss noch der
Stalinismus als psychisches Phänomen der umfassenden Paranoia
benannt werden. Er sieht sich als Bedrohter und agiert letzten
Endes zur Abwehr der vermeintlichen Bedrohung mit autoritärer
Politik der Diffamierung, der Unterstellung, der Erstellung von
Listen, auf der vermeintlich gefährliche Widersacher vermerkt
werden. Die „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus) als psychische
Grunddisposition hatte im Stalinismus stets einen sicheren
Platz.
Was heißt Entstalinisierung?
In der Partei DIE LINKE ist eine
Stalinismus-Debatte geführt worden und die Spitzenkandidatin
Sarah Wagenknecht, die in den 90er Jahren noch Chruschtschows
Entstalinisierung als schlechten Wendepunkt und Anfang vom Ende
des realen Sozialismus markierte und Stalin dahingegen als
positive Figur zeichnete, hält es nun lieber mit Ludwig Erhard
und der sozialen Marktwirtschaft als vermeintlichem
Zukunftsprogramm. Man sollte das nicht vorschnell als
Lernprozess goutieren. Der historische Stalinismus hat viele
Gesichter: Er war in den 30er-Jahren der propagierten
Volksfrontpolitik ein Konzept der aggressiven Anbiederung ans
Bürgertum. Die reaktionäre Wendung in der Kulturpolitik, in der
der realistische Sozialismus Familie, Arbeit, Vaterland
hofierte, war kein Zufall und erfolgte zur gleichen Zeit, in der
die – anarchistisch geprägte - spanische Revolution 1936 von
GPU-Kommissaren mit zerschlagen wurde. Die aggressive Anpassung
ans Bürgerliche der Sarah Wagenknecht im Zeichen der Krise von
2008 ff., die Reminiszenz gegenüber Erhards
Wirtschaftswunder-Politik, die von der bundesrepublikanischen
Revolte als das Einfahren der konsumistischen Früchte der
mörderischen nationalsozialistischen Modernisierung be- und
angegriffen wurde, muss viel eher als poststalinistisches Erbe,
denn als gelungene Überwindung des Stalinismus begriffen werden.
Hintergrund der diversen
Neostalinismen sind eine beispiellose Schwäche von Dissidenz,
Autonomie, kritischem Denken und vor allem das Abhandenkommen
von libertärer Staatsferne auch im außerparlamentarischen
Milieu. Die „autoritäre Persönlichkeit“ (Adorno) sehnt sich
schließlich besonders nach der Identifikation mit Machthabern.
(Für Hinweise und engagierte
Diskussion danke ich Markus Mohr, eine genauere Ausarbeitung
der Thesen folgt demnächst)
Editorische
Hinweise
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