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zum Artikel über den Armenier-Genozid im Streit zwischen Paris und Ankara und Korrekturen zu seinem historischen Teil


von Bernard Schmid

01/12

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Zu Anfang des Monats berichteten wir an dieser Stelle (siehe: Frankreich-Türkei) über das damals zwischen den jeweiligen politischen Eliten Frankreichs und der Türkei grollende Rumoren. Es ging um den am bisher in der Nationalversammlung - dem „Unterhaus“ des französischen Parlaments - verabschiedeten Gesetzentwurf, dessen Gegenstand eine Strafdrohung für Völkermord-Leugnung ist. Dazu müssen (I.) einige aktuelle Entwicklungen nachgetragen, sowie (II.) einige Berichtungen bedauerlicher Fehler zum historischen Teil des Artikels vorgenommen werden.

Am 22. Dezember 2011 nahm die französische Nationalversammlung das o.g. Gesetz in erster Lesung an. Faktisch stellt das Gesetz, falls es denn künftig verabschiedet wird, jedoch ausschließlich das Abstreiten des Völkermords an den Armeniern, welcher am 24. April 1915 im damaligen Osmanischen Reich begann, unter Strafe. Denn nur ein „vom französischen Gesetz anerkannter Genozid“ wird von dem neuen Gesetz betroffen sein. Die Leugnung der Judenvernichtung im durch Nazideutschland besetzten Europa steht ohnehin, seit der ,Loi Gayssot’ vom 13. Juli 1990, in Frankreich unter Strafe. Und andere Völkermorde, neben der Shoah und dem (seit einem - damals symbolischen - „Erinnerungsgesetz“ vom Januar 2001) in Frankreich ebenfalls gesetzlich anerkannten Armenier-Genozid, sind bislang nicht Gegenstand der französischen Gesetzgebung. Insbesondere nicht der historisch jüngste Völkermord in Rwanda von 1994, während viele seiner Täter oder deren damalige politische Unterstützer (rwandische und französische) auf dem Boden Frankreichs leben und wirken.

I. Aktuelle Entwicklungen

Bei Erscheinen unseres Artikels zum Thema von Anfang Januar d.J. blieb der neue Gesetzestext noch im Bereich des Hypothetischen, Potenziellen, da eine definitive Verabschiedung und ein In-Kraft-Treten zu dem Zeitpunkt nicht in Sicht war. Dazu wäre ein überstimmendes Votum beider Parlamentskammern, d.h. der Nationalversammlung und des Senats, erforderlich. Zum damaligen Zeitpunkt war aber, wie wir berichteten, noch kein Datum für eine Debatte im französischen Senat zum Thema festgelegt worden.

Dies hat sich inzwischen geändert: Am Montag, den 23. Januar 12 wird nun auch der Senat (das „Oberhaus“ des französischen Parlaments, das seit Ende September vergangenen Jahres erstmals eine sozialdemokratische Mehrheit aufweist) über den Gesetzentwurf debattieren und abstimmen. Vgl. http://www.lefigaro.fr  Allerdings hat die „Gesetzeskommission“ des Senats - also jener Ausschuss der Parlamentskammer, der sich vor einer Plenarsitzung über einen Gesetzentwurf ausspricht und zu dessen Annahme oder Ablehnung rät - sich inzwischen mehrheitlich gegen den Entwurf ausgesprochen. Auf Vorschlag von Kommissionspräsident Jean-Pierre Sueur (Sozialdemokrat) hin empfiehlt der Ausschuss mit 23 Stimmen dafür, 9 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen eine Ablehnung des Textes. Vgl.
http://www.lefigaro.fr und http://www.lemonde.fr/


Unterdessen kehrte der türkische Botschafter in Frankreich, welcher am 23. Dezember 2011 aus Protest gegen die Annahme des Gesetzentwurfs in der Nationalversammlung auf unbestimmte Zeit abgereist war, nach Paris zurück. Sein Eintreffen wurde am 08. Januar 12 vermeldet, vgl. http://www.lefigaro.fr - Gleichzeitig hat die offizielle Türkei Frankreich erneut mit Sanktionen für den Fall einer definitiven Verabschiedung des Gesetzentwurfs gedroht. Vgl.
http://www.lefigaro.fr/f

Türkische Regierungsstellen hatten Frankreich im Dezember 2011 als Retourkutsche eines „Völkermords in Algerien“ angeklagt, unter Bezugnahme auf den dortigen Kolonialkrieg von 1954 bis 62.(Jedoch den tatsächlichen Völkermord mit französischer Beihilfe in Rwanda 1994 unerwähnt gelassen, jedenfalls im Munde Premierminister Erdogans, mutmaßlich weil die Rwander/innen mehrheitlich keine Muslime sind und also nicht in eine imaginäre „muslimische Solidarität“ einbezogen werden können. Ferner ist der Hergang des Völkermords in Rwanda im Mittelmeerraum weniger bekannt als jener des Algerienkriegs.) Aber zwischenzeitlich hat sich die algerische Regierung umgekehrt dagegen gewandt, dass der türkische Premierminister Recep Teyyip Erdogan „die französische Kolonisierung in Algerien für seine Geschäfte benutzt“. So lautete die Formulierung seines algerischen Amtskollegen Ahmed Ouyahia; vgl. http://www.elwatan.com  Der Wunsch algerischer Offizieller nach guten Beziehungen zu Frankreich dürfte dem Politiker bei dieser Reaktion freilich nicht ganz fremd gewesen sein.

II. Korrekturen zum historischen Teil des Artikels


Im historischen Teil des Artikels hatten sich leider z.T. falsche Darstellungen eingeschlichen, da unser Augenmerk bei der (umfangreichen) Recherche im Vorfeld hauptsächlich auf das aktuelle Geschehen gerichtet war.

So wurde der Verfasser durch FreundInnen darauf hingewiesen, dass die Formulierung fehlerhaft sei, wonach „anderthalb Millionen Angehörige der armenischen Bevölkerung in der Osttürkei“ bei den Massakern ab April 1915 ermordet wurden. Die Vernichtung blieb nämlich keineswegs auf den Osten des heutigen türkischen, oder damaligen osmanischen Staatsgebiets beschränkt; dieser bildete freilich das Hauptsiedlungsgebiet der Armenierinnen und Armenier. Aber viele von ihnen lebten auch in den osmanischen Grostädten, insbesondere natürlich in Istanbul (Konstantinopel) und in Izmir (Smyrna), und im gesamten Reichsgebiet. Auch dort fanden im Zuge des Genozids massenhafte Morde an und Deportationen von armenischen Menschen statt. Er begann im Übrigen mit der Verhaftung von 2.000 armenischen Intellektuellen in Istanbul.

Im darauffolgenden Absatz ist die Formulierung mindestens grob missverständlich, die in folgendem Satz enthalten ist: „Es handelte sich (Anm.: bei den Opfern des Völkermords) weitem nicht nur um Kombattanten, sondern um eine ganze Bevölkerungsgruppe, die als solche attackiert wurde.“ Diese Passage kann zumindest so gelesen werde, als beinhalte sie die Aussage, dass die osmanischen Militärs zeitlich zuerst oder vorrangig gegen Kombattanten (Aufständische, für Sezession vom Osmanischen Reich kämpfende Armenier) vorgegangen seien. Dass sie dann aber, sozusagen „im Exzess“, auch gegen andere Teile der armenischen Bevölkerung vorgegangen seien. Diese Lesart ist unrichtig.

Vielmehr handelte es sich um einen Plan zur Auslöschung von Armeniern als solchen - die völlig unabhängig von ihrer politischen Aktivität oder Nichtaktivität und Position generell als „fünfte Kolonne“ im Osmanischen Reich dargestellt wurden. Und nicht um eine (wie manche Leute sagen würden) „Überreaktion“ in der Reaktion auf einen realen, bewaffneten Gegner. Erst recht möchte der Verfasser nicht ausdrücken, dass die Massaker etwa gerechtfertigt gewesen wären, falls es denn Aufstände in der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs gegeben hätte. Es gab i.Ü. manche aufständischen Regungen gegen Zwangsrekrutierungen für das Militär und später gegen die Massaker selbst, und diese Widerstände waren selbstverständlich gerechtfertigt.

Eindeutig unrichtig ist die Formulierung in einer Passage drei Absätze später, welche lautet: „Im Übrigen hatten sich viele Militärs (Enver Pascha, Taalat Pascha…), die später am Unabhängigkeitskrieg beteiligt waren, zuvor während der Massaker in den Jahren des Ersten Weltkriegs negativ ausgezeichnet.“ Unverkennbar falsch daran ist, dass osmanischen/türkischen Militärs eine Rolle im „Unabhängigkeitskrieg“ von 1920 - welcher im Übrigen heute durch die türkische Staatsideologie gründlich mystifiziert wird - zugeschrieben wird, die in Wirklichkeit keine Rolle darin spielten.

So kämpfte Enver Pascha, der als damaliger Kriegsminister des Osmanischen Reichs eine wichtige Rolle als Schuldiger beim Armenier-Völkermord spielte, nicht im so genannten „Befreiungskrieg“. Vielmehr führte Enver Pascha (der am Ausgang des Ersten Weltkriegs zunächst in ein deutsches Exil gegangen war) nahezu gleichzeitig dazu, im Jahr 1920, einen Feldzug im später sowjetischen Zentralasien. Dort versuchte er eine pan-türkische“ Idee unter den turksprachigen Bevölkerungen späterer Sowjetrepubliken wie Turkmenistan und Usbekistan zu propagieren. 1922 starb er in Tadschikistan. Talaat Pascha wiederum, als Innenminister des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg - und gleichzeitiger politischer Anführer der Jungtürken - ebenfalls eine Schlüsselfigur beim Mord an den Armeniern, starb 1921 in Berlin im Exil. Er nahm ebenfalls nicht am so genannten „Befreiungskrieg“ teil, auch wenn er seine Hoffnungen auf diesen und die ihn im kämpfenden türkischen Milizen setzte und dabei von einem politischen Comeback träumte. Nachdem er jedoch 1919 in Istanbul durch dortige „pro-britische“ türkische Übergangsbehörden (in Abwesenheit) zum Tod verurteilt worden war, blieb ihm die Rückkehr verwehrt. Am 15. März 1921 tötete ihn der armenische Attentäter Soghomon Tehlirian, im Rahmen der so genannte „Operation Nemesis“, welche die Hauptverantwortlichen für den Völkermord bestrafen sollte. Tehlirian wurde in Berlin später vom Vorwurf des Mordes freigesprochen, da er für schuldunfähig erklärt wurde, aber auch weil die Geschworenenjury in Anhörungen über den vorausgegangen Völkermord informiert worden war. Er starb 1960 in den USA.

Am türkischen „Unabhängigkeits-“ oder so genannten „Befreiungskrieg“ teilgenommen haben also nicht diese Figuren, sondern allenfalls ihre politischen Nachfolger, die zuvor mit ihnen zusammen bei der Jungtürken-Bewegung aktiv waren.

Nichtsdestotrotz ist etwa Talaat Pascha in der Türkei nach wie vor ein vielfach gefeierter „militärischer Held“.

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Text vom Autor zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.