Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Wirtschaftskrise und extreme Rechte
Wie der Front National versucht, von den Verwerfungserscheinungen der Krise zu profitieren

01/12

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Sie ist ein echtes Kind der Krise: Die jetzige Führungsebene des Front National (FN) bildete sich in den Jahren seit dem Beginn der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise heraus, also seit 2007/08.

Die wahre strategische und intellektuelle Ausrichtung der rechtsextremen französischen Partei wird nicht so sehr durch ihre formalen Vorstandsstrukturen bestimmt, sondern durch einen relativ kleinen Kreis von Beratern ihrer Chefin Marine Le Pen. Diese wurde im Januar 2011 auf dem Parteitag in Tours zur neuen Vorsitzenden und Nachfolgerin des langjährigen Gründervaters, Jean-Marie Le Pen, gewählt. Ihre Stichwortgeber und einflussreichsten Berater rekrutierte sie jedoch in den drei vorausgegangenen Jahren. Sie kommen ursprünglich aus dem nationalrevolutionären Milieu ebenso wie aus der rechtsextremen Studentenverbindung GUD oder aus der intellektuellen, vormaligen „Neuen Rechten“.

Einer von ihnen ist ein Finanzexperte, dessen Pseudonym „Nicolas Pavillon“ lautet und der mit seinen Power Point-Präsentationen heute zahlreiche Schulungen für Funktionäre der extremen Rechten leitet. Im September 2007 – als die Finanzkrise zumindest auf dieser Seite des Atlantik noch scheinbar weit weg schien – überzeugte er Marine Le Pen davon, dass das Bankensystem zum Zusammenbruch bestimmt sei und starke wirtschaftliche Verwerfungen bevor stünden.

Zugleich konnte er ihr die Vorstellung, der FN solle auf Bündnisse und eventuell auch Regierungskoalitionen mit konservativen Kräften hinarbeiten, ausreden: Es sei nicht der Moment. Und die extreme Rechte könne auf viel bessere Strategien setzen, als die Auswirkungen der Krise zu verwalten, um sich dabei zusammen mit anderen politischen Kräften zu diskreditieren. Vielmehr müsse Abstand zur bürgerlichen Kräften gewahrt werden, bis der Partei ein viel größerer Durchbruch geglückt sei. Bis dahin hatte Marine Le Pen, im Gegensatz zu ihrem Vater, Regierungsbündnisse mit bürgerlichen Rechten wie damals in Italien oder neuerdings in den Niederlanden nicht ausschließen wollen. Doch diese Idee ist vorerst passé.

Sei es ein geschichtlicher Zufallstreffer oder echten Kenntnissen und Analysen geschuldet: „Nicolas Pavillon“ sagte in Kreisen der extremen Rechten die Wirtschaftskrise bevor, als andere sich noch in einer ökonomischen Schönwetterperiode wähnten. Dadurch wurde er in seinem politischen Milieu fast schon zu einem Propheten. Heute haben sich im Übrigen die Marine Le Pen  umgebenden Führungskader – die ansonsten weitaus mehr ideologisches Gepäck aus der Geschichte der extremen Rechten denn etwaige Wirtschaftskenntnisse mitbringen – großenteils in einer freudigen Krisenerwartung eingerichtet. Insbesondere fiebern sie einem Zusammenbruch der Einheitswährung Euro, den sie für die kommenden Monate voraussagen, entgegen.

Eine solche Abkehr vom Euro würde in ihren Augen alle „Warnungen“ und Prognosen der extremen Rechten vor dem „supranationalen europäischen Einheitsgebilde“ bestätigen. Den aktuell verbreiteten FN-Vorstellungen zufolge könnte der Euro eventuell noch als Zweitwährung neben wieder eingeführten Nationalwährungen, und als fakultatives Zahlungsmittel im transnationalen Verkehr, fortexistieren.

Aufgrund der Ausrichtung auf eine Erwartung weiterer Zuspitzungen der Krise führt der FN, jedenfalls vordergründig, in starkem Ausmaß wirtschafts- und sozialpolitische Themen im Munde. Dabei setzt er vor allem auf das Konzept des Protektionismus und die Vorstellung, „wieder errichtete Grenzen“ sowie Schutzzölle sollten Arbeitsplätze am „Abwandern“ hindern.

Nicht gar so neu

Gar so neu, wie sowohl die extreme Rechte als auch – scheinbar überrascht – viele Beobachter in den bürgerlichen Medien tun, ist diese Ausrichtung der Partei allerdings nicht. Denn den tournant social, also ungefähr die „Wendung zum Sozialen“, vollzog die rechtsextremen Partei erstmals in den Jahren von 1990 bis 92. Damals erklärten seine Intellektuellen dem FN, es sei hoffnungslos überholt, zu versuchen, in einer Frontstellung „freies Abendland gegen Kommunismus“ als besonders konsequente Antimarxisten zu erscheinen. Vielmehr müsse man nach dem „Tod des Kommunismus“ den frei gewordenen Platz als Fundamentalopposition besetzen. Im April 1990 stand daraufhin erstmals ein Kongress des FN unter dem Leitmotto „Soziales und Ökologie“. Doch die soziale Basis der Partei blieb in der Realität überwiegend kleinbürgerlich und mittelständisch geprägt. Bevor sie in mehreren Schüben und mit Unterbrechungen die stark „sozial“ ausgerichtete Programmatik wirklich aufnahm, dauerte es Jahre. Nach der Parteispaltung 1998/99 geriet die Kampagne sogar in Vergessenheit.  

Unter der neuen Führung von Marine Le Pen knüpft der FN erst jetzt wieder verstärkt daran an. Einzig neu daran ist, dass ihre Berater im Unterschied zu den Vorreitern der neunziger Jahre beispielsweise alle antisemitischen oder offen faschistischen Spitzen von ihren Konzepten abschneiden. Als der FN vor 15 Jahren seinen wirtschaftspolitischen und sonstigen Diskurs stark gegen die Globalisierung – als Bedrohung für Nationalstaaten und Arbeitsplätze - auszurichten begann, bezeichnete man sie unter der Vokabel mondialisme (ungefähr: Globalismus, Eine-Welt-Ideologie). Die Endung auf -ismus machte erkennbar, dass man das Übel für eine Ideologie hielt. Und wenn diese beschrieben wurde, sprachen FN-Kader erkennbar entweder von jüdisch-freimaurerischer Weltverschwörung oder vom Wirken „antinationaler Lobbies mit Menschenrechtsfetischismus und verblendetem Menschenbild“. Das ist heute anders. Jeglicher erkennbare Antisemitismus wird unter Marine Le Pen im Übrigen verbannt.  

Auf eigene Beschreibungen der Gründe des Übels, das nun eher auf den neutraleren Begriff mondialisation (Globalisierung) gebracht wird, verzichtet die extreme Rechte vorläufig sogar weitgehend. Sie belässt es vielmehr dabei, keynesianische, marxistische oder globalisierungskritische Analysen, die den deregulierten Kapitalismus auf planetarer Ebene auf die eine oder andere Weise darzustellen versuchen, einfach zu übernehmen. Auf sie werden einzelne eigene Begriffe aufgepropft, und fertig ist die scheinbare Argumentation.  

In den letzten 25 Jahren hat die extreme Rechte mal Wähler und Publikum von der konservativen Rechten, mal auch von der sozialdemokratischen und auch parteikommunistischen Linken übernommen – je nachdem, welche etablierte politische Kraft gerade regierte, sich diskreditiert und abgenutzt hatte. Aber ihr großes Ziel, das darin bestand, beide Wählerströme gleichzeitig zu ihren Gunsten vereinigen zu können, hat sie bislang nicht verwirklichen können. Mal dominierte das eine, und mal das andere Phänomen. Heute versucht die Partei unter Marine Le Pen, die Kombination zu schaffen.  

Wähler von der Rechten… 

Um Wähler von der regierenden Rechten abzuschürfen, setzt die Parteiführung vorwiegend auf einen Wettbewerb mit der Regierungspartei UMP um die schärferen Angebote zu Law and Order sowie „Einwanderungsbegrenzung“. Beide Seiten nehmen an diesem Wettbewerb teil, wobei die Konservativen einerseits Wähler vom Abwandern zum FN abhalten möchten, diesen andererseits aber umso stärker als „normale Partei“ legitimieren. Am 17. Dezember erklärte etwa Innenminister Claude Guéant in einem Radiointerview: „Auch ich denke, dass zu viele Ausländer legal hier einreisen.“ Dieses „auch ich“ bezog sich dezidiert auf Äußerungen Marine Le Pens, denn nach deren Positionen hatten die Rundfunkjournalisten den Minister befragt. 

…und den Linksparteien abgraben

Und mit der etablierten Linken trat der FN in den, mindestens rhetorischen, Wettbewerb um Krisenrezepte. Denn beispielsweise die linkssozialdemokratischen Kräfte setzen, um die Auswirkungen der Krise aufzufangen und die Aushöhlung sozialer Rechte oder ökologischer Schutzinteressen zu bremsen, auf „Regulierung“ durch Formen von Protektionismus. Also auf politische, staatliche Eingriffe in den freien Waren- und Kapitalverkehr, um etwa soziale und ökologische Mindestbedingungen durchzusetzen. Dies kann in konkreten Punkten äußerst sinnvoll sein. Wenn Autos zuerst in mehreren weit auseinander liegenden Länder montiert und danach millionenfach zwischen Asien, Europa und Nordamerika hin- und hergeschifft, wenn zum Verzehr bestimmte Tiere zum Schlachten kreuz und quer durch Europa gekarrt werden, dann jagt das Kapital nach den jeweils billigsten Lohn- und Betriebskosten. Doch es ist unter anderem auch ökologischer Wahnsinn, ob im Hinblick auf Treibstoff- und Ressourcenverbrauch, auf den Tierschutz oder die Fleischqualität. Gleichzeitig ist der Protektionismus im globalen Kapitalismus auch ein Rezept, mit dem nationale Kapitalfraktionen sich selbst vor den Auswirkungen der Krise zu schützen und diese beim Nachbarn abzuladen versuchen. Deswegen vermag der Protektionismus eine kapitalistische Verwertungskrise selten einzudämmen, sondern lediglich ihre Effekte unter den verschiedenen potenziellen Verlierern zu verteilen. 

Diese grundlegende Ambivalenz von Protektionismus greift auch die extreme Rechte auf – vor allem aber strebt sie danach, von dem ideologischen Widerschein zu profitieren, den er hinterlässt oder der ihn begleitet. Denn im Einzelnen übernimmt die extreme Rechte oft konkrete Vorschläge, wie etwa denen eine „Verkürzung der Wege zwischen Produktion und Verbrauch“ - beim FN heißt das dann relocalisation, als Gegenstück zur délocalisation (Auslagerung von Produktion) -, die oft nicht von ihr entwickelt wurden und in einzelnen Ausprägungen durchaus sinnvoll sein können. Nur interessiert die extreme Rechte dabei vor allem der ideologische Botschaft, die darin bestehen soll, dass es generell besser sei, in der Nation oder in Europa „unter sich zu bleiben“ und für seine eigenen Interessen zuerst zu sorgen. Und kaum dass man sich versieht, wird das vermeintliche Patentrezept dann auch auf die „Durchmischung“ menschlicher Gesellschaften und besonders auf die Anwesenheit von Einwanderern übertragen. 

In den letzten Monaten wurde dieses Spiel der extremen Rechten mit Konzepten, die auf den ersten Blick unverfänglich wirken und im zweiten Hinsehen ihre ideologische Symbolik voll entfalten, an einem Wort aufgehängt. Im November 2010 hatte der sozialdemokratische französische Politiker Arnaud Montebourg seine Vorschläge für eine bessere soziale und ökologische Regulierung der Wirtschaftsströme, verbunden mit der Idee einer stärkeren Demokratisierung auf lokaler Ebene, auf den plakativen Begriff démondialisation gebracht. Also, sinngemäß, „Entglobalisierung“ oder Ausstieg aus der Globalisierung. Im Unterschied zur extremen Rechten hat dies bei Montebourg – der selbst ebenso französische wie algerische Vorfahren hat – keinerlei rassistische Implikationen, im Bezug auf die Anwesenheit von Menschen. Am 13. Mai 2011 griff Marine Le Pen dann bei einer Pressekonferenz diesen Begriff der démondialisation auf und machte ihn sich plötzlich zu eigen. Bei ihr ging es allerdings sowohl um Wirtschaft, verknüpft mit der Vorstellung eines europäischen Protektionismus, oder einer Art eurasischen Autarkie im Verbund mit dem Rohstoffreichtum Russlands, als auch um „Ausländer“ und Einwanderungsstopp. 

Doch die Geschichte ging noch weiter. Im Oktober bewarb Montebourg sich, mit seinen schon zuvor entwickelten Konzepten, bei der „Urwahl“ der Sympathisanten der Linksparteien um die Präsidentschaftskandidatur de französischen Sozialdemokratie. Er endete auf dem dritten Platz und erhielt 17 Prozent der abgegeben Stimmen. Marine Le Pen, aber auch der außerparlamentarische rechtsextreme Bloc identitaire – letzterer interessiert sich sonst eher wenig für „soziale Fragen“ - beglückwünschten ihn lautstark zu seinem Erfolg. Und die extreme Rechte tat in der Öffentlichkeit so, als handele es sich um einen Erfolg ihrer eigenen Ideen. Aber auch Montebourg, ein gewiefter Politiker und Anwalt, spielte mit dieser Doppeldeutigkeit. In einem Interview mit der Tageszeitung Libération (vgl. http://www.liberation.fr/) erklärte er im Oktober - unmittelbar nach dem ersten Durchgang der sozialdemokratischen „Urwahl“ vom 09. Oktober 11 - ihm sei es gelungen, bislang durch die Sozialdemokratie unerschlossene Wählerpotenziale zu nutzen. So habe er mit Umweltthemen auch grüne Sympathisanten angesprochen, mit Themen wie Korruption und Protektionismus unter anderem auch „gaullistische und rechtsextreme Wähler“. Als Montebourg dann jedoch, bei der Stichwahl zur sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidatur, für den Mitte-Links-Politiker François Hollande aufrief, geißelte Marine Le Pen dies als „Verrat an seinen Wählern“. Die rechtsextreme Politikerin stellte die Dinge so hin, als habe Montebourg ihre gemeinsamen Wähler verraten und verkauft – denen nunmehr allein der FN für die Stimmabgabe übrig bleibe. 

„Neue Nacht des 4. August“  

Ihre erste große Wahlkampfrede hielt Marine Le Pen am 11. Dezember 11 in Metz, inmitten der ostfranzösischen Krisenregion Lothringen, die durch den Niedergang der Stahlindustrie schwer gebeutelt wurde und wird. Am selben Tag erschien ein Interview mit ihr in der Sonntagszeitung JDD (vgl. http://www.lejdd.fr/ ), in welchem sie „eine neue Nacht des 4. August“ ankündigt. Dieses Datum ist allen Französinnen & Franzosen bekannt: In jener Sommernacht des Jahres 1789 wurden in einem Streich alle Feudalprivilegien von Adel und Klerus abgeschafft. Als neue Träger ungerechtfertigter Privilegien griff Marine Le Pen „die Profiteure von oben“ - Bankmanager, Finanzspekulanten – und „die Profiteure von unten“ in Gestalt von so genannten Sozialschmarotzern gleichermaßen an. Beide ruinierten die Nation.In ihrer Rede vor rund 1.000 Zuhörern bemühte sie sich dann um einen betont „sozialen“ Zungenschlag, welcher in dieser krisengeschüttelten Region gut ankommt. Der gemeinsame Kandidat von Linkssozialdemokraten und KP bei der französischen Präsidentschaftswahl, Jean-Luc Mélenchon, beschuldigte Marine Le Pen deswegen an den folgenden Tagen des „Plagiats“. Mélenchon betonte, man müsse jedoch hinter ihre Begriffe sehen: „Marine Le Pen spricht von einer ,Revolution'. Doch bei ihr geht es weder um eine Bürgerrechtsrevolution“ - welche Mélenchon sich auf die Fahnen schreibt - „noch, natürlich, um eine sozialistische Revolution. Bei ihr dreht es sich um eine Nationale Revolution, wie sie vom Regime des Marschalls Pétain proklamiert wurde.“ Ein Spitzenpolitiker von Mélenchons Linkspartei (PdG) – einer Abspaltung der Sozialdemokratie -, Alexis Corbière, zählte zugleich die Begriffe in ihrer Rede. Marine Le Pen sagte demnach 76 mal „Frankreich“ oder „Franzosen“; immerhin 15 mal „Volk“, hingegen je zwei mal „Arbeiter“ oder „Erwerbstätige“. Je einmal fielen der Begriff „Lohn“ oder „Rente“, aber nicht einmal ein Wort wie „Erhöhung“. Völlig abwesend blieben „Streik“, „Kampf (um Rechte)“ oder auch „Mindestlohn“. Was eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns betrifft, so hatte Le Pen zuvor bei einem Fernsehauftritt auf eine Frage diesbezüglich geantwortet, ein solches „Reförmchen“ (wörtlich: une mesurette, „ein Maßnähmchen“) interessiere sie doch nicht; vgl. auch http://www.lexpress.fr/ 

Das nachvollziehbare Fazit von Corbières Artikel lautet, die rechtsextreme Politikerin versuche zwar von den vorhandenen sozialen Frustrationen in der Krise zu profitieren. Real habe sie jedoch Lohnabhängigen, Prekarisierten und Armen schlicht nichts anzubieten, was ihnen wirklich aus ihrer Lage hilft.

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Text vom Autor zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.