Daß
die Gegner der geplanten Tieferlegung des Stuttgarter
Hauptbahnhofs bei der Volksabstimmung
über das Projekt scheitern würden, war bereits
unmittelbar nach dem Amtsantritt des neuen grünen
Ministerpräsidenten Kretschmann klar,
der wesentlich geschickter als sein Vorgänger Mappus
(CDU) mit der Protestbewegung umging. Während diese
nach der Abstimmungsniederlage nun
erwartungsgemäß bröckelt, ist zu befürchten,
daß ein neuer Mythos etabliert wird: der vom Aufschwung
des demokratischen Bewußtseins im
Ländle. An ihm stricken nicht nur die
S21-Gegner selbst, sondern auch die rotgrüne Landesregierung,
die nicht zuletzt den Protesten ihren
Amtsantritt verdankt. Aber wie das mit
Mythen so geht: Auch dieser hält einer Prüfung nicht stand.
Beginnen wir ab ovo: In den Schulen bröckelt der Putz, in den
Krankenhäusern sterben Menschen, weil es zu wenig
Personal gibt, Sozialleistungen werden
zusammengestrichen - aber um 19 Minuten
schneller von Stuttgart nach Ulm zu kommen, werden gigantische
Summen verbaut. Das Projekt S21 ist
einem Zwang zur Produktivitäts- und
Effizienzsteigerung geschuldet, dem's nicht um ein gutes Leben
für alle, sondern einzig darum geht,
dass die kapitalistische Maximalprofit- und
Wachstumsmaschine weiter brummt.
Das aber hat der Protest in und um Stuttgart herum nie
verstanden. Er war vor allem ein Beleg
dafür, daß Wut kein Ausweis für Kritik ist. Als
Ausdruck eines vagen Bauchgefühls war und ist der
Protest gegen das Stuttgarter
Bahnprojekt vor allem bloßer "Reflex der Realität" (Adorno);
er verlängert die schlechten Verhältnisse und ihre
Zwänge, wie der Anstecker mit der
Mordsphantasie zeigt, mit dem manche S21-Gegner
herumlaufen: "Grube auf, Grube rein, Grube zu, dann
isch Ruh." Wirklich?
Charakteristisch für die Proteste deutscher Wutbürger/innen
ist generell, worüber sie sich nicht
empören: die täglichen Abschiebungen
von Nicht-Deutschen, Hartz IV, Rente mit 67, Verelendung der
abgehängten Unterschicht, Sarrazins
menschenfeindliche Thesen, alte und neue Nazis,
gleich ob sie höchste politische Ämter auch im "Ländle"
bekleiden oder mordend durch die
Republik ziehen, deutsche Rekorde beim Handel mit dem
iranischen Holocaustleugner-Regime – solche Petitessen
bringen Wutbürger/innen im allgemeinen
nicht aus der Ruhe. Heimatverbunden wie
sie sind, heften sie - Beispiel Stuttgart - ihre Empörung zu
Zehntausenden an ein Infrastrukturprojekt, an dem sie
nicht nur die immensen Kosten, sondern
auch die beabsichtigte Schlachtung zweier Kühe
stört, die den Deutschen heilig sind: Tradition und
Baumbestand samt Juchtenkäfer.
Der Gegenstand der Empörung macht den Sozialcharakter der
Protestler sichtbar, deren Affekte sich
unmittelbar gegen diejenigen wendet, die
sein Alltagsbewusstsein ihm anbietet: gegen "die da
oben" - Politiker, Wirtschaftsbosse
oder die Verflechtung beider, namentlich die
/Spätzle-Connection/. Das Gefühl aber, "von oben"
bedrängt, paßt zu dem, "von unten" um
die Früchte der eigenen, ehrlichen Arbeit betrogen zu
werden. Auch wenn es bei den Stuttgarter Protesten
nennenswerte Ausfälle gegen
Marginalisierte nicht gab, so hat doch grundsätzlich, wer zur
Personalisierung der Verhältnisse neigt, kaum ein
Gegenmittel parat, wenn ihm sein Gefühl
neben "denen da oben" auch mal "die da unten" als
Schuldige anbietet und Ressentiments gegen "faule
Griechen", Migranten oder sonstige
"Sozialschmarotzer" empfiehlt. Die Attraktivität des
Schlachtrufs "Oben bleiben!" - wo man sich doch gerade
in einer Auseinandersetzung mit "denen
da oben" wähnt - erklärt sich jedenfalls
auch aus sozialen Abstiegsängsten und Ohnmachtsgefühlen.
Diese waren in Deutschland stets alles
andere als Vorboten paradiesischer Zustände.
Wen weder der skandalöse Ausschluß von Millionen ökonomisch
Abgehängter noch die Tatsache,
daß diese keine Gegenwart mehr haben, auf die
Straße treibt, während er selbst bloß Angst vor der
Zukunft hat, dem darf man unterstellen,
vor allem an der Rechtfertigung und
Rationalisierung eigener Privilegien und Besitzstände
interessiert zu
sein, den reizt zum Protest nicht die gesellschaftliche
Ordnung samt ihrer ökonomischen
Sachzwänge, sondern allein das Personal, das diese
exekutiert (bzw. im Ernstfall dann auch die Konkurrenz
um die eigene Wohlfahrt).
Unter Wutbürgern ist Kapitalismuskritik nur als Karikatur zu
haben: als Lobbykritik nämlich.
Lobbyismus aber, also das Verfolgen eigener
Interessen in einem kapitalistischen Universum, ist der
deutschen Ideologie, der es immer ums
halluzinierte Großeganze geht, seit jeher
besonders suspekt. Ralf Schröder hat diese Haltung
treffend charakterisiert: "Man
halluziniert den Apparat der staatlichen
Verwaltungen und Parlamente als bloße und damit
neutrale Form, die recht ordentlich und
auch im Sinne des Gemeinwohls funktionieren würde, sobald
alle Staatsbürger gleichberechtigt und öffentlich ihre
Anliegen hineinkommunizieren dürften.
Aus der Perspektive des lobbykritischen
Betriebskindergartens können die Erfordernisse der
Kapitalverwertung alle anderen
Ansprüche nur deshalb beständig dominieren, weil ihre
Agenten über einen kurzen Draht zu den
'Entscheidungsträgern' verfügen"
(KONKRET 11/10).
Wenn man auch nicht, um einer von linken Bewegungsfans häufig
gestellten Frage zu begegnen, Marx oder
Freud gelesen haben muß, um protestieren zu
dürfen, so finden sich doch bei beiden Erkenntnisse,
ohne die kein sachlich adäquater
Begriff der gegenwärtigen Gesellschaft auskommt: daß
nämlich weder die Gesellschaftsmitglieder noch ihr Ich
Herr im eigenen Haus sind. Die reale
Ohnmacht der Menschen angesichts der Vormacht der
Verhältnisse, in denen sie leben, drängt Wutbürger aber
nicht nur zur Identifikation
unmittelbar "Schuldiger", sondern auch zur Durchsetzung
des "Volkswillens".
Auch
mit Blick auf Stuttgart waren viele Linke mal wieder
regelrecht "vom Volk besoffen" und
vergaßen jede Kritik, sobald sich die geliebten
Massen auf die Straße begaben. "Direkte Demokratie" –
ja, du meine Güte! Wo einem doch bei
klarem Verstand vor dem "Prinzip Volksentscheid" unter
den obwaltenden Umständen nur grausen kann. Die
Zustimmungswerte für Thilo Sarrazin,
die Schweizer Abstimmungen übers Minarettverbot und die
"Ausschaffung krimineller Ausländer" – schon vergessen?
Ob sich nun, nach der Stuttgarter
Lektion in direkter Demokratie, bei diesen Linken
Ernüchterung einstellt?
Kritik, die der Gesellschaft an die Substanz geht, hat es
naturgemäß schwer: Sie nötigt zur
mühsamen Auseinandersetzung mit
abstrakten Verhältnissen und findet
keinen Trost im Positiven. Doch Wutbürger/innen
scheuen die vorbehaltlose Kritik, sie möchten das
rettende Ufer des gleichwohl Machbaren
nicht aus den Augen verlieren. So wurde das
Alternativprojekt "Kopfbahnhof21" aus der
Kritikverweigerung geboren – man musste
endlich nicht mehr "nur dagegen" sein, man war ein "Freund
des Kopfbahnhofes" und bereicherte fortan das Stadtbild
mit Unmengen grüner K21-Jutetaschen.
K21 aber bricht gerade nicht mit dem
herrschenden Geschwindigkeits-, Leistungs- und Wachstumswahn,
den es zu attackieren gälte.
Originalzitate: "Der TGV von Paris nach Stuttgart
wird durch S21 nicht schneller." - "Ebenso falsch ist
die Behauptung, nur mit S21 könne die
Fahrtzeit nach Ulm verkürzt werden." -
"Vordringlich sollte die Kapazität im Hauptbahnhof durch einen
neuen Rosensteintunnel gesteigert und
die Neubaustrecke realisiert werden,
weil allein sie die Reisezeit verkürzt." Und, als Gipfel: Mit
K21 werde "eine größere
Leistungsfähigkeit erreicht als beim Durchgangsbahnhof".
Kurz: Mehr Wachstum und Geschwindigkeit mit K21! Es ist
das Kennzeichen der konformistischen
Rebellion, enorme Aufregung zu produzieren, die
eigentlichen Ursachen der Misere aber zu ignorieren.
Die
Stuttgarter Protestler/innen haben - ganz entgegen dem eigenen
Anspruch - deutlich gemacht, wie wenig die
NS-Vergangenheit in Deutschland
verstanden und aufgearbeitet ist. Es gab und gibt etwas, das
Gegner und Befürworter des Projekts eint: Je länger der
Nationalsozialismus her ist, desto eifriger verspüren
sie das Bedürfnis, sich als
Widerstandskämpfer zu profilieren. Da verglich ein prominenter
S21-Befürworter das Trillerpfeifengetute der Gegner mit
Nazi-Methoden. S21-Gegner faselten von
KZ und Auschwitz, als die Polizei ankündigte,
Knastcontainer aufstellen zu wollen. Dem
bedauernswerten Opfer eines
Wasserwerfereinsatzes wurde allen Ernstes der
Georg-Elser-Preis verliehen, der an
einen der wenigen wirklichen Widerstandskämpfer gegen
den Nationalsozialismus erinnert. Ein Protestsong, der
- man will es nicht glauben -
wahrhaftig in den Ausruf "Stuttgart erwache!" mündet,
erhielt die höchste Bewertung aller User auf der
"Parkschützer"-Seite. Und der
Schlichter Heiner Geissler fragte schon mal nach, ob man denn
eigentlich den "totalen Krieg" wolle.
Anstatt aber nun danach zu fragen, wie man auf den perversen
Gedanken kommen kann, das, was in
Stuttgart passiert(e), gedanklich auch nur in
die Nähe des totalen Kriegs zu rücken, den die
Nazideutschen geführt haben, wird
weiter verdrängt, umgearbeitet und zurechtgelegt, daß sich
die Schienen biegen. Offenbar ist der demokratische
Firnis dünn: Kaum werden Bürgerin und
Bürger wütend, mögen sie nicht mehr so recht
unterscheiden zwischen bürgerlich-demokratischem
Staatswesen und nationalsozialistischem
Terror.
Es ist daher auch keineswegs uninteressant, daß ausgerechnet
der abstoßende graubraune Bahnhofsklotz
in Stuttgart auf so viel Sympathie
stößt, daß sich noch nicht einmal die Betreiber des
S21-Projekts trauen, das Ding restlos
dorthin zu befördern, wo es hingehört: auf den
Müllhaufen der Geschichte. Ein Ergebnis stand deswegen
leider schon vor der Volksabstimmung
fest: Man wird in Stuttgart weiter mit dieser
widerlichen Mischung aus wilhelminischer Trutzburg und
Reichsparteitagsgelände leben müssen. Nimmt man den 1928
fertiggestellten Bahnhofsbau in Augenschein, so kann
man sich jedenfalls lebhaft vorstellen,
daß Paul Bonatz, sein Erbauer, schon zwei Jahre
zuvor gegen die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, ein
Paradestück modernen Bauens (Leitung:
Ludwig Mies van der Rohe) protestiert hatte, weil
"Stuttgart doch keine Vorstadt von Jerusalem" sei, und dafür
ab 1933 am Gegenprojekt der
Kochenhofsiedlung mitarbeiten durfte. Auch überrascht
es nicht, daß er begeistert am Straßenbauprogramm des
Führers mitwirkte und sich öffentlich
ausmalte, wie sehr diesem eine Stuttgarter
Höhenbekrönung "mit Freitreppen wie bei den Propyläen"
gefiele (siehe dazu http://clemensheni.wordpress.com).
Die Liebe der Stuttgarter
Wutbürger/innen zu ihrem "Bonatz-Bau" aber währet ewig. Als
eine Stadträtin der Grünen den Abbruch
des Bahnhofsnordflügels mit "der
Zerstörung der einzigartigen Buddha-Statuen im Tal von Bamiyan
in Afghanistan durch rückwärts
gewandte, militante Taliban” verglich,
jubelten ihr Tausende frenetisch zu.
Und dann diese Faszination, die der Schlichtungsgedanke gleich
bundesweit auslöste, egal ob pro oder contra S21!
Obwohl für jeden denkenden Menschen von
vornherein feststand, daß bei Geißlers Talkshows
im Stuttgarter Rathaus nichts Gescheites herauskommen
konnte, man seine Zeit folglich
vergnüglicher und sinnvoller als vor dem Bildschirm hätte
verbringen können, feierte der übertragende
Nachrichtensender Phoenix die höchsten
Einschaltquoten aller Zeiten. Die darin sich
manifestierende Sehnsucht nach dem „Großen
Schlichter“,der Zank und Hader beenden
und dem „Großen Ganzen“ dienen möge, war im Kern die
Sehnsucht nach dem einigen Volk. Noch im Motto von
Geißlers lächerlichem
Kompromißvorschlag, der die schlechten Seiten beider Projekte
vereint (Untertunnelung plus
Fortbestand der Gleisfläche) schwingt diese
Sehnsucht mit: "Frieden für Stuttgart".
Und so bleibt denn wenig übrig vom Mythos, ausgerechnet im
Schwabenländle sei mit den Bahnhofsprotesten ein
Schritt zum Ausgang aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit gegangen worden. Es gab und
gibt selbstredend genügend gute Gründe,
gegen das Unsinnsprojekt S21 zu sein.
Doch wenn "die Verzweiflung (noch lange) keine Idee und kein
Ideal der Humanisierung hervorbringt"
(Roger Behrens), dann bleibt nur, dem
instinktiven Mißtrauen gegen scheinbar verantwortliche
Bösewichter selbst zu mißtrauen. Bevor
also Stuttgarter Wutbürger/innen wieder für
den Juchtenkäfer statt für die Opfer neonazistischer
Mörderbanden demonstrieren, sollten sie
vielleicht doch mal bei Adorno nachlesen:
"Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend. Denken hat die
Wut sublimiert."
Editorische Hinweise
Wir erhielten diesen Text von den
Autoren zur Zweitveröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.
Erstveröffentlichung erfolgte in:
KONKRET 1/2012
Lothar Galow-Bergemann schrieb in KONKRET 12/08 über
regressive Kapitalismuskritik; Markus Hofmann lebt in
Stuttgart