Wenn der Bereich der ökonomischen
Phänomene nicht länger jener <plane> Raum ist, sondern vielmehr
ein tiefer und komplexer Raum; wenn die ökonomischen Phänomene
bestimmt werden durch ihre Komplexität (d. h. durch ihre
Struktur], läßt sich der Begriff der linearen Kausalität nicht
länger auf sie anwenden. Ein anderer Begriff ist erforderlich,
der der neuen Form von Kausalität Rechnung trägt, die durch die
neue Definition des Gegenstandes der Politischen Ökonomie, durch
dessen «Komplexität», d. h. durch die ihm eigene Determination
bestimmt ist: Determination durch eine Struktur. Diese dritte
Schlußfolgerung verlangt unsere besondere Aufmerksamkeit, weil
sie uns auf ein völlig neues theoretisches Gebiet führt. Daß ein
Gegenstand nicht durch seine unmittelbar sichtbare bzw.
wahrnehmbare Erscheinung definiert werden kann, daß man den
Umweg über seinen Begriff nehmen muß, um ihn zu begreifen —
diese These klingt unseren Ohren vertraut: zumindest ist dies
die Lehre, die aus der Geschichte der modernen Wissenschaft zu
ziehen ist. Das hatte auch die klassische Philosophie bereits
mehr oder weniger durchdacht, selbst wenn die Reflexion sich
vollzog auf der Grundlage eines transzendenten Empirismus (wie
bei Descartes), eines transzendentalen (Kant und Husserl] oder
eines idealistisch-«objektiven» (Hegel). Mit Sicherheit müssen
große theoretische Anstrengungen unternommen werden, um alle
Formen dieses sub-limierten Empirismus in der die abendländische
Philosophie beherrschenden Erkenntnistheorie zu überwinden und
das für solchen Empirismus problematische Verhältnis von Subjekt
(cogito] und Objekt, mitsamt seinen Variationen, endgültig zu
klären. Indes verweisen alle diese philosophischen Ideologien
gegen jenen hartnäckigen Empirismus zumindest auf eine reale
Notwendigkeit. Diese ergab sich aus der theoretischen Praxis in
den positiven Wissenschaften: daß nämlich die Erkenntnis eines
Gegenstandes der Wirklichkeit sich nicht durch unmittelbare
Berührung mit dem «Konkreten» ergibt, sondern durch die
Erzeugung des Begriffs von diesem Gegenstand (als
Gegenstand der Erkenntnis verstanden) und der theoretischen
Möglichkeit, die er enthält. Wenn Marx uns vor die Aufgabe
stellt, den Begriff des ökonomischen zu bilden, um eine Theorie
der Politischen Ökonomie begründen zu können; wenn er uns
aufgibt, Bereich, Grenzen und Bedingungen der Gültigkeit einer
Mathematisierung dieses Gegenstandes durch seinen Begriff
zu definieren, so bedeutet diese Aufgabe keineswegs einen Bruch
mit der effektiven wissenschaftlichen Praxis, wenngleich diese
Aufgabe mit der gesamten idealistisch-empirischen Tradition der
kritischen abendländischen Philosophie bricht. Im Gegenteil:
Marx' Forderungen nehmen auf einem anderen Gebiet solche
Forderungen wieder auf, wie sie sich schon früh der Praxis der
zu ihrer Autonomie gelangten Wissenschaften aufdrängten. Wenn
diese Forderungen oft mit den Praktiken zusammenstoßen, die,
weitgehend von empiristischer Ideologie bestimmt, in der
Wirtschaftswissenschaft beherrschend waren und es immer noch
sind, so zweifellos deshalb, weil diese «Wissenschaft» ihren
Kinderschuhen noch nicht entwachsen ist und auch, weil die
«Wirtschaftswissenschaft» in besonderem Maße ideologischen
Zwängen ausgesetzt ist: die Gesellschaftswissenschaften besitzen
nicht die Durchsichtigkeit und Neutralität der mathematischen
Wissenschaften. Schon Hobbes bemerkte: die Geometrie vereint die
Menschen, die Gesellschaftswissenschaft trennt sie. Die
«Wirtschaftswissenschaft» ist beides:Kampfmittel und Kampffeld,
auf dem die großen politischen Kämpfe der Geschichte ausgetragen
werden. Mit unserer Forderung, die ökonomischen Phänomene als
durch eine (regionale) Struktur determiniert zu denken, die
ihrerseits durch die (globale) Struktur der Produktionsweise
determiniert ist, verhält es sich anders. Sie stellt Marx'
Denken vor ein Problem, das nicht bloß ein wissenschaftliches
ist, d. h. sich aus der theoretischen Praxis einer bestimmten
Wissenschaft (Politische Ökonomie oder Geschichte) ergibt. Es
ist darüber hinaus ein theoretisches bzw. philosophisches
Problem, weil es die Bildung eines Begriffs oder einer Reihe von
Begriffen verlangt. Diese Begriffe wiederum beeinflussen
notwendig die bestehenden Formen des wissenschaftlichen Denkens
bzw. der (theoretischen) Rationalität; Formen, die zu einem
gegebenen Zeitpunkt den Bereich der Theorie als solche, d. h.
den Gegenstand der Philosophie definieren.(1)
Zur Konstituierung einer wissenschaftlich fundierten Theorie der
Geschichte bzw. der Politischen Ökonomie ist die Einführung
eines theoretischen (philosophischen) Begriffs in der Tat
unabdingbar, eines Begriffs, den es bisher als Begriff nicht
gab. Vielleicht ist der Hinweis noch verfrüht, daß die
Entstehung jeder neuen Wissenschaft unausweichlich theoretische
(philosophische) Probleme dieser Art stellt: Engels schon nahm
das an — und auch uns drängt sich diese Ansicht auf, wenn wir
betrachten, was sich seit der Entstehung der Mathematik in
Griechenland, der galileischen Physik, der
Infinitesimalrechnung, der Chemie, der Biologie etc. ereignet
hat. Bei solchen Beobachtungen stoßen wir auf eine
bemerkenswerte Erscheinung: das «Aufgreifen» einer grundlegenden
wissenschaftlichen Entdeckung durch die Philosophie und die
Entwicklung einer Form von neuer Rationalität (Platon nach den
Entdeckungen der Mathematiker des 5. und 4. Jahrhunderts,
Descartes nach Galilei, Leibniz mit der Infinitesimalrechnung
etc.). Diese philosophische «Reprise», diese von der Philosophie
geleistete Entwicklung neuer theoretischer Begriffe, welche die
— von den betreffenden wissenschaftlichen Entdeckungen zwar
nicht ausdrücklich gestellten, wenngleich «in der Praxis»
enthaltenen — theoretischen Probleme lösen, kennzeichnen die
wichtigen Zäsuren in der Geschichte der Theorie, d. h. in der
Geschichte der Philosophie. Es scheint allerdings, daß bestimmte
wissenschaftliche Disziplinen entstehen konnten und sich bereits
legitimiert glaubten, indem eine Form bestehender Rationalität
(Psycho-Physiologie, Psychologie etc.) einfach ausgeweitet
wurde. Diese Beobachtung würde die Ansicht nahelegen, daß nicht
bereits die Entstehung irgendeiner Wissenschaft ipso facto eine
Revolution im Bereich der Theorie auslöst, sondern daß sie erst
durch die Entstehung einer solchen Wissenschaft bewirkt wird,
die sich gezwungen sieht, die im Bereich des Theoretischen
bestehende Problematik in der Praxis anders zu fassen, um ihren
Gegenstand denken zu können. Die Philosophie, die jene - durch
die Entstehung einer solchen Wissenschaft erzwungene — Umwälzung
theoretisch zu reflektieren vermöchte, indem sie eine neue Form
von Rationalität (Szientifizität, Apodiktizität etc.)
hervorbrächte, würde durch ihr bloßes Dasein eine entscheidende
Zäsur, eine Revolution in der Geschichte der Theorie bewirken.
Erinnert man sich, was bei anderer Gelegenheit über die
Zeitspanne gesagt wurde, die die Philosophie braucht, um jene
neue Form von Rationalität hervorzubringen; bedenkt man
weiterhin, daß bestimmte radikale Veränderungen im theoretischen
Denken durch geschichtliche Zwänge unterdrückt oder abgewehrt
werden, so scheint gerade das Werk von Marx ein Beispiel für
diese Revolution zu sein. Das erkenntnistheoretische Problem,
das sich aus Marx' radikaler
Modifizierung des Gegenstandes der Politischen Ökonomie ergab,
läßt sich in folgende Frage zusammenfassen: Mit welchem Begriff
läßt sich dieser Typus von Determination denken, den wir
als Determination von Phänomenen eines bestimmten Bereichs durch
dessen eigene Struktur gefaßt haben? Allgemeiner ausgedrückt:
Mit welchem Begriff oder welchem Begriffssystem lassen sich die
Elemente einer Struktur, ferner die strukturellen Beziehungen
zwischen diesen Elementen sowie sämtliche Wirkungen (l'effet)
dieser Beziehungen als durch das Wirken (Pefficace] dieser
Struktur determiniert denken? Und schließlich: Mit welchem
Begriff oder welchem Begriffssystem läßt sich die Determination
einer untergeordneten Struktur durch eine übergeordnete denken?
D. h.: Wie ist der Begriff einer strukturellen Kausalität zu
definieren? Diese einfache theoretische Frage ist schon von
Marx' außergewöhnlich folgenreicher wissenschaftlicher
Entdeckung vorweggenommen worden: von seiner Theorie der
Geschichte und der Politischen Ökonomie, vom «Kapital».
Allerdings ist unsere Frage theoretisch gestellt, während sie in
Marx' wissenschaftlicher Entdeckung im «Zustand der Praxis»
enthalten war. Marx hat diese Frage in seinem Werk «praktiziert»
und mit seinem wissenschaftlichen Gesamtwerk die Antwort darauf
erteilt, ohne jedoch eigens in einer philosophischen Arbeit
gleicher Prägnanz deren Begriff zu entwickeln. Diese
einfache Frage war so neuartig und so unvorhersehbar, daß sie
alle klassischen Theorien der Kausalität aus den Angeln hätte
heben können — oder aber aus eben diesem Grund gewärtig sein
mußte, verkannt und unbeachtet zu Grabe getragen zu werden,
bevor sie noch recht geboren war. Die klassische Philosophie (d.
h. die zu Marx' Zeit bestehende Theorie) verfügte, sehr
vereinfacht gesehen, alles in allem über zwei begriffliche
Systeme, um das Wirken zu denken. Zum einen gab es das von
Descartes stammende mechanistische System, das die Kausalität
auf ein analytisches und transitives Wirken reduzierte. Die
«Psychologie» und die Biologie Descartes' belegen, daß sich
dieses System nur um den Preis außergewöhnlicher Dehnungen und
Verzerrungen dazu eignete, das Wirken eines Ganzen auf seine
Teile zu denken. Das zweite System — konzipiert, um eben dieses
Verhältnis zu fassen — war das Leibnizsche des Ausdrucks. Dieses
Modell wurde bestimmend für das Denken Hegels. Dieser geht von
der Voraussetzung aus, daß das Ganze reduzierbar sei auf das
Prinzip einer einzigen Interiorität, d. h. auf ein inneres
Wesen, dessen erscheinende Ausdrucksformen eben die Teile des
Ganzen sind. Zugleich ist dieses innere Prinzip des Wesens in
jedem Moment des Ganzen enthalten, so daß jederzeit die
Gleichsetzung vollzogen werden kann: bestimmter Teil (bei Hegel:
der Ökonomie, der Politik, des Rechts, der Literatur, der
Religion etc.) gleich inneres Wesen des Ganzen. Damit besaß man
ein Modell, das Wirken des Ganzen auf jedes seiner Teile zu
denken. Um aber auf jedes der zu dieser Totalität gehörenden
Phänomene anwendbar zu sein, setzte dieses Modell inneres
Wesen/äußeres Phänomen einen bestimmten Charakter des Ganzen
voraus, den eines «geistigen» Ganzen, in dem jeder Teil als
«pars totalis» Ausdruck der Totalität ist. Mit anderen Worten,
man fand bei Leibniz und Hegel wohl die Kategorie vom Wirken des
Ganzen auf seine Teile, doch nur unter der Bedingung, daß das
Ganze nicht als Struktur gedacht wird. Setzt man das Ganze als
strukturiert, d. h. schreibt man ihm eine Art der Einheit zu,
die sich von der eines geistigen Ganzen grundlegend
unterscheidet, so ist es weder möglich, die Determination der
Teile durch die Struktur im Modell der analytischen transitiven
Kausalität zu denken, noch gelingt es, sie im Modell der
globalen Kausalität eines Wesens zu fassen, das seinen
Phänomenen immanent ist. Die Determination der Teile eines
Ganzen durch dessen Struktur denken zu
wollen, hieß ein ganz neues Problem stellen; und diese
Problemstellung bereitete der Theorie große Schwierigkeiten, da
zu deren Lösung kein theoretischer Begriff vorlag. Spinoza hat
als einziger Theoretiker dieses Problem zu formulieren
unternommen und eine erste Lösung versucht. Doch die Geschichte
hat ihn und sein Unternehmen bekanntlich dem Vergessen
überantwortet. Erst Marx, obwohl dieser von Spinozas Werk wenig
wußte, läßt ermessen, wie die Nachwelt dieses Werk verkannt hat.
Ich nehme hier nur in allgemeinster Form ein grundlegendes
und komplikationsreiches theoretisches Problem wieder auf, von
dem die vorangegangenen Ausführungen eine genaue Vorstellung
gegeben haben. Grundlegend ist dieses Problem, weil sich
offensichtlich die zeitgenössische Theorie in der Psychoanalyse
wie in der Linguistik, in Disziplinen wie der Biologie und
vielleicht sogar der Physik, vor diese Fragen gestellt sieht
(wenngleich unter anderen Vorzeichen), ohne jedoch zu ahnen, daß
Marx sie schon lange vorher im wörtlichen Sinn «produziert»
hatte. Komplikationsreich aber ist es, weil Marx das Problem
zwar «produziert», nicht aber als solches gestellt hat. Vielmehr
hat Marx, ohne über dessen Begriff zu verfügen, das Problem
durch seine wissenschaftliche Verfahrensweise äußerst
einfallsreich gelöst, konnte es jedoch nicht völlig vermeiden,
in die vorherigen Schemata zurückzufallen, die seiner Stellung
und Lösung notwendig unangemessen waren. Mit folgenden Worten,
die sich in der «Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie»
finden und noch nicht zu völliger Klarheit gelangt sind,
versucht Marx das Problem zu fassen: «In allen
Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen
übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang
und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein
alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer
Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das
spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins
bestimmt.» (Grundrisse, Berlin 1953, S. 27)
In diesem Abschnitt geht es um die Determination bestimmter
Strukturen einer untergeordneten Produktion durch die Struktur
der herrschenden Produktion (d.h. um die Determination einer
Struktur durch eine andere), um die Determination der Elemente
einer untergeordneten Struktur durch die herrschende, d. h.
bestimmende Struktur. Ich habe unlängst dieses Phänomen durch
den der Psychoanalyse entlehnten Begriff der Überdeterminierung
(surdetermination) wiederzugeben versucht. Diese Übertragung
eines analytischen Begriffs auf die marxistische Theorie geschah
nicht willkürlich, sondern war eine Notwendigkeit. In beiden
Fällen geht es um das gleiche theoretische Problem: Mit welchem
Begriff ist die Determination, sei's eines Teils, sei's einer
Struktur durch eine Struktur zu denken? Genau dieses Problem
sieht Marx vor sich, und er versucht es in der Metapher von
einer Variation der allgemeinen Beleuchtung zu fassen, des
Äthers, in den die Körper eingetaucht sind, mit der Metapher von
den ständigen Veränderungen, die hervorgebracht werden, indem
eine besondere Struktur Lokalisierung, Funktion und Beziehungen
(in Marx' Worten: die Beziehungen, ihren Rang und ihre
Bedeutung), die ursprüngliche Farbe und das spezifische Gewicht
der Gegenstände bestimmt. Wie wir durch unsere obigen
Ausführungen in strenger Analyse der Marxschen Termini und
Denkformen zeigen konnten, ist eben dieses Problem ständig
Gegenstand von Marx' Überlegungen, ein Problem, das sich
zusammenfassen läßt im Begriff der Darstellung, dem
erkenntnistheoretischen Schlüsselbegriff der marxistischen
Werttheorie. Gegenstand dieses Problems ist es gerade, die Weise
der Präsenz einer Struktur in deren Wirkungen zu zeigen, d. h.
die strukturelle Kausalität selbst.
Übersetzt von Rolf Schubert
Anmerkungen
1) Louis Althusser, Jacques Rändere,
Pierre Madierey: Lire Le Capital, Bd. I, Kap. l, § 14.
Editorische Hinweise
Der Text wurde übersetzt
von Rolf Schubert und erschien 1967 in der
Zeitschrift "Alternative" Nr. 54, S.120ff
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