Lineare und strukturale Kausalität

von Louis Althusser

01/12

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Wenn der Bereich der ökonomischen Phänomene nicht länger jener <plane> Raum ist, sondern vielmehr ein tiefer und komplexer Raum; wenn die ökonomischen Phänomene bestimmt werden durch ihre Komplexität (d. h. durch ihre Struktur], läßt sich der Begriff der linearen Kausalität nicht länger auf sie anwenden. Ein anderer Begriff ist erforderlich, der der neuen Form von Kausalität Rechnung trägt, die durch die neue Definition des Gegenstandes der Politischen Ökonomie, durch dessen «Komplexität», d. h. durch die ihm eigene Determination bestimmt ist: Determination durch eine Struktur. Diese dritte Schlußfolgerung verlangt unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie uns auf ein völlig neues theoretisches Gebiet führt. Daß ein Gegenstand nicht durch seine unmittelbar sichtbare bzw. wahrnehmbare Erscheinung definiert werden kann, daß man den Umweg über seinen Begriff nehmen muß, um ihn zu begreifen — diese These klingt unseren Ohren vertraut: zumindest ist dies die Lehre, die aus der Geschichte der modernen Wissenschaft zu ziehen ist. Das hatte auch die klassische Philosophie bereits mehr oder weniger durchdacht, selbst wenn die Reflexion sich vollzog auf der Grundlage eines transzendenten Empirismus (wie bei Descartes), eines transzendentalen (Kant und Husserl] oder eines idealistisch-«objektiven» (Hegel). Mit Sicherheit müssen große theoretische Anstrengungen unternommen werden, um alle Formen dieses sub-limierten Empirismus in der die abendländische Philosophie beherrschenden Erkenntnistheorie zu überwinden und das für solchen Empirismus problematische Verhältnis von Subjekt (cogito] und Objekt, mitsamt seinen Variationen, endgültig zu klären. Indes verweisen alle diese philosophischen Ideologien gegen jenen hartnäckigen Empirismus zumindest auf eine reale Notwendigkeit. Diese ergab sich aus der theoretischen Praxis in den positiven Wissenschaften: daß nämlich die Erkenntnis eines Gegenstandes der Wirklichkeit sich nicht durch unmittelbare Berührung mit dem «Konkreten» ergibt, sondern durch die Erzeugung des Begriffs von diesem Gegenstand (als Gegenstand der Erkenntnis verstanden) und der theoretischen Möglichkeit, die er enthält. Wenn Marx uns vor die Aufgabe stellt, den Begriff des ökonomischen zu bilden, um eine Theorie der Politischen Ökonomie begründen zu können; wenn er uns aufgibt, Bereich, Grenzen und Bedingungen der Gültigkeit einer Mathematisierung dieses Gegenstandes durch seinen Begriff zu definieren, so bedeutet diese Aufgabe keineswegs einen Bruch mit der effektiven wissenschaftlichen Praxis, wenngleich diese Aufgabe mit der gesamten idealistisch-empirischen Tradition der kritischen abendländischen Philosophie bricht. Im Gegenteil: Marx' Forderungen nehmen auf einem anderen Gebiet solche Forderungen wieder auf, wie sie sich schon früh der Praxis der zu ihrer Autonomie gelangten Wissenschaften aufdrängten. Wenn diese Forderungen oft mit den Praktiken zusammenstoßen, die, weitgehend von empiristischer Ideologie bestimmt, in der Wirtschaftswissenschaft beherrschend waren und es immer noch sind, so zweifellos deshalb, weil diese «Wissenschaft» ihren Kinderschuhen noch nicht entwachsen ist und auch, weil die «Wirtschaftswissenschaft» in besonderem Maße ideologischen Zwängen ausgesetzt ist: die Gesellschaftswissenschaften besitzen nicht die Durchsichtigkeit und Neutralität der mathematischen Wissenschaften. Schon Hobbes bemerkte: die Geometrie vereint die Menschen, die Gesellschaftswissenschaft trennt sie. Die «Wirtschaftswissenschaft» ist beides:Kampfmittel und Kampffeld, auf dem die großen politischen Kämpfe der Geschichte ausgetragen werden.

Mit unserer Forderung, die ökonomischen Phänomene als durch eine (regionale) Struktur determiniert zu denken, die ihrerseits durch die (globale) Struktur der Produktionsweise determiniert ist, verhält es sich anders. Sie stellt Marx' Denken vor ein Problem, das nicht bloß ein wissenschaftliches ist, d. h. sich aus der theoretischen Praxis einer bestimmten Wissenschaft (Politische Ökonomie oder Geschichte) ergibt. Es ist darüber hinaus ein theoretisches bzw. philosophisches Problem, weil es die Bildung eines Begriffs oder einer Reihe von Begriffen verlangt. Diese Begriffe wiederum beeinflussen notwendig die bestehenden Formen des wissenschaftlichen Denkens bzw. der (theoretischen) Rationalität; Formen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt den Bereich der Theorie als solche, d. h. den Gegenstand der Philosophie definieren.(1) Zur Konstituierung einer wissenschaftlich fundierten Theorie der Geschichte bzw. der Politischen Ökonomie ist die Einführung eines theoretischen (philosophischen) Begriffs in der Tat unabdingbar, eines Begriffs, den es bisher als Begriff nicht gab. Vielleicht ist der Hinweis noch verfrüht, daß die Entstehung jeder neuen Wissenschaft unausweichlich theoretische (philosophische) Probleme dieser Art stellt: Engels schon nahm das an — und auch uns drängt sich diese Ansicht auf, wenn wir betrachten, was sich seit der Entstehung der Mathematik in Griechenland, der galileischen Physik, der Infinitesimalrechnung, der Chemie, der Biologie etc. ereignet hat. Bei solchen Beobachtungen stoßen wir auf eine bemerkenswerte Erscheinung: das «Aufgreifen» einer grundlegenden wissenschaftlichen Entdeckung durch die Philosophie und die Entwicklung einer Form von neuer Rationalität (Platon nach den Entdeckungen der Mathematiker des 5. und 4. Jahrhunderts, Descartes nach Galilei, Leibniz mit der Infinitesimalrechnung etc.). Diese philosophische «Reprise», diese von der Philosophie geleistete Entwicklung neuer theoretischer Begriffe, welche die — von den betreffenden wissenschaftlichen Entdeckungen zwar nicht ausdrücklich gestellten, wenngleich «in der Praxis» enthaltenen — theoretischen Probleme lösen, kennzeichnen die wichtigen Zäsuren in der Geschichte der Theorie, d. h. in der Geschichte der Philosophie. Es scheint allerdings, daß bestimmte wissenschaftliche Disziplinen entstehen konnten und sich bereits legitimiert glaubten, indem eine Form bestehender Rationalität (Psycho-Physiologie, Psychologie etc.) einfach ausgeweitet wurde. Diese Beobachtung würde die Ansicht nahelegen, daß nicht bereits die Entstehung irgendeiner Wissenschaft ipso facto eine Revolution im Bereich der Theorie auslöst, sondern daß sie erst durch die Entstehung einer solchen Wissenschaft bewirkt wird, die sich gezwungen sieht, die im Bereich des Theoretischen bestehende Problematik in der Praxis anders zu fassen, um ihren Gegenstand denken zu können. Die Philosophie, die jene - durch die Entstehung einer solchen Wissenschaft erzwungene — Umwälzung theoretisch zu reflektieren vermöchte, indem sie eine neue Form von Rationalität (Szientifizität, Apodiktizität etc.) hervorbrächte, würde durch ihr bloßes Dasein eine entscheidende Zäsur, eine Revolution in der Geschichte der Theorie bewirken.

Erinnert man sich, was bei anderer Gelegenheit über die Zeitspanne gesagt wurde, die die Philosophie braucht, um jene neue Form von Rationalität hervorzubringen; bedenkt man weiterhin, daß bestimmte radikale Veränderungen im theoretischen Denken durch geschichtliche Zwänge unterdrückt oder abgewehrt werden, so scheint gerade das Werk von Marx ein Beispiel für diese Revolution zu sein. Das erkenntnistheoretische Problem, das sich aus Marx' radikaler Modifizierung des Gegenstandes der Politischen Ökonomie ergab, läßt sich in folgende Frage zusammenfassen: Mit welchem Begriff läßt sich dieser Typus von Determination denken, den wir als Determination von Phänomenen eines bestimmten Bereichs durch dessen eigene Struktur gefaßt haben? Allgemeiner ausgedrückt: Mit welchem Begriff oder welchem Begriffssystem lassen sich die Elemente einer Struktur, ferner die strukturellen Beziehungen zwischen diesen Elementen sowie sämtliche Wirkungen (l'effet) dieser Beziehungen als durch das Wirken (Pefficace] dieser Struktur determiniert denken? Und schließlich: Mit welchem Begriff oder welchem Begriffssystem läßt sich die Determination einer untergeordneten Struktur durch eine übergeordnete denken? D. h.: Wie ist der Begriff einer strukturellen Kausalität zu definieren? Diese einfache theoretische Frage ist schon von Marx' außergewöhnlich folgenreicher wissenschaftlicher Entdeckung vorweggenommen worden: von seiner Theorie der Geschichte und der Politischen Ökonomie, vom «Kapital». Allerdings ist unsere Frage theoretisch gestellt, während sie in Marx' wissenschaftlicher Entdeckung im «Zustand der Praxis» enthalten war. Marx hat diese Frage in seinem Werk «praktiziert» und mit seinem wissenschaftlichen Gesamtwerk die Antwort darauf erteilt, ohne jedoch eigens in einer philosophischen Arbeit gleicher Prägnanz deren Begriff zu entwickeln. Diese einfache Frage war so neuartig und so unvorhersehbar, daß sie alle klassischen Theorien der Kausalität aus den Angeln hätte heben können — oder aber aus eben diesem Grund gewärtig sein mußte, verkannt und unbeachtet zu Grabe getragen zu werden, bevor sie noch recht geboren war. Die klassische Philosophie (d. h. die zu Marx' Zeit bestehende Theorie) verfügte, sehr vereinfacht gesehen, alles in allem über zwei begriffliche Systeme, um das Wirken zu denken. Zum einen gab es das von Descartes stammende mechanistische System, das die Kausalität auf ein analytisches und transitives Wirken reduzierte. Die «Psychologie» und die Biologie Descartes' belegen, daß sich dieses System nur um den Preis außergewöhnlicher Dehnungen und Verzerrungen dazu eignete, das Wirken eines Ganzen auf seine Teile zu denken. Das zweite System — konzipiert, um eben dieses Verhältnis zu fassen — war das Leibnizsche des Ausdrucks. Dieses Modell wurde bestimmend für das Denken Hegels. Dieser geht von der Voraussetzung aus, daß das Ganze reduzierbar sei auf das Prinzip einer einzigen Interiorität, d. h. auf ein inneres Wesen, dessen erscheinende Ausdrucksformen eben die Teile des Ganzen sind. Zugleich ist dieses innere Prinzip des Wesens in jedem Moment des Ganzen enthalten, so daß jederzeit die Gleichsetzung vollzogen werden kann: bestimmter Teil (bei Hegel: der Ökonomie, der Politik, des Rechts, der Literatur, der Religion etc.) gleich inneres Wesen des Ganzen. Damit besaß man ein Modell, das Wirken des Ganzen auf jedes seiner Teile zu denken. Um aber auf jedes der zu dieser Totalität gehörenden Phänomene anwendbar zu sein, setzte dieses Modell inneres Wesen/äußeres Phänomen einen bestimmten Charakter des Ganzen voraus, den eines «geistigen» Ganzen, in dem jeder Teil als «pars totalis» Ausdruck der Totalität ist. Mit anderen Worten, man fand bei Leibniz und Hegel wohl die Kategorie vom Wirken des Ganzen auf seine Teile, doch nur unter der Bedingung, daß das Ganze nicht als Struktur gedacht wird. Setzt man das Ganze als strukturiert, d. h. schreibt man ihm eine Art der Einheit zu, die sich von der eines geistigen Ganzen grundlegend unterscheidet, so ist es weder möglich, die Determination der Teile durch die Struktur im Modell der analytischen transitiven Kausalität zu denken, noch gelingt es, sie im Modell der globalen Kausalität eines Wesens zu fassen, das seinen Phänomenen immanent ist. Die Determination der Teile eines Ganzen durch dessen Struktur denken zu wollen, hieß ein ganz neues Problem stellen; und diese Problemstellung bereitete der Theorie große Schwierigkeiten, da zu deren Lösung kein theoretischer Begriff vorlag. Spinoza hat als einziger Theoretiker dieses Problem zu formulieren unternommen und eine erste Lösung versucht. Doch die Geschichte hat ihn und sein Unternehmen bekanntlich dem Vergessen überantwortet. Erst Marx, obwohl dieser von Spinozas Werk wenig wußte, läßt ermessen, wie die Nachwelt dieses Werk verkannt hat.

Ich nehme hier nur in allgemeinster Form ein grundlegendes und komplikationsreiches theoretisches Problem wieder auf, von dem die vorangegangenen Ausführungen eine genaue Vorstellung gegeben haben. Grundlegend ist dieses Problem, weil sich offensichtlich die zeitgenössische Theorie in der Psychoanalyse wie in der Linguistik, in Disziplinen wie der Biologie und vielleicht sogar der Physik, vor diese Fragen gestellt sieht (wenngleich unter anderen Vorzeichen), ohne jedoch zu ahnen, daß Marx sie schon lange vorher im wörtlichen Sinn «produziert» hatte. Komplikationsreich aber ist es, weil Marx das Problem zwar «produziert», nicht aber als solches gestellt hat. Vielmehr hat Marx, ohne über dessen Begriff zu verfügen, das Problem durch seine wissenschaftliche Verfahrensweise äußerst einfallsreich gelöst, konnte es jedoch nicht völlig vermeiden, in die vorherigen Schemata zurückzufallen, die seiner Stellung und Lösung notwendig unangemessen waren. Mit folgenden Worten, die sich in der «Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie» finden und noch nicht zu völliger Klarheit gelangt sind, versucht Marx das Problem zu fassen: «In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.» (Grundrisse, Berlin 1953, S. 27)

In diesem Abschnitt geht es um die Determination bestimmter Strukturen einer untergeordneten Produktion durch die Struktur der herrschenden Produktion (d.h. um die Determination einer Struktur durch eine andere), um die Determination der Elemente einer untergeordneten Struktur durch die herrschende, d. h. bestimmende Struktur. Ich habe unlängst dieses Phänomen durch den der Psychoanalyse entlehnten Begriff der Überdeterminierung (surdetermination) wiederzugeben versucht. Diese Übertragung eines analytischen Begriffs auf die marxistische Theorie geschah nicht willkürlich, sondern war eine Notwendigkeit. In beiden Fällen geht es um das gleiche theoretische Problem: Mit welchem Begriff ist die Determination, sei's eines Teils, sei's einer Struktur durch eine Struktur zu denken? Genau dieses Problem sieht Marx vor sich, und er versucht es in der Metapher von einer Variation der allgemeinen Beleuchtung zu fassen, des Äthers, in den die Körper eingetaucht sind, mit der Metapher von den ständigen Veränderungen, die hervorgebracht werden, indem eine besondere Struktur Lokalisierung, Funktion und Beziehungen (in Marx' Worten: die Beziehungen, ihren Rang und ihre Bedeutung), die ursprüngliche Farbe und das spezifische Gewicht der Gegenstände bestimmt. Wie wir durch unsere obigen Ausführungen in strenger Analyse der Marxschen Termini und Denkformen zeigen konnten, ist eben dieses Problem ständig Gegenstand von Marx' Überlegungen, ein Problem, das sich zusammenfassen läßt im Begriff der Darstellung, dem erkenntnistheoretischen Schlüsselbegriff der marxistischen Werttheorie. Gegenstand dieses Problems ist es gerade, die Weise der Präsenz einer Struktur in deren Wirkungen zu zeigen, d. h. die strukturelle Kausalität selbst. Übersetzt von Rolf Schubert

Anmerkungen

1) Louis Althusser, Jacques Rändere, Pierre Madierey: Lire Le Capital, Bd. I, Kap. l, § 14.

Editorische Hinweise

Der Text wurde übersetzt von Rolf Schubert und erschien 1967 in der Zeitschrift "Alternative" Nr. 54, S.120ff