Über den verblichenen libyschen
Diktator war sich die öffentliche Meinung im Westen schon zu
seinen Lebenszeiten einig: Das Adjektiv „verrückt“ fiel im
Zusammenhang mit ihm ziemlich oft. Doch wenn man den Blick
weniger auf seinen Kleidungsgeschmack, sondern auf seinen
politischen Werdegang richtet, erscheint der Verstorbene in
einem etwas anderen Licht. Wer also war Muammar al-Gaddafi?
Westlich ausgebildeter Nationgründer
Gaddafi gehörte zu einer
Generation von arabischen Militärs, die nach dem Ende der
Kolonialzeit mit den Verhältnissen in den neu entstandenen
Staaten nicht zufrieden waren. Viele dieser Militärs
absolvierten eine Ausbildung bei den früheren Kolonialmächten,
so z.B. Gaddafi in Großbritannien. Dort konnten sie
beobachten, wie erfolgreiche Weltmächte funktionieren: Nämlich
als Nationalstaaten mit einem Staatsvolk, welches an seinem
Staat interessiert ist und sich selbst für den Staat nützlich
macht.
Bei den arabischen Militärs zu
Hause, also im Nahen Osten, herrschten hingegen von
Kolonisatoren eingesetzte Monarchen über Clans und
Stammesverbände, die für ihre Mitglieder viel wichtiger waren
als der Gesamtstaat. Die Monarchen gaben sich mit der
persönlichen Loyalität der Clan-Führer zufrieden und
überließen den ehemaligen Kolonisatoren den Abbau der
Rohstoffe gegen Geld, was ihrer persönlichen Bereicherung
diente.
Die Offiziere, die im September 1969 den ersten und letzten
libyschen König Idris I. stürzten, hatten sich fest
vorgenommen, aus den Untertanen patriotische Staatsbürger zu
formen. Sie schlossen westliche Militärstützpunkte,
enteigneten italienische Grundbesitzer und begannen damit, die
Förderung und den Export von Erdöl zu verstaatlichen. War das
Erdöl bisher die Grundlage des ausländischen Einflusses in
Libyen, sollte es jetzt zum Mittel der nationalen
Unabhängigkeit werden.
Der Bevölkerung musste erst einmal
beigebracht werden, dass sie jetzt eine libysche Nation sei,
in der die einzelnen Clans als Teil des großen Ganzen ihren
Platz haben. Der massive Ausbau des Bildungssystems und
Alphabetisierungsoffensiven waren nötig, um die Fruchtbarkeit
von staatlicher Propaganda und Nationalstaatsprogramm
überhaupt zu ermöglichen. Mit den Einnahmen aus dem Ölexport
finanzierten die neuen Machthaber einige Maßnahmen zur
Instandhaltung ihrer Manövriermasse – des Staatsvolkes:In
Afrika war solch ein Verhältnis von einem Staat zu seinen
Bürgern tatsächlich etwas Neues. Das höchste
Pro-Kopf-Einkommen auf dem Kontinent, Gesundheitsversorgung
und Bildung für größere Teile der Bevölkerung ließen Libyen im
vorteilhaften Licht erscheinen – im Vergleich zu anderen
afrikanischen Staaten, wo der Staatsapparat den Rest des
Staatsvolkes als kaum nützlich ansieht und mit dessen
Loyalität nicht rechnet.
Demokratieidealist und Diktator
Zwar übernahm Gaddafi die Macht
zusammen mit anderen Militärs, aber im Laufe der siebziger
Jahre verdrängte er die Armeeführung von der Macht und wurde
zum faktischen Alleinherrscher. Währenddessen löste er sich
zunehmend von seinem bisherigen Vorbild , dem ägyptischen
Präsidenten Nasser, und entwarf sein eigenes
„Sozialismusmodell“. An Stelle von Parteien (genau genommen
gab es zuvor nur eine) und Militärregierung sollte die ganz
unmittelbare Herrschaft des Volkes treten. Das war seine
Konsequenz aus der Analyse anderer Herrschaftsformen: Gaddafi
geißelte parlamentarische Demokratie als Betrug. Er
kritisierte Parteien und Parlamente für die Verfälschung des
„wahren Volkswillens“. Am sowjetischen System wiederum
kritisierte der Oberst, dass das die Diktatur einer Klasse
sei. Die libysche Alternative sollte lauten: Dschamahirija,
die „Herrschaft der Massen“. Eine „echte“ Demokratie könne nur
direkt sein, so lautete nun die Parole. Mit seinen
pathetischen Hinweisen darauf, dass Volksvertreter in
Parlamenten nicht das beschließen, was das Volk wirklich will,
sprach er vielen Linken aus dem Herzen. Seine Vorstellung, ein
richtig geeintes Volk hätte einen einheitlichen Willen, den
eine entschlossene Führung nur noch umsetzen müsse, brachte
das faschistische an der Dschamahirija-Staatskonzeption auf
den Punkt. Die Pilgerreisenden von links und rechts
verbreiteten schwärmerische Berichte über die Einigkeit, die
zwischen Volk und Oberstem Revolutionsführer herrschte.
Faktisch war es immer noch so, dass für die Entscheidungen
Delegierte entsandt wurden, alle Entscheidungen des
„Volkskomitees“ allerdings von der „revolutionären Führung“
jederzeit aufgehoben werden konnten und über die Arbeit der
„Volkskomitees“ wiederum die „Revolutionären Komitees“, die
nur aus loyalen Kräften bestanden, mit Argusaugen wachten.
Auch Gaddafi beherrschte es –
ebenso gut wie die Öffentlichkeit im „freien Westen“ –,
jegliche Politik, die ihm nicht passte, formell als
„undemokratisch“ anzuklagen. Als Kritiker jeglicher
Repräsentanz und Delegation reklamierte er für sich, die
vereinigte Stimme des Volkes direkt zu vernehmen. Es war diese
Stimme, die ihn über die Jahre zum Weiterherrschen ermunterte.
Da aller Volksideologie zum Trotz, in der Bevölkerung
allerdings nach wie vor politische und ökonomische
Interessenskonflikte produziert und reproduziert wurden, sah
sich der Staat immer wieder veranlasst durchzugreifen, um die
vermeintliche Volksinteressen durchzudrücken.
Kommunistenschlächter und Partner des Ostblocks
Anfänglich war Gaddafi dem
Kommunismus und dem Ostblock recht feindlich gesonnen. Noch
1971 half er dem sudanesischen Diktator Numairi bei der
Eliminierung einer der größten kommunistischen Parteien
Afrikas und des Nahen Ostens – der Sudanese Communist Party.
Doch ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre fanden Libyen
und die UdSSR auf Grundlage der gemeinsamen Feindschaft zur
NATO und zu Israel zueinander. Seit dem Machtantritt von
Ronald Reagan als US-Präsident wurde Gaddafi im Westen als
de-facto Kommunist in einem Atemzug mit Fidel Castro und Kim
Il-Sung genannt.
Doch auch wenn Libyen im Osten
einen neuen Käufer für sein Erdöl und eine neue Quelle für
(die stets benötigten, aber vom Westen verweigerten) Waffen
fand, betonte Gaddafi stets die Unabhängigkeit seines „Dritten
Weges“. Während andere Linksnationalisten in der arabischen
Welt der Freundschaft mit Moskau zuliebe zwischendurch mit
gezähmten KPs paktierten, ließ der Autor der „Dritten
Welttheorie“ bei sich keinerlei kommunistische Umtriebe
aufkommen. Libyen verbot Marx-Werke und die UdSSR ihrerseits
unterband alle Versuche, das „Grüne Buch“ des Obersten
Revolutionsführers bei sich zu verbreiten.
Antiimperialist und Partner des Westens
Trotz der Betonung der libyschen Unabhängigkeit liefen die
Geschäfte mit dem Westen bestens. Noch 1980 erreichte das
amerikanisch-libysche Handelsvolumen seinen Höhepunkt. Vor
möglichen, auch militärischen Interventionen durch die
kapitalistischen Käuferländer schützten Libyen die im Ostblock
in rauen Mengen erworbenen Waffen. Dabei musste Gaddafi von
Anfang an Kompromisse eingehen: Die Enteignung der westlicher
Konzerne etwa verlief nicht ohne Entschädigung, die westlichen
Militärbasen wurden geschlossen auf Grundlage der Zusicherung,
dass es keine sowjetische Militärbasen in Libyen geben wird.
Das ist ein Hinweis auf den dauerhaften Widerspruch, der in
Gaddafis nationalem Projekt angelegt war: Die Grundlage seines
Unabhängigkeitsgebahrens waren die hohen Ölpreise und große
Nachfrage danach – und zwar genau in jenen Ländern, von denen
sich Libyen unabhängig machen wollte.
Doch das heißt nicht, dass der libysche Staat seinen
antiimperialistischen Anspruch nicht ernst nahm. Das
Ausgangsproblem, dass die westlichen Großmächte deutlich mehr
auf dem afrikanischen Kontinent zu sagen hatten als die
unabhängig gewordenen Ex-Kolonien, blieb. Libyen war jetzt ein
Nationalstaat, aber im internationalen Vergleich ein recht
unbedeutender. So viel hatte Oberst Gaddafi schon gelernt,
dass man so etwas nicht auf sich sitzen ließ - und versuchte
fleißig sich in alle nahen und fernen Konflikte zu
intervenieren:wie es sich für eine Weltmacht gehört. Egal ob
er alle Araber, alle Moslems oder alle Afrikaner unter
libyscher Initiative vereinen wollte; ob er palästinensische
Splittergruppen, afrikanische Diktatoren oder britische
Trotzkisten mal mehr, mal weniger großzügig unterstützte – das
Ziel, sich wie ein Staatschef vom Kaliber seiner Gegner
aufzuführen, verlor er nicht aus den Augen. Gaddafis
Anti-Imperialismus war eine versuchte Nachahmung der
Außenpolitik seiner Partner und Widersacher.
In den achtziger Jahren rächten sich die USA und später auch
ihre Verbündeten durch Wirtschaftsembargos und Luftangriffe.
Die Unterstützung aus dem Ostblock fiel bald auch noch weg.
Gaddafi musste sich umorientieren. Erst wechselte er sein
Image vom Terroristenunterstützer zum Friedensstifter. Mal
wurden mit libyscher Vermittlung westliche Geiseln in
islamischen Ländern freigepresst, mal initiierte er eine für
den Westen recht nützliche Afrikanischen Union (AU), welche
sich kostengünstig um die Aufsicht über Konflikte auf dem
Kontinent kümmert.
Spätestens ab 2003 war auch Schluss mit den
sozialistisch-sozialstaatlichen Experimenten: Der Aufbau des
„Volkskapitalismus“ wurde verkündet. Eine riesige Welle von
Privatisierungen rollte über das Land. Für die EU war der Chef
des Mittelmeerstaates Libyen aber auch als Kerkermeister von
großer Bedeutung, als er, der frühereVerkünder der
internationalen Solidarität, nun begann, afrikanische
Flüchtlinge noch vor ihrer Seereise auf dem Mittelmeer
abzufangen und in Lager zu sperren. Außerdem war der Westen
nach dem 11. September so über den Islamismus besorgt und
Libyen wiederum so auf ausländisches Kapital angewiesen, dass
man sich recht problemlos einigte.
Kaum war der ehemalige „bad guy“ rehabilitiert, schon ging der
„arabische Frühling“ los und die neuen Freunde ließen Gaddafi,
der an eine Abgabe der Macht nicht dachte, prompt fallen.
Mögen die Medien noch so sehr von den friedlichen Revolutionen
schwärmen, Gaddafi hat demonstriert, dass Proteste auf der
Straße, und mögen die noch so zahlreich sein, für den Staat
noch kein Grund sein müssen einzulenken. Er griff zu dem
Mittel, das alle Staaten im Falle von massiver Störung ihrer
Funktionen vorsehen: dem Notstand und damit einhergehend dem
rücksichtslosen Gebrauch von Gewaltmitteln zwecks
Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols. Das wurde
ihm sehr übel genommen – die Öffentlichkeit der demokratischen
Länder, auch solcher mit Notstandgesetzen, empörte sich
darüber, dass Gaddafi sein eigenes Volk zusammenschieße. Dem
kann man entnehmen, dass es tatsächlich für verwerflich
gehandhabt wird, das eigene statt eines fremden Volkes
umzubringen
Ungeachtet des schwachen Protests
einiger rechter US-Republikaner (die den Oberst für das
kleinere Übel gegenüber Islamisten hielten) und
antiimperialistischen Linken (die teils Gaddafis frühere
Verdienste noch schätzten, teils es einfach unfair finden,
wenn stärkere Staaten sich in die Angelegenheiten der
schwächeren einmischen) wurde Gaddafis Dschamahirija mit
NATO-Bomben eingedeckt.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel von
den AutorInnen zur Veröffentlichung in dieser TREND-Ausgabe.