Venezuela von unten
Das Venezuela-Buch von Helge Buttkereit

Besprochen von Peter Nowak

01/12

trend
onlinezeitung

„Das Haus war eine Station der städtischen Polizei, die wir uns zurückgeholt haben. Wir müssten 39 Polizisten hier rausholen“. Diese Szene hört an, als wäre sie in einem Land im Bürgerkrieg geschehen. Abgespielt hat sie sich aber im Stadtteil 23 Januar in der venezolanischen Hauptstadt Caracas im Jahr 2005. Dabei ist kein Schuss gefallen, die Polizisten haben gemerkt, dass die politische Situation ihnen keine andere Wahl lässt, als sich den linken Stadtteilaktivisten zu beugen. Allerdings hätten sie noch gedroht, dass sie wiederkommen, wenn Chavez gestürzt sein wird. Darüber berichtet Guadalup Rodriguez, eine der Organisatorin der linken Stadtteilgruppen. Sie berichtet darüber in dem kürzlich im Pahl-Rugenstein-Verlag erschienenem Buch „Wir haben keine Angst mehr“. Der Hauptteil besteht aus Gesprächen, die der Publizist Helge Buttkereit mit 10 Aktivisten der bolivarischen Revolution in Venezuela führt. Neben Stadtteilaktivisten sind Gewerkschafter in selbstverwalteten Betrieben, Hausbesetzern, einen bolivarischen Beamten und einem Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Venezuelas geführt hat. So unterschiedlich die Gesprächspartner auch sind, so kann man sie als Basisaktivisten bezeichnet, die oft schon vor den Regierungsantritt von Chavez in linken Gruppen aktiv waren und verfolgt wurden. Der Autor vermittelt mit den Gesprächen einen Einblick in die Arbeit und die Diskussionen dieser linken Basisbewegung, die keineswegs unkritisch Regierungsparolen nachbeten. Fast alle Gesprächspartner klagen über die bolivarische Bürokratie, die viele Basisinitiativen hemmt. Gustavo Martinez von der Kaffeefabrik „Fama de America“ ist gar der Meinung: „Die Rechte ist geschwächt, hat keine Projekte, kein Fundament. Die Bürokratie ist der Feind, den wir besiegen müssen.“

Aber auch das mangelnde Interesse von Stadtbewohnern, sich in den Basisbewegungen zu engagieren, wird beklagt. „Der Staat will Wohnungsprogramme aufleben. Aber das Problem ist das Gemeinschaftsgefühl, das fehlt“, beschreiben Omaira Roa und Dalio Maggi die Situation in einen Stadtteil von Caracas. Auch Martinez klagt über fehlendes Bewusstsein vor allem bei langjährigen Beschäftigten in der Kaffeefabrik. Er moniert auch, dass nach dem Putschversuch gegen Chavez im Jahr 2002 der „große Sprung nach vorn“ ausgeblieben und nimmt dabei auch den Präsidenten aus der Kritik nicht aus, der damals zu nationaler Versöhnung aufgerufen habe. Wie tief der Riss auch in der Regierungspartei sein muss, zeigt sich daran, dass bei dem Räumungsversuch einer von Arbeitern besetzen Fabrik für Autoglas, für den ein Gouverneur der Regierungspartei verantwortlich war, zwei Arbeiter getötet wurden. Für den linken Aktivisten Juan Contreras ist Cuba, das er in den 90er Jahren mit weiteren linken Stadtteilaktivisten aus dem Barrio 23 Januar an Solidaritätsbrigaden in Kuba teilgenommen hat, ist das Land auch heute für Venezuela noch immer ein Vorbild. Seine Motivation zu den Brigaden beschreibt er so: „Wir sind aus einer solidarischen Geste für die kubanische Bevölkerung dort hingefahren“. Bezogen auf Venezuelas Weg zum Sozialismus sagt er: „Ich glaube, es ist ein Problem aller Venezolaner und wenn wir es in Kuba geschafft haben, warum sollen wir es nicht auch in unserem eigenen Land schaffen“. Es gibt allerdings auch befremdliche Töne von einigen Interviewpartner: So hätte man sich eine kritische Nachfrage des Autors gewünscht, wenn drei Stadtteilaktivisten des Barrios Sententa sagen, dass man nicht erlauben kann, dass „Menschen mit schlechten Benehmen“ in die Gemeinschaft zieht. Was ist damit gemeint und wie erkennt man das, wäre da sofort meine Anschlussfrage, die aber leider nicht gestellt wurde. Die gleichen Stadtteilaktivisten haben zuvor schon den venezolanischen Diktator Manuel Jimenez gelobt, weil der angeblich Häuser für die Armen bauen wollte und Chavez diese Arbeit jetzt fortsetzt. Tatsächlich aber war Jimenez ein rechter Politiker, der den Stadtteil 23 Januar für Regierungsbeamte bauen wollte. Nach seinem Sturz, der wesentlich durch den Aufstand der armen Bevölkerung von Caracas vorangetrieben wurde, besetzten diese dann die gerade fertiggestellten Häuser und blieben drin. Dadurch entstand in dem Barrio auch früh eine linke Selbstorganisation, die heute ein wichtiger Träger der bolivarischen Basisbewegung geworden ist. Warum aber dort jetzt einige Jimenez zu einen frühen Chavez aufbauen wollen, wäre sicher eine Nachfrage Wert gewesen.

Das Buch liefert einen ehrlichen, ungeschminkten Blick auf Debatten in den venezolanischen Basisbewegungen. In einen Kapitel setzt sich Buttkereit kritisch mit aktuellen Texten auseinander, in denen sich die bekannt lateinamerikanischen Linksintellektuellen Marta Harnecker und Michael Lebowitz mit sozialistischen Perspektiven auseinander. Leider sind diese Texte noch nichts ins Deutsche übersetzt. Ein Interview mit Aktivisten der Gruppe Interbrigadas, die seit Jahren Bildungs- und Kulturarbeit in Venezuela leisten und Buttkereit bei seiner Recherche in Venezuela unterstützten, schließt das Buch ab. Interessant ist übrigens die Entstehung der Gruppe, die ein Mitbegründer schildert. Als links anpolitisierte Schüler hätten sie auf einem trotzkistischen Jugendcamp in Frankreich erstmals von dem politischen Prozess in Venezuela erfahren, sich danach gezielt Informationsveranstaltungen zu dem Thema in Berlin rausgesucht und seien dabei auf auch eine von Dario Azzellini besucht, der ihnen weitere Einblicke in die Thematik verschaffte. Womit auch gleich ein Beweis erbracht wird, wie Bücher und Vorträge zur Politisierung beitragen. Das besprochene Buch wird da keine Ausnahme sein. Wer sich einen gut lesbaren Überblick über die linke Basisbewegung in Venezuela verschaffen will, sollte es lesen. Ein Glossar klärt über einige Organisationen im heutigen Venezuela auf, die in dem Buch erwähnt werden. Wer tiefer in die Thematik einsteigen will, findet mit der kommentieren Literaturliste des Autors gute Lesehinweise.
 

Helge Buttkereit
Wir haben keine Angst mehr
Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela


Pahl-Rugenstein-Verlag, 2011
170 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-89144-448-1