Das war die Bewegung
Wer über Aufstieg und Flaute der globalisierungskritischen Bewegung diskutieren will, kann auf ein Filmbuch aus dem Laika-Verlag und ein Buch von Edition Nautilus zurückgreifen
von Peter Nowak01/11
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onlinezeitungWährend die globalisierungskritische Bewegung in der Flaute ist, scheint auf dem Buchmarkt das Interesse an der Zeit zu wachsen, als Gipfeltreffen von Politikern von länderübergreifenden Massenprotesten begleitet waren. Der Laika-Verlag hat in der Reihe „Bibliothek des Widerstands“ zwei Filme veröffentlicht, die in der Hochzeit der Bewegung entstanden ist und zwei Sichtweisen deutlich machen. Während Thomas Leif in dem knapp 40minütigen Streifen „Gipfelstürmer und Straßenkämpfer“ 2003 die damals junge Bewegung in einen langweiligen Beitrag auf ihre Politiktauglichkeit abfragt und die Fallen benennt, in die die Aktivisten stolpern könnten, lieferte Verena Vargas mit ihren 80minütigen Film „evainnaive“ eine Binnensicht. Sie begleitete einen von Attac organisierten Sonderzug, mit dem Globalisierungskritiker aus ganz Deutschland im Juni 2003 zu den Protesten gegen den G8-Gipfel nach Evian fuhren. Dabei zeigt sie auch, wie in zahlreichen Plenas in einem speziellen Waggon die direkte Demokratie auf die Probe gestellt wurde. Der linke Attac-Kritiker Jörg Bergstedt hat in seinen Beitrag seine Thesen formuliert . Dabei hat er auch noch einmal den reaktionären Schwachsinn ausgegraben, den der Jesuit Heiner Geißler bei seinen Eintritt bei Attac von sich gab und der ihm in manchen sich kritisch dünkenden Kreisen noch immer einen Sympathiebonus beschert, dass sie sogar wie die Stuttgarter Kopfbahner, bereit waren, ihn als Vermittler zu akzeptieren. Entweder haben sie sich mit Geißlers Geschwätz nie auseinandergesetzt oder sie sind wie er der Meinung: „Die soziale Marktwirtschaft in Deutschland ist deswegen geglückt, weil es solche Frauen und Männer gab, die von ihrer Idee überzeugt und bereit waren, für ihn zu kämpfen“. Bergstedt hat jedenfalls Recht, wenn er kommentiert: “Wer solche Utopien hat oder verbreitet…. kauert in den Abgründen der Restauration und der Glorifizierung jener Zeiten, die … zum Glück durch die kulturelle Revolte zwanzig Jahre nach Gründung der BRD zumindest teilweise aufgehoben wurde.“
Aus anarchistischer Sicht
Auch der Verlag Edition Nautilus hat im letzten Jahr ein bisher wenig beachtetes Buch über die Binnensicht auf Teile der globalisierungskritischen Bewegung herausgegeben. Der israelische Sozialwissenschaftler und Anarchist Uri Gordon interessiert sich die Versuche von Selbstorganisierung, die er als Beispiele für aktuelle anarchistische Theorie und Praxis sieht, selbst wenn die Akteure sich nicht als Anarchisten verstehen. In Israel war Gordon Aktivist libertärer Zusammenhänge, die sich gegen Krieg und Besatzungen wanden, und aus denen die Anarchists against the Wall hervorgingen. In Europa, wo er 2000 seine Doktorarbeit schreiben wollte, stürzte sich Gordon in zahlreiche globalisierungskritische Aktivitäten auf den ganzen Kontinent. Seine Erfahrungen hat er in dem auf Deutsch im Flugschrift „Hier und Jetzt“ zusammengefasst, die übersetzt von Sophie Deeg, nun auch in Deutschland diskutiert werden könnten. In dem Buch verbindet sich eine sympathisierende Binnensicht auf die libertäre Strömung der Bewegung mit deren wissenschaftlicher Einordnung.
Vom Sturm auf die Gipfelorte zur Blockade
Dabei relativiert Gordon die Bedeutung des Internets für die Bewegung. „Das internetgestützte Networking ist nur der abstrakteste Ausdruck der tatsächlich und mit richtigen Leben erfüllten Prozesse, bei denen Kooperation und gegenseitiges Vertrauen vor Ort aufgebaut wurden“. Die länderübergreifenden libertären Netzwerke, die über mehrere Jahre unter dem Label ‚dissent‘ firmierten, stützten sich meist auf Gruppen, deren Mitglieder oft lange befreundet waren und die in der gemeinsamen Arbeit Erfahrungen gesammelt hatten. Statt an die Regierung zu appellieren, eine bestimmte Politik zu betreiben oder zu unterlassen, propagieren Anarchisten die direkte Aktion, so Gordin. In der ersten Phase der globalisierungskritischen Bewegung wurde der Sturm auf die Gipfelorten propagiert. Nachdem der Versuch, die rote Zone beim G8-Gipfel 2001 in Genua zu erreichen, einen massiven Polizeieinsatz mit einen toten Demonstranten und vielen Schwerverletzten zur Folge hatten, verlegten sich die libertären Zusammenhänge verstärkt auf die Blockaden der Zufahrtswege zu Gipfelorten. Sowohl 2003 in Evian als auch 2005 im schottischen Gleneagles beteiligten sich Zehntausende an dieser Aktionsorientierung.
Lob der Lagerfeuer-Initiative
Auch die Unterkunft der Menschen aus den unterschiedlichen Ländern sollte nach anarchistischen Grundsätzen vonstatten gehen. So wurden innerhalb der Protestcamps libertäre Bereiche aufgebaut, in denen der gemeinsame Aufenthalt als anarchistische Kommune im Kleinformat praktiziert werden sollte. Dass die häufigen Plena auch manche überzeugten Anarchisten vergraulten, wird auch bei Gordon thematisiert. Ausführlich widmet er sich auch den informellen Machtunterschieden in anarchistischen Netzwerken und plädiert für eine Rehabilitierung der „Lagerfeuerinitiativen“. Die Rolle der Kneipengespräche nach vielen Politiktreffen übernimmt im libertären Protestcamp das gemütliche Beisammensein an der Feuertonne. An diesen Orten werden Netzwerke geschmiedet, Aktionsideen konkretisiert. Dort kommen auch manchmal Menschen zu Wort, die sich in Plena nicht durchsetzen können oder wollen. Er wählt als Beispiel eine Frau, die sich auf den Plena nicht traut ihre Ideen vorzuschlagen und die nur über die Lagerfeuerinitiative überhaupt in der Lage ist, ihre Vorstellungen in die Debatte einzubringen. Gordon zeigt mit seinem Buch auch die Grenzen anarchistischer Praxis auf . Denn es ist doch ein Bankrott einer libertären Praxis, wenn nicht versucht wird, die Plena so zu gestalten, dass Menschen, die nicht in der Lage oder willens sind, sich mit Lautstärke bemerkbar zu machen, einzubeziehen. Wenn sie wieder auf die klassischen Nebengespräche verwiesen werden, wohin im Patriarchat Frauen seit jeher abgeschoben wurden, wird ihnen das Recht genommen ist, ihre Ideen der Kritik und Diskussion zustellen, was Gordon nicht einmal erwähnt.
Grenzen der libertären Praxis
Es ist nur eines von vielen Beispielen über die Grenzen libertärer Praxis, die in dem Buch zu finden sind und die es auch für Leser interessant machen, die sich explizit nicht als Anarchisten verstehen und sich mit dem von Gordon propagierten Bioregionalismus ebenso wenig identifizieren können, wie mit seinen gelegentlichen positiven Bezügen auf einen vor allen in den USA propagierten Primitivanarchismus, der die Technik und die Zivilisation zum Feind erklärt. Es ist auch eher erstaunlich, dass Gordon verbal für diese nun wirklich reaktionären Strömung des Anarchismus Partei ergreift. In seinem Text kann man die Bezüge nicht erkennen. Aber auch hier finden sich viele Widersprüche. So ist es durchaus auch anarchistische Praxis, Druck auf Entscheidungen von Staatsapparaten auszuüben und sei es nur, dass die Freilassung eines Gefangenen gefordert wird. An anderer Stelle räumt Gordon sogar ein, dass nicht wenige US-Anarchisten bei der letzten Präsidentenwahl die Position des Wahlboykottes aufgegeben haben, nur um die Bush-Ära abzuwählen. Aber gerade das Stehenlassen dieser Widersprüche macht eine Lektüre des Buches interessant. Dass es bisher kaum diskutiert wird, liegt denn auch weniger an den Schwächen des Buches sondern daran, dass viele Aktivisten, die sich im letzten Jahrzehnt an den globalisierungskritischen Protesten beteiligt haben, wenig Interesse an einer Perspektivdiskussion haben, wie sich auch an den geringen Reaktionen auf Diskussionspapiere der Gruppe Turbulence zeigt.
Wer die Debatte führen will, sollte als einen Baustein dafür auch das Buch von Gordon und das Filmbuch aus dem Laika-Verlag zur Hand nehmen.
Uri Gordon Uri
Hier und Jetzt
Anarchistische Praxis und Theorie
Aus dem Englischen übersetzt von Sophia Deeg, Nautilus Verlag Hamburg 2010
broschur, 256 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-89401-724-8Attac
Gipfelstürmer und Straßenkämpfer
Band 10, 128 Seiten, Bibliothek des Widerstand, Laika VerlagISBN: 978-3-942281-79-9, 24,90 Euro