Aufstand der Armen? Fehlanzeige!

von Anne Seeck

01/11

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Dieser Artikel ist eine Erklärung meiner Kritik, die ich in dem Bericht zum Vernetzungswochenende von Erwerbslosen in Berlin nur angedeutet hatte.

Es gab inzwischen positive, aber auch negative Reaktionen (siehe z.B. den LeserInnenbrief von C. Kratzsch - red. trend) . Als Mitorganisatorin des Wochenendes wollte ich nur einen Bericht über das Wochenendseminar schreiben, konnte mir aber leider Kommentare nicht verkneifen, was ein Fehler war, da ich diese Andeutungen nicht begründet habe, denn es sind politische Differenzen, die ich mit Teilen der Erwerbslosenszene habe. Das Faß zum Überlaufen brachten für mich die Briefe, die das Bündnis Regelsatzerhöhung jetzt! in Berlin an alle Bundestagsabgeordnete schrieb. Auf der Seite des Krachschlagen- Bündnis steht: Siegmar Gabriel hat geantwortet. Toll... 

Für ErwerbslosenaktivistInnen, die mit diesem Text überhaupt nicht einverstanden sind, mag ich wie eine Provokateurin daher kommen. Häufig kommt dann der Vorwurf, ich würde ihre Arbeit nicht anerkennen, darum geht es aber nicht. Ich möchte nur aufrütteln, denn auch ich bin daran interessiert, dass die Sozialproteste weitergehen.  

Wie eine soziale Revolte, ein Aufstand von Arbeitslosen, aussehen kann, erleben wir gerade in Tunesien und Algerien: siehe dazu http://www.labournet.de/internationales/tn/index.html  

In Deutschland befinden wir uns dagegen zur Zeit sozialpolitisch in der Ebbe. Noch 2004 gingen viele tausende Menschen gegen die Hartz IV- Reform auf die Straße. Massenhaft lehnten sich Menschen gegen Hartz IV auf, sie wehrten sich auf der Straße kollektiv. Inzwischen ist die Masse wieder fatalistisch.

Seit 1997 bin ich in der Erwerbslosen“szene“* aktiv, Bewegung mag ich das nicht nennen, und seit langem beschleicht mich ein Unbehagen. Zu groß sind die Enttäuschungen, zu selten gibt es Erfolge. Das führt aber nicht zur Selbstreflexion in der „Szene“. 

* Mit „Erwerbslosenszene“ meine ich die noch organisierten Erwerbslosen, die sich mit dem Thema Hartz IV beschäftigen. Viele Erwerbslose in der Linken haben sich aus der Thematik herausgezogen oder haben sich schon immer mit anderen Themen beschäftigt.  

Meine Erfahrungen in der Erwerbslosenszene   

1997 initiierte ich die Erwerbslosengruppe „Hängematten“ (im Politmagazin Panorama wurden wir als Sozialschmarotzer dargestellt), später war ich in Initiativen im Mehringhof (z.B. Anders arbeiten oder gar nicht) und in der Lunte (Erwerbslosentreff) in Berlin aktiv. Auch bei den Erwerbslosenprotesten 1998 und bei den Hartz IV- Protesten seit 2002 war ich mit dabei. 1997 lernte ich die bundesweite „Bag Shi“ kennen. Dort wurde dermaßen mit Paragraphen um sich geworfen, dass ich bald wieder floh, ich wollte nicht getroffen werden...Die Hartz IV- Proteste setzten in Berlin bereits ein, als die Hartz- Kommission noch tagte. Es begann mit viel Spaß und kreativen Aktionen, z.B. einem Gladiatorenkampf. Dann bildete sich das Anti-Hartz- Bündnis und die Initiative für ein Sozialforum. Aber schließlich kamen die „organizer“, sie zeigten uns, wo es lang ging...Das Sozialforum spaltete sich in die Freunde des „Offenen Raums“, wo viel theoretisch diskutiert wurde, und die „Akteure“. Letztere, die „organizer“ gründeten das Sozialbündnis und es begann die Zeit der Massendemonstrationen und schließlich der Parlamentarisierung. Als Erwerbslose bekam ich schließlich das Gefühl der Instrumentalisierung. Es ging überhaupt nicht wirklich um Hartz IV, es ging um den Aufbau einer Organisation, die Einfluß im Parlament gewinnen wollte. Der Protest wurde von der Straße in geordnete parlamentarische Bahnen gezogen. Zuerst wollten sie den Druck auf der Straße aufbauen, um schließlich in den Parlamenten zu enden. Aus der Wut wurde wieder Ohnmacht. Während die „organizer“ mit ihrer WASG beschäftigt waren, gab es einen Richtungswechsel in den Medien. Jetzt wurde dort der Eindruck vermittelt, als würden die Demos kapitalismuskritischer und radikaler. Es wurde von Rattenfängern gesprochen. Damit wurde erreicht, dass die Normalbürger wegblieben und die „üblichen Verdächtigen“ wieder unter sich waren, die natürlich meistens kapitalismuskritischer sind. Danach kam die Ebbe, obwohl einige kleine Initiativen in Berlin entstanden, wie die Jobcenterversammlung in Neukölln, die Kampagne gegen Zwangsumzüge und Keine/r muss allein zum Amt.

Meines Erachtens geht es erst mal darum, inne zu halten und zu fragen: „Was machen wir hier eigentlich?“ REFLEXION IST NOTWENDIG!

Jene, die permanent Massendemonstrationen organisieren wollen und denen es an Masse fehlt.

Jene, die permanent BündnispartnerInnen in der Mitte suchen wollen und aufgrund der fehlenden Basis nicht ernst genommen werden.

Jene, die permanent vor dem Jobcenter stehen und trotzdem keine TeilnehmerInnen für die Jobcenterversammlungen gewinnen.

Jene, die permanent Hartz IV- BezieherInnen zum Jobcenter begleiten wollen, aber kaum BegleiterInnen haben.

Jene, die permanent kleine Aktionen (wie „Tafel der Habenichtse“) wegen des Medienechos machen, aber den Frust der wenigen TeilnehmerInnen nicht einberechnen.

Jene, die permanent zivilen Ungehorsam oder Aneignungsaktionen fordern, aber kaum jemand mobilisieren.

Jene, die permanent Veranstaltungen organisieren, aber den Weg von der Aufklärung zur Organisierung nicht schaffen.

Jene, die permanent bundesweit Entscheidungen treffen, aber oftmals nicht gewählt und delegiert sind.

Jene, die Erwerbslosenzentren aufbauen wollen, aber denen es ebenfalls an einer Basis fehlt.

 

Statt Selbstreflexion ist eher eine Realitätsverleugnung der „Szene“ wahrzunehmen.

Am 10. Oktober 2010 fand eine bundesweite Erwerbslosendemonstration in Oldenburg statt. Der Veranstalter, das Krach-Schlagen-Bündnis  spricht von einem „vollen Erfolg“.

Wie kommen sie dazu, eine bundesweite Erwerbslosendemo mit 3000 TeilnehmerInnen bei einer Gesamtzahl von bundesweit ca. 6,5 Millionen Hartz IV- BezieherInnen als „vollen Erfolg“ darzustellen. Es fuhr z.B. nur ein Bus aus Berlin, bei 441.000 erwachsenen Hartz IV- BezieherInnen in dieser Stadt. Die Beteiligung war mager, das sollte man nicht leugnen, auch wenn unter dem Motto „Krach schlagen, statt Kohldampf schieben“ eine gute und lautstarke Stimmung herrschte, so dass es nicht nur eine pure Latschdemo war.

Allerdings fehlte wieder mal der Internationalismus. Es wurde nicht vermittelt, dass die Aktionsform „Krachschlagen mit Kochtöpfen“ in Argentinien erfolgreich ausprobiert wurde, und dass die dortigen Erwerbslosen, die piqueteros, radikalere Aktionsformen wie Blockaden und Besetzungen wählten. Man steckte wieder tief im deutschen Hartz IV- Sumpf.

Zudem ist es auch keine Freude, hinter einer 80 Euro- Forderung für Lebensmittel hinterher zu laufen, während man früher „Hartz IV muß weg“ forderte. 

Auch die Krisenproteste waren wenig erfolgreich. Die Bankenblockade in Frankfurt/ Main wurde abgesagt, die Bundestagsbelagerung war eher symbolisch...

Nicht nur die Erwerbslosenszene, die gesamte Linke steckt in der Krise. Der Abbau des Sozialstaates bewirkt eben auch einen zunehmenden Existenzkampf von Linken. Da geht es mittlerweile auch um Pöstchen.

SOLANGE DIE LINKE KEINE ERFOLGE HAT, HAT SIE AUCH KEINE ANZIEHUNGSKRAFT.  

In diesen mageren Zeiten ist ein Blick in die Protestgeschichte unbedingt notwendig. Die Linke scheint geschichtsvergessen zu sein. Wir müssen aber die Erfahrungen der sozialen Bewegungen aufarbeiten, daraus Schlüsse ziehen und z.B. ProtestforscherInnen mit einbeziehen. 

WIR SOLLTEN NICHT IMMER WIEDER UNSERE FEHLER REPRODUZIEREN.  

„Die ‘Neuen Sozialen Bewegungen’ und ihre Theoretiker leiden nicht selten an einem gefährlichen Gedächtnisverlust, der der herrschend erzeugten Gedächtnislosigkeit merkwürdig entspricht. Zugleich sind sie in Gefahr, die gegebenen Herrschaftsverhältnisse, die sie teilweise und unvermeidlich verinnerlicht haben, nur verzerrt wahrnehmen zu können. Sie überziehen sie großleinwandartig oder verniedlichen sie jedenfalls im Hinblick auf die Möglichkeit von Alternativen....Auf der einen Seite meint man, staatliche Gelder ohne Gefahr annehmen oder fordern zu können. Auf der anderen führen die ‘Fundamentalisten’ das Wort, die der Illusion nachjagen, man könne politisch aktiv sein und es gleichzeitig vermeiden, ‘schmutzige Hände’ (Jean-Paul Sartre) zu bekommen. Diese herrschaftskritische Analyse kennzeichnet Mangel an Augenmaß wie an Leidenschaft. Dem entspricht die Lücke einer offenen Erörterung der eigenen Organisationsprobleme. Das gute eigene Emanzipationsgewissen und die gelben Sterne der Alternativen scheinen auszureichen. Als ob in uns und um uns herum nicht jahrhundertelang angelegte Herrschaftsfallen zuhauf stünden...Die Organisationsdebatte muß offener und nüchterner geführt werden. Sie ist sinnvollerweise nur zu führen, wenn man systematisch vergangene Erfahrungen einbezieht, wenn man ‘gelebtes Leben’ nützt, um künftiges Leben besser entwerfen zu können.“ (Piven, Cloward, XXIX) 

Christian Frings kommt der Verdienst zu, das Buch „Aufstand der Armen“ entstaubt zu haben: Geschichte wird gemacht – aber wie? »Aufstand der Armen« – neu gelesen von Christian Frings

Was können wir aus der Geschichte lernen? Und warum wiederholen sich die Fehler immer wieder?  

Piven und Cloward haben die Arbeitslosenbewegung in den USA während der Depression untersucht, erstaunlich wie sich Geschichte wiederholt. Erstaunlich, wie Arme ihre Scham überwinden und sich auflehnen, weil sich ihre ökonomischen Verhältnisse weiter verschlechtern. Erstaunlich vor allem die Rolle der Kader oder ‘organizer’, die sich für die Avantgarde halten, und erstaunlich der immer sich wiederholende Weg in die Parlamente. Piven und Cloward schreiben aber, „daß die Armen erst dann einen gewissen Einfluß gewinnen, wenn sie aus den vorgegebenen Bahnen parlamentarischer Wahlen ausbrechen, denn nur die Instabilität und Politisierung, die sie mit ihren Protestaktionen in den Fabriken und auf den Straßen heraufbeschwören, werden die politischen Führer zu Reaktionen zwingen.“ (Piven, Cloward, S.40)

Die Erfahrungen aus den USA stelle ich an den Schluß des Textes, sie haben mich zu neuen Erkenntnissen gebracht. Ich würde jeder/m sozialpolitisch Bewegten empfehlen, das Buch „Aufstand der Armen“ zu lesen. Wie werden Arme für soziale Kämpfe mobilisiert und welche Fehler machen AktivistInnen?   

Die Erwerbslosenszene ist zur Zeit nicht mobilisierungsfähig. Gründe dafür werden meistens bei den anderen unorganisierten Erwerbslosen gesucht. Sie würden die Schuld bei sich selbst suchen und seien fatalistisch. Das stimmt ja auch, am Anfang des Protestes muß ein kollektives Bewußtsein stehen. 

Das wichtigste für den Protest- ein kollektives Bewußtsein  

So war es bei der Arbeitslosenbewegung in den USA während der Depression, so war es am Anfang der Montagsdemos im Jahre 2004 vor Einführung von Hartz IV. Als die ersten ALG II- Anträge massenhaft verschickt wurden und Hartz IV ein wichtiges mediales Thema war, da strömten die Erwerbslosen, in der Mehrzahl unorganisierte, auf die Straßen. Die Linke plante während dessen wieder mal eine Herbstkampagne (wieviel Heißen Herbst gibt es wohl noch?) und ahnte nicht, was auf sie zu kommen würde. Die Erwerbslosen gaben sich plötzlich nicht mehr individuell die Schuld, sie machten eine kollektive Erfahrung. Aus der individuellen Scham wurde die kollektive Wut.

„Die Entstehung einer Protestbewegung hat sowohl eine Veränderung des Bewußtseins als auch des Verhaltens zur Folge....Erstens verliert ‘das System’- oder zumindestens diejenigen Bestandteile des Systems, die direkt erfahrbar und wahrnehmbar sind- an Legitimation...Zweitens beginnen Menschen, die sich normalerweise fatalistisch in ihr Schicksal ergeben und die bestehenden Verhältnisse für unabänderlich halten, ‘Rechte’ geltend zu machen, die die Forderung nach Veränderung implizieren. Drittens entsteht ein neues Gefühl der eigenen Stärke; Menschen, die sich immer für machtlos gehalten haben, entwickeln allmählich die Überzeugung, daß sie ihr Schicksal auch in die eigenen Hände nehmen können.“ (Piven, Cloward, S. 28)  

Aber- wir wollten die Schuld nicht immer bei den anderen suchen. Der Grund für unser derzeitiges Gefühl der Schwäche ist auch in der Erwerbslosenszene selbst zu suchen. Wir leiden unter einer personellen Schwäche und einem Ressourcendefizit, d.h. zum Beispiel einem Mangel an einflußreichen Positionen, an Geld, Infrastruktur, Medieneinfluß etc. 

Aber blicken wir auf den Beginn der bundesweiten Erwerbslosenbewegung Anfang der 1980er Jahre. Das waren Jahre des Aufbruchs. 

Es begann radikaler: Schwarze Katze

Zu Beginn der 80er Jahre entstanden als Reaktion auf die auch auf Szenestrukturen durchschlagende ökonomische Krise Erwerbslosen- und Jobbergruppen, die sich auf die Frage der eigenen sozialen Existenz auf dem Arbeitsmarkt konzentrierten. Durch die „Ölpreiskrise“ 1979/80 war die Arbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen. Während in den 70er Jahren noch eine relative Freiheit der flexiblen Jobauswahl bestand, wurde es jetzt immer notwendiger, Jobs zu schlechteren Bedingungen anzunehmen. Die Gruppen griffen auf den „operaistischen“ Ansatz aus Italien zurück. Damals wurden auch Aneignungsaktionen durchgeführt. Dirk Hauer schreibt, dass das „eine linke Alltagspräsenz und linkes Alltagsverhalten voraussetzt, das heute praktisch völlig verschwunden ist: in den Betrieben und Büros, in den Stadtteilen, in den Mietshäusern, den Kindergärten, den Sozial- und Arbeitsämtern etc. etc.“  

Wir wollen Alles – Supermärkte und Bäckereien, Einige Anmerkungen zum Thema „Aneignung“  siehe dazu: http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/aneignung1.html  

Schwarze Katzen in der Hängematte: http://www.linksnet.de/de/artikel/18846  

Dirk Hauer meint, mit dem Verschwinden der Erwerbslosenbewegung, hätten sich Anfang der 1990er Jahre auch die Schwarze- Katze- Gruppen aufgelöst. 

Dass die Erwerbslosenbewegung verschwunden sei, werden viele ErwerbslosenaktivistInnen bestreiten. Als ich 1997 die bundesweite Erwerbslosenorganisation „Bag Shi“ kennenlernte, löste das mit der Zeit Befremden aus, was ich aber nicht in Worte ausdrücken konnte. Das Buch „Aufstand der Armen“ und ein Vortrag von Christian Frings haben mich zu weiteren Erkenntnissen gebracht.  

Am 22.11.2010 fand in Berlin eine bemerkenswerte Veranstaltung statt- „Sozialstaat schottern“. Christian Frings referierte zur Geschichte und Kritik des Sozialstaats: 

„Der Sozialstaat ist keine Errungenschaft, er wurde nicht von der Arbeiterbewegung erkämpft. Der Sozialstaat ist Produkt der Spaltung und der Befriedung des Klassenkampfes. Der Sozialstaat behindert Kämpfe. Der Sozialstaat führt zur

  • Verrechtlichung

  • Individualisierung

  • Spaltung in „hart arbeitende“ Menschen und faule Sozialschmarotzer

  •  Hinwendung zum (National-)Staat“

Die bundesweite Erwerbslosenbewegung

Verrechtlichung

Nach der radikalen Anfangszeit haben sich Erwerbslosengruppen vor allem auf die Beratung spezialisiert. Der Protest wurde buchstäblich in Gesetzesform gegossen. In der Erwerbslosenszene gibt es mittlerweile eine Reihe RechtsexpertInnen. Wer Flugblätter oder die Arbeitslosenzeitung quer liest, wird das unschwer an der Sprache bemerken. Natürlich ist Beratung wichtig, und natürlich machen die ALSO und Tacheles eine gute Beratungsarbeit. In Berlin mangelt es wiederum an guter unabhängiger Beratung. Aber die bundesweite Erwerbslosenszene ist zu beratungslastig und begibt sich in den Gesetzesdschungel der Herrschenden. Wer sich auf den Gesetzesdschungel erstmal einläßt, hechelt ständig hinterher und hat keine Zeit mehr, Unruhe zu stiften. Man ist im System gefangen und freut sich über jede interne Anweisung und Durchführungsbestimmung, die einem zugespielt wird. Die auf dem Gesetzestrip befindliche Erwerbslosenszene hat sich mit ihrer Juristerei von der Sozialtechnologie der Herrschenden einspannen lassen. Mit der Bürokratisierung ist eine Befriedung gelungen. Das hat natürlich auch finanzielle Gründe, so haben Beratungsstellen öffentliche Förderung bekommen oder Erwerbslose haben ihre Kompetenzen durch Rechtsexpertentum erweitert und damit auch die eigene Existenzsicherung vorangebracht. Die juristischen Autodidakten werden allerdings nicht so gut bezahlt, wie angesehene studierte Juristen, oder eben gar nicht. Das staatlich- bürokratische Instrument, also die Form, legt auch die jeweiligen Inhalte fest. Die Erwerbslosenbewegung beschäftigt sich ausgiebig mit der Hartz IV- Gesetzgebung und ist damit schon in der herrschenden Logik  gefangen. Die Rechtsexperten in der „Szene“ eignen sich zwar Herrschaftswissen an, um es gegen die Herrschenden anzuwenden, sie spielen damit aber in der gleichen Logik, und lange nicht in der gleichen Liga. Sie werden regelrecht von den Paragraphen „aufgefressen“. Wofür der Staatsapparat Massen von Menschen beschäftigt, wird in der „Szene“ schlecht oder nicht bezahlt von wenigen erledigt. Es mag die Anerkennung sein, die Menschen dazu treibt, das zu tun. Es mag der Idealismus sein, weil Hartz IV ein Knackpunkt im System ist. Es mag die eigene Betroffenheit sein. Aber dieser ungleiche Kampf kann nicht gewonnen werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Regelsatz und die politische Konsequenz der Erhöhung von 5 Euro sind dafür das beste Beispiel.

Individualisierung

Den Herrschenden geht es um die Vereinzelung der Menschen, die sich in Konkurrenz gegenüberstehen. Auch die Erwerbslosenbewegung hat unbeabsichtigt zur Vereinzelung beigetragen, sie hat den individuellen Protest z.B. durch Widersprüche und Klagen forciert, ohne eine kollektive Organisierung zu erreichen.

Mit ihrer Beratungstätigkeit hat die Erwerbslosenszene nämlich auch Erfolg, was den individuellen Widerstand betrifft. Beim Sozialgericht in Berlin gingen 2010 fast 32.000 neue Klagen im Zusammenhang mit dem Arbeitslosengeld II ein. Die Klagen bei den Sozialgerichten sind sprunghaft angestiegen, das haben auch die Herrschenden zur Kenntnis genommen. Im Clement- Bericht „Vorrang für die Anständigen“ wird gegen die parteiliche Beratung gewettert, die Berater samt Ratgeber seien „Anstifter zum Sozialmissbrauch“.

Die Beratung hat allerdings zur weiteren Individualisierung beigetragen. Die Erwerbslosen lassen sich beraten und sind wieder verschwunden, eine kollektive Organisierung ist so kaum möglich. Das größte Problem der Erwerbslosen in Deutschland, die Vereinzelung, wird nicht aufgebrochen. Es entsteht kein kollektiver Widerstand. Die Beratung wird als Dienstleistung angesehen. Was bedeutet das für die Gruppen? Die Gruppen sind aufgrund ihrer personellen Schwäche daran interessierte, neue Mitglieder zu gewinnen, die kontinuierlich mitarbeiten. In der Realität sieht es aber anders aus. Hartz IV- Bezieher kommen in die Gruppen, wenn sie Probleme haben. Wenn ihnen geholfen wird und das Problem gelöst wird, sind sie meistens wieder verschwunden. Wenn sie mit ihren Problemen in Gruppen kommen und merken, dass nur theoretisch diskutiert wird, sind sie meistens auch wieder verschwunden, weil ihnen nicht geholfen wird. Entweder fühlen die Gruppen sich als Dienstleister mißbraucht oder sie sind nicht in der Lage bzw. lehnen es ab, Dienstleister zu sein. Kontinuierlich Dienstleister zu sein, kostet ungeheuren Aufwand an Zeit und Energie, zumal wenn es ehrenamtlich ist und sich die personelle Decke der Gruppe nicht erweitert. Wenige sind vollkommen überlastet.

Die Hartz IV- Bewegung

Der Skandal- Aufhebung der Spaltung

Bereits die Sozialdemokratie Ende des 19.Jh. grenzte sich vom Lumpenproletariat ab. Der Sozialstaat beförderte die Spaltung zwischen „anständigen fleißigen“ Arbeitern und „faulen“ Sozialschmarotzern. Der Skandal der Hartz IV- Reform war doch, dass „fleißige, lange hart arbeitende Menschen“, die im Alter arbeitslos wurden und Arbeitslosenhilfe bekamen, mit den „faulen“ SozialhilfebezieherInnen in ein System kommen sollten. Das war ein Bruch mit der Tradition des Sozialstaates. Das war eine „Schmach“ für die ArbeitslosenhilfebezieherInnen, die lange eingezahlt hatten und nun sich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlten. Die Hartz IV- Proteste waren systemimmanent. Die Linke freute sich über die Massen, warum diese auf die Straße eilten, wurde kaum thematisiert.

Mag Wompel schreibt:

„Denn die bei vielen der Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. Anstatt diesen Versicherungsbetrug als solchen anzuprangern – wie auch die Tatsache, dass Sozialversicherungen allgemein durch die zunehmende Privatisierung der Lebensrisiken zu verdeckten Steuern verkommen – grenzt man sich vielmehr von als »Schmarotzern« empfundenen Sozialhilfeempfängern ab, während es (im Gegensatz zu den Angriffen auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) jahrzehntelang nicht kümmerte, dass sie längst unter der Hartz‘schen Verfolgungsbetreuung litten und ihre Grundsicherung kontinuierlich gekürzt wurde. Diese an den Sozialhilfeempfängern erprobten Maßnahmen wurden erst als menschenunwürdig erkannt, als es auch die Menschen betraf, die sich bislang fernab und als »bessere Gesellschaftsmitglieder« wähnten . »Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft – ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört.«"

Die Rolle der „organizer“: Machtkampf zwischen den Organisationen

Obwohl die Organisationen nichts zum Aufkommen der Hartz IV- Proteste getan hatten, fochten sie jetzt vor den Augen der unorganisierten Erwerbslosen (dem Fußvolk?) Hahnenkämpfe aus. Der Höhepunkt in Berlin war eine Demo vor dem „Haus der Wirtschaft“ mit Arbeitgeberverbänden (!), als sich die gegnerischen Seiten jeweils von ihrem Lautsprecherwagen beschimpften. Auf der einen Seite stand in Berlin die MLPD, die die Montagsdemos für ihre Parteiinteressen und zwecks Erweiterung ihres Parteivolkes vereinnahmen wollte, auf der anderen Seite standen die Gewerkschaften, die Linkspartei, Erwerbsloseninitiativen, attac etc., also das Bündnis, das meinte, wahrer Vertreter der Erwerbslosen zu sein. Große Teile der radikalen Linken hielten sich sowieso von den Montagsdemos fern, weil sie an dem Spruch „Wir sind das Volk“ nationalistische Töne erkannten. Sie wollten mit „politisch unkorrekten“ Erwerbslosen keine gemeinsame Politik machen. Rechtspopulisten hätten in diesen Massen wahrscheinlich ihre wahre Freude gehabt. Die Arbeitslosenhilfebezieher grenzen sich von den Sozialhilfebeziehern ab, die Sozialhilfebezieher von den „Ausländern“, die Niedriglöhner von den Faulenzern etc. Die Mobilisierung der Massen hätte auch eine Politisierung der Massen zur Folge haben müssen. Aber es macht oft keinen Spaß, zu politischen Veranstaltungen zu den Themen Armut und Hartz IV zu gehen. So wurde eine Veranstaltung zu Hartz IV im Audimax der HU mit 500 Besuchern von sage und schreibe hauptsächlich einer Person gestört.

Elend ist eben nicht so formbar und zu disziplinieren, wie sich das so manche linke Kader vorstellen. Elend stört. Elend ist chaotisch, das macht es für manch nette Menschen schwer aushaltbar. Elend stört auch die Linke, in der man funktionieren muß, will man anerkannt werden. Und die „organizer“ funktionieren.

In der Geschichte spielten „organizer“ eine zwiespältige Rolle, wie Piven und Cloward schreiben. Sie waren dabei ihre Organisationen aufzubauen und machten aus Straßendemonstranten Sitzungsteilnehmer, so wie die WASG während der Hartz IV- Proteste. Sie beschäftigten sich übermäßig mit Führungsproblemen, auch dadurch wurden Hartz IV- Demonstranten von der WASG aufgesogen. Organizer werden zu Eliten getrieben, um sich deren Unterstützung zu versichern. Lafontaine und Gysi, die wahrlich keine Hartz IV- Bezieher sind, bestimmten den Weg der Proteste ins Parlament. Viele „organizer“ ersuchten nach deren Unterstützung, so autoritätsfixiert wie sie waren. Die „organizer“ versäumen nicht nur die Möglichkeiten, die Unruhen bieten, sie brechen der Sprengkraft der Unterprivilegierten auch die Spitze ab und neutralisieren diese. Die „organizer“ wollen Organisationen aufbauen und erschüttern damit nicht das System. Die aufständischen Massen werden in die Bahnen normaler Politik gelenkt, in dem Glauben- man befinde sich auf dem Weg zur Macht.

Man fragt sich, ob die Linke niemals etwas aus ihrer Geschichte lernt?

„’Organizer’ und Anführer sind zum Scheitern verdammt, wenn sie bei der Entwicklung von Strategien die soziale Position der Menschen, die sie mobilisieren wollen, nicht beachten....Protest ist das Resultat folgenschwerer Veränderungen der institutionellen Ordnung. Er läßt sich nicht durch ‘organizers’ und Anführer ins Leben rufen.“ (Piven, Cloward, S.61)

Die Rolle der „organizer“: Der Weg der Parlamentarisierung

Viele ‘organizer’ wollten auch bei den Hartz IV- Protesten in das Parlament, wo man sich natürlich in anderen Kreisen bewegt. Sie wollten gefragt werden, mitentscheiden, sich beteiligen. Sie wollten Einfluß. Sie wollten das Sprachrohr sein, sie wollten die Interessen der Erwerbslosen vertreten, dabei verkörperten sie meistens als arbeitslose AkademikerInnen nur wenig die Unterschicht. „Organizing“ ist für Einzelne ein Sprungbrett, um einen Job zu bekommen. „Organizing“ ist eine Sozial- und Managementtechnik. Der Masse der Hartz IV- BezieherInnen (oder normalen Gewerkschaftsmitgliedern) hilft „organizing“ kein Stück weiter. Die Masse geht auf die Straße, damit Einzelne einen Job bekommen?

Wie wurde nun die Partei gegründet?. Zunächst wurde am 3. Juli 2004 der Verein „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit e.V.“ gegründet, der sich aus den zwei Gruppen „Wahlalternative 2006“ und „Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ konstitutierte. Die Entstehung der WASG fiel mit der Hochphase der Montagsdemonstrationen zusammen. Bei mir entstand damals der Verdacht, dass die Massenproteste der Erwerbslosen instrumentalisiert und in befriedete parlamentarische Wege gelenkt werden sollten. Die Vereins- bzw. Parteiarbeit sog viele ErwerbslosenaktivistInnen auf, die Proteste flauten ab. Nach Einführung von Hartz IV und dem Agenturschluß wurde am 22. Januar 2005 die Partei „Arbeit und soziale Gerechtigkeit- Die Wahlalternative“ gegründet. Nach der NRW- Wahl wurden die Neuwahlen für die Bundesregierung vorgezogen, die WASG wäre chancenlos gewesen. In dieser Situation einigten sich dann großzügig Lafontaine und Gysi. Paradoxerweise war die WASG in Berlin gerade gegen den rosa-roten Senat angetreten, die Linkspartei setzte in Berlin auch prima Hartz IV um. Wie schrieben Piwen und Cloward, wenn die Massen von den Straßen verschwinden, bleiben jene Organisationen übrig, die ihre oppositionelle Politik aufgeben. Die Linkspartei erhielt bei der Bundestagswahl 2005 8,7 % der Wählerstimmen und zog mit 54 Abgeordneten in den 16. Deutschen Bundestag ein, 2002 hatten sie noch 4%, mit zwei Direktkandidatinnen im Bundestag. Die Linkspartei hatte also eindeutig von den Hartz IV- Protesten und dem Zusammenschluß mit der WASG profitiert. 2009 wurde sie dann nochmals gestärkt, mittlerweile ist sie in 13 Landtagen vertreten. Dass sich dadurch irgendwie die Situation der Hartz IV- BezieherInnen verbessert hat, ist mir nicht bekannt. Aber immerhin wurden eine Menge Arbeitsplätze für linke Kader in und um die Partei geschaffen.

Nochmal Piwen und Cloward: „Während der kurzen Perioden, in denen sich Menschen erheben und ihrer Empörung ‘Luft machen’, die Autoritäten, denen sie sich normalerweise unterwerfen, herausfordern- in diesen kurzen Momenten, in denen Unterschichtsgruppen den Staat unter Druck setzen, versagen in der Regel die selbsternannten Anführer, scheitern sie an der Aufgabe, den Massenprotest voranzutreiben. Denn sie sind emsig damit beschäftigt, embryonale Organisationen zu schaffen und lebendig zu erhalten- in der festen Überzeugung, daß diese Organisationen wachsen und zu machtvollen Instrumenten heranreifen werden.“ (Piven, Cloward, S.21)

Die Rolle der Theoretiker- Netzwerk Grundeinkommen

Auch die Entstehung des Netzwerk Grundeinkommens fiel mit dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen zusammen. Neben den PragmatikerInnen, die ins Parlament wollten, gab es noch eine andere Gruppe, die eine Organisation aufbaute und ihre Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen an den Staat richtete. Das Netzwerk Grundeinkommen wurde am 9.7.2004 gegründet, auch als Folge der Sozialproteste. Inzwischen hat die Idee des Grundeinkommens auch Verbündete auf der Kapitalseite, wie Milliardär und dm-Chef Götz Werner, Althaus (CDU) und Thomas Straubhaus (Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.) Wolfgang Ratzel schreibt dazu: „Der Geist, der die Modelle durchweht, überschreitet das, was als „neoliberal” gilt. Man glaubt an die Heilungskräfte des Marktes; man verspricht gewaltige Eruptionen von Produktivkraft, sofern sich die Marktkräfte ungehemmt entfalten können; man verurteilt die Bürger zur Eigenverantwortung für ihre Lebensrisiken; der Staat soll die Marktbeziehungen schützen und Sicherheit garantieren. Aber von sozialem Ausgleich ist nicht mehr die Rede. Man hasst jeden Sozialstaat — auch den neoliberalen. Weg damit! Für die Auszahlung des bGE reicht das Finanzamt plus ein Torso von Krankenversicherung.... Merke: Wer lohnarbeitslos ist, muss vom bGE alles bezahlen: die hoch besteuerten Lebensmittel, marktregulierte Mieten, alle Krankheitskosten jenseits der Grundversorgung und vor allem die Kosten des Alterns. Jede Dienstleistung wird kosten, denn es wird keine kostenlosen oder subventionierten Kultur-, Sozial-, Gesundheitseinrichtungen, Altersheime, Verkehrsbetriebe mehr geben. Alles, selbst die Armenfürsorge, wird privatisiert sein.... Die großen Verlierer sind alle, die krank, „behindert”, pflegebedürftig, erwerbsunfähig, süchtig, verschuldet, arbeitsunwillig und „lebensuntüchtig” sind — kurz: der sog. unproduktive Teil der Bevölkerung — und alle, die es irgendwann werden.... Insofern repräsentieren die bGE-Modelle den Übergang vom rheinisch-paternalistischen zum reinen Kapitalismus. Ersterer bedient neben der Kapitalakkumulation auch andere, konkurrierende soziale Zwecke; letzterer verfolgt nur Ziele, die seinem Wesen, der Kapitalakkumulation, unmittelbar dienen. Unser bundesdeutscher Kapitalismus würde das, was er global-normal immer schon war: ein asozialer Kapitalismus ohne Sozialstaat. Deshalb sind die bGE-Modelle nicht Ausdruck neoliberalen, sondern asozialen Denkens.“ ( http://www.vsp-vernetzt.de/soz-0806/080620.php
Die GrundeinkommensbefürworterInnen organisieren viele Veranstaltungen und Konferenzen, zudem schreiben sie. Mittlerweile gibt es eine lange Liste an Literatur über das Grundeinkommen: http://www.grundeinkommen.de/die-idee/literatur

Die Rolle der „organizer“: Die neue Führungsschicht der Erwerbslosenaktivisten 

Die bundesweite Erwerbslosenszene aber auch Sozial- und Krisenprotestszene wird von Führungskadern bestimmt, die Entscheidungen treffen, was für Aktivitäten an der Basis zu laufen haben. Oft sind sie auch die immer gleichen Reisekader, die überall in die Bundesrepublik reisen, um dort ihre wichtigen Besprechungen abzuhalten. Solch ein Reisekader war Erika Biehn von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG Shi), die als Erwerbslosenvertreterin ständig zur Nationalen Armutskonferenz, aber auch ins Ausland reiste. Für ihre Aktivitäten bekam sie das Bundesverdienstkeuz, das sie auch annahm. Mittlerweile gibt es die BAG- Shi aufgrund einer finanziellen desolaten Lage nicht mehr. Nachfolger ist die BAG- Plesa. Auch in den einzelnen Erwerbslosengruppen gibt es Hierarchien, die natürlich entstehen, weil einige mehr und andere weniger machen und weil es unterschiedliche Kompetenzen gibt. Es sind also bundesweit einige Leute, die das Sagen haben, was gemacht wird. Einige haben durch Expertentum diese Positionen errungen. Von Basisdemokratie in der Erwerbslosenszene kann so nicht gesprochen werden.

Nach Einführung von Hartz IV

Die Medienhetze

Sie führt dazu, dass Arme die Schuld bei sich selbst suchen und sich schämen. Die Medienhetze bewirkt, dass Menschen eben nicht die Systemfrage stellen und fatalistisch sind. So wurde am 12.10.2000 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall und weiteren Wirtschaftsverbänden gegründet, um Einfluß auf Politik und Medien zu nehmen. Der Medienwissenschaftler Siegfried Weischenberg  sagte in einer Monitor- Sendung: „Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist höchst erfolgreich, weil es ihr gelungen ist, so einen neoliberalen Mainstream in den Medien durchzusetzen. Und das konnte auch leicht gelingen, weil die Medien kostengünstig produzieren müssen. Sie sind sehr darauf angewiesen, dass ihnen zugeliefert wird, hier gibt’s eine Lobby, die sehr wohlhabend ist. Das ist natürlich eine sehr, sehr problematische Geschichte, weil die Medien nicht das tun, was sie tun sollen. Die Journalistinnen und Journalisten fallen sozusagen aus der Rolle, weil sie nicht kritisch kontrollieren, weil sie die Interessen nicht transparent machen.“ Die Grenzen zwischen Journalismus und PR verschwimmen. Zudem sind ISNM-Botschafter Dauergäste in Talkshows, um ihren neoliberalen Schwachsinn zu verbreiten. Auch der Verlags- und Medienkonzern Bertelsmann ist emsig dabei, die neoliberale Soße zu verbreiten, so durch RTL und Gruner+Jahr. Die Bertelsmann- Stiftung wurde bereits 1977 gegründet, sie ist ein Think Tank, der neoliberale Reformen wie die Einführung von Studiengebühren und Hartz IV unterstützt. Egal wer regiert, Bertelsmann regiert mit. Es ließen sich natürlich auch andere Konzerne wie Springer nennen. Springer agiert bereits seit 1946. Seine Hetze in der Bild- Zeitung führte zum Attentat auf Rudi Dutschke. Und immer noch hetzt die „BILD“, beliebter Gegenstand sind „Sozialschmarotzer“. Titel lauten dann z.B.„Wer arbeitet ist der Dumme“ oder „Deutschlands frechster Arbeitsloser“. Die Eliten haben die Deutungsmacht und wiederholen ständig ihre Argumente, um ihren Neoliberalismus zu legitimieren.

Forderungen an den Staat

Die Erwerbslosenbewegung in Deutschland fordert seit Anfang der 1980er Jahre ein Existenzgeld, heute ist es ein bedingungsloses Grundeinkommen. In dreißig Jahren wurde damit keine Mobilisierung erreicht. Natürlich ist eine inhaltliche Diskussion über die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen wichtig, insbesondere die Diskussion über die Abschaffung des Arbeitszwanges. Aber der Kapitalismus beruht auf Arbeitszwang und Lohnarbeit. Es ist naiv, zu glauben, im Kapitalismus könne man den Verwertungszwang überwinden. In Zeiten, da die Herrschenden einen Klassenkampf von oben führen und die Erwerbslosenbewegung kraftlos ist, ist diese Forderung an den Staat sinnlos. In Zeiten, da auch die Masse der Erwerbslosen nach Lohnarbeit krächzt und da die Arbeitenden Angst vor dem sozialen Abstieg haben, bleibt diese Forderung weniger AktivistInnen ungehört. Und solange die GrundeinkommensbefürworterInnen nur Geld vom Staat und nicht grundsätzlich am Kapitalismus rütteln wollen, solange das Grundeinkommen das Fortbestehen des kapitalistischen Produktionsprozeßes gar verlangt, ist diese Forderung ökologisch verheerend. Und erst recht, wenn diese Forderung nur für den Nationalstaat aufgestellt wird. Ein gutes Leben auf Kosten des Klimas und der Peripherie?

Forderungen an den Staat, die im Kapitalismus nie eingelöst werden, wenn dort nicht eine starke Gegenbewegung dahinter steht. Diese starke Bewegung gibt es nicht. Die Erwerbslosenbewegung will den „Betroffenen“ Alternativen vorweisen, aber sind das Alternativen? Solange es keine starke Erwerbslosenbewegung und keinen Druck von unten gibt, verhallen alle Forderungen ungehört.

Politik der kleinen Schritte:

Die Erwerbslosen“bewegung“ vertritt eine „Politik der kleinen Schritte“*.

(*Bekannt wurde diese Politik durch Bismarck, der von einer Politik der Geduld, der kleinen Schritte und des Abwartens sprach. Im Kalten Krieg setzten Willy Brandt und Egon Bahr mit ihrer Ostpolitik auf die kleinen Schritte. Auch Angela Merkel verwendete bei Beginn ihrer Amtszeit 2005 diese Parole.)

In der Erwerbslosenbewegung kamen einige AktivistInnen im Juni 2006 auf die Triade, von der die wenigsten der Millionen Erwerbslosen wissen. So forderten sie 500 Euro Regelsatz für Hartz IV- BezieherInnen, die 30-Stunden-Woche und 10 Euro Mindestlohn. Diese Triade sei eben plakativ. Das Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ fordert inzwischen 80 Euro für Lebensmittel. Da kein Druck von unten da ist, werden die Forderungen von den Herrschenden nicht ernstgenommen. Da kann man noch so viele Forderungen aufstellen.

Ich möchte nur die Forderung der 500 Euro Regelsatz herausnehmen. Der Regelsatz im Jahre 2010 betrug 359 Euro. Sollen 141 Euro mehr ein schönes Leben bedeuten? Was soll diese Selbstbeschränkung? Soll sie gesellschaftlich akzeptabler und mehrheitsfähiger sein? Reicht die Entwürdigung auf dem Amt nicht? Wählen wir auch noch freiwillig die Armut? Müssen wir uns an den Vorgaben der Herrschenden orientieren? Dagegen wäre zu fragen, was die Bedürfnisse der Betroffenen sind. Aber kann man Bedürfnisse überhaupt planen, daran ist schon die zentralistische Planwirtschaft gescheitert. Die Linke fordert 500 Euro und die Grünen 420 Euro Regelsatz, ob wohl Gregor Gysi und Renate Künast das zum Leben reichen würde? Ich würde als Erwerbslose gegen meine eigenen Interessen verstoßen, denn ich weiß, dass mir 500 Euro zu einem menschenwürdigen Leben nicht reichen. Weshalb sollte ich dann mit dieser Forderung den Staat anflehen. Das wäre absurd. Die Trippelschritte der Erwerbslosenszene sind absurd. Sie zeigen nur die Schwäche. Die Forderungen an den Staat bringen nichts, solange nicht gleichzeitig Druck von unten aufgebaut wird. Wenn keine Unruhe herrscht, werden die Forderungen von den Herrschenden genüßlich belächelt, falls sie überhaupt nach oben vordringen. Durch Geldforderungen wird weder die Systemfrage gestellt, noch jemals das System gestürzt.

Die Fixierung auf den Nationalstaat

Statt den globalen Kapitalismus zu kritisieren, wird in der „Szene“ meistens nur Detailkritik an Hartz IV in Deutschland geübt. Es wird nicht über den Tellerrand geschaut, man orientiert sich auch mit seinen Forderungen am deutschen Nationalstaat. Dabei haben Arme in Deutschland, global gesehen, Luxusprobleme. So gibt es z.B. in Berlin ein flächendeckendes Netz für Bedürftige. Wenn man auf die globale Armut zu sprechen kommt, wird das abgewehrt, man könne das nicht vergleichen. In der Peripherie werden die Armen zur Arbeit getrieben, um nicht verhungern zu müssen. Auch Arme in Deutschland leben auf Kosten der Armen in der Peripherie, aufgrund ihres Billigkonsums. (Ein-Euro-Läden etc.) Sie können es sich nicht leisten, ökologisch und ethisch zu konsumieren und werden damit auch noch moralisch deklassiert.

Unser Seminar zur globalen Armut: http://www.trend.infopartisan.net/trd0510/t270510.html

Politische Arbeit von Akademikerlinken statt Unruhe der Armen

Statt Chaos der Unterschicht zu stiften, lautet das Motto in Berlin, BündnispartnerInnen in der Mitte zu finden:

Man schreibt Bleiwüstenflugblätter mit vielen Paragraphen. Das klingt dann so:

„Arbeitsgelegenheiten

Nach § 2 Abs. 1 und § 16 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) und d) SGB II bin ich verpflichtet, eine Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, auszuführen und fortzuführen, bei der ich keinen Anspruch
auf Arbeitsbedingungen habe, die arbeitsrechtlichen, betriebsverfassungsrechtlichen oder tarifrechtlichen Standards genügen, und für die ich keine angemessene Entlohnung erhalte. Dieses ist ein nicht hinzunehmender Zwang in eine Arbeit, der mit internationalen und in Deutschland ratifizierten Rechten und auch mit Art. 12 Abs. 2 und 3 GG unvereinbar ist.

Nach Art. 2 des ILO-Übereinkommens über Zwangs- und Pflichtarbeiten, ist “jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat” verboten. Die nach dem SGB II erzwungene Aufnahme einer Arbeitsgelegenheit (durch Androhung der Kürzung bzw. Wegfall der Geldleistung zur Sicherung der Existenz und damit der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens) verstößt gegen Art. 8 Abs. 3 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (in Deutschland in Kraft seit dem 23.3.1976) sowie gegen das ILO-Übereinkommen Nummer 29 und Nummer 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 5.6.1957.“

Man schreibt Konzepte für eine nicht vorhandene Basis und tingelt damit durch die Republik zu EntscheidungsträgerInnen der Wohlfahrtsverbände. Und wird nicht ernst genommen.

Ein-Euro-Jobs ersetzen!   ( http://www.hartzkampagne.de/  )

Man sucht BündnispartnerInnen in der Mitte und geht Kompromisse ein. Statt der Abschaffung der Sanktionen wird ein Sanktionsmoratorium gefordert:

Bündnis für ein Sanktionsmoratorium: ( http://www.sanktionsmoratorium.de/ )

Man forscht: Wer nicht spurt, kriegt kein Geld. Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende - Erfahrungen, Analysen, Schlußfolgerungen

Man schreibt Briefe an Politiker:

Berliner Bündnis Regelsatzerhöhung jetzt! ( http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org /)

Der Protest soll dort ein Ohr finden, wo entschieden wird, deshalb schreiben sie an PolitikerInnen. Es fehlt aber der Druck von unten, so dass sie überhaupt nicht ernst genommen werden. Es mag ja sein, dass die Politiker damit bloßgestellt werden. Aber weiß man das nicht schon vorher. PolitikerInnen haben genug Orte und Medien, wo ihre Meinung gefragt ist. Sie sind nicht sprachlos, wie die meisten Hartz IV- BezieherInnen. Jene haben keine Stimme.

Man tut viel, das schafft Anerkennung für einige Wenige, verändern tut es nichts!

Wer diesen Politikstil, Einfluß auf EntscheidungsträgerInnen zu gewinnen, ohne Druck von unten aufzubauen, kritisiert, hört den Vorwurf, man würde die Arbeit nicht anerkennen. Darum geht es aber nicht, es sind politische Differenzen.

Die Unruhe der Armen  kann allerdings auch für die Linke gefährlich werden - Das Problem des Rechtspopulismus

Unberechenbar könnte es allerdings auch für die Linke werden, sollten die Armen wirklich den Aufstand erproben. Der erstarkende Rechtspopulismus könnte von solch einem Aufstand profitieren.

Ich werde ein Bild nie vergessen. Ich sollte auf der ersten großen Montagsdemo in Berlin reden. Die Organisatoren hatten allerdings keinen Lautsprecherwagen, die MLPD weigerte sich, mich reden zu lassen und unterbrach Käthe Reichel in unverschämter Weise. Schließlich sollte ich auf dem attac-Wagen sprechen. Ich wollte gerade ansetzen, in dem Moment stürmte die Masse zum SPD-Haus. Nach einer kurzen Weile kamen sie wieder zurück. Ich hatte in die Gesichter gesehen, und war erschrocken. Denn mir war bewußt, dass diese Masse nicht das Gleiche wollte wie ich Außenseiterin. Viele hatten lange gearbeitet, waren schließlich im Alter arbeitslos geworden. Sie hatten geschuftet und wollten nicht mit uns faulen SozialhilfebezieherInnen in einen Topf geworfen werden. Sie wollten an diesem System teilhaben, es nicht grundsätzlich verändern. Sie waren das Volk, ich nur die Außenseiterin.

Im Gefolge der ostdeutschen Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV zog die NPD am 19. September 2004 mit 9,2 Prozent Stimmen des „Volkes“ in den sächsischen Landtag. Der Verlust von sozialer Sicherheit ist auch ein Nährboden für Rechtsextremismus und -populismus. Die „einfachen Leute aus dem Volk“ werden angesprochen. Die Rechtspopulisten schauen angeblich „dem Volk auf`s Maul“, sie wettern gegen Sozialschmarotzer, gegen „kulturelle Überfremdung“ und „die da oben“. Die Lösung ist immer „law and order“. Mittels Sozialdarwinismus und Standortnationalismus werden die Menschen nach ihrer „Nützlichkeit“ beurteilt. Der „kleine Mann“, der hart arbeitet, fühlt sich nicht genügend gewürdigt und belohnt, und so widmen sich die Rechtspopulisten den Sorgen der kleinen Leute, der „Anständigen und Fleißigen“. Auch ArbeitnehmerInnen in Aufstiegspositionen, die unter der Verdichtung ihrer Arbeit leiden, sind für rechtspopulistische Einstellungen anfällig. Wer sich den Normen der Leistungsgesellschaft unterordnet, möchte dass das auch alle anderen tun. Er möchte für seine Unterordnung auch entsprechend belohnt werden.

Die Angst der Herrschenden vor dem Chaos

Ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema von Protest gäbe es nicht. Aber die Herrschenden haben Angst vor Chaos, vor dem Unberechenbaren. Auch die Masse der BürgerInnen hat Angst vor radikaldemokratischen Formen. Deshalb ist für sie Sicherheit so wichtig. Der Bürger hat Angst um seinen Besitz, der ihm der Pöbel wegnehmen könnte. Leider leiden allerdings global gesehen die Armen am meisten an realer Unsicherheit in ihren Ghettos, Favelas und Slums. Die Reichen ziehen sich in ihre „gate comunitys“ zurück. Mit der Ersetzung von Sozialpolitik durch Kriminalpolitik wird gleichzeitig eine Brutalisierung der Armen erreicht, in den USA existiert bereits ein riesiger Gefängniskomplex. Eine große Anzahl schwarzer Männer hat dort bereits Knasterfahrungen. In Deutschland dient der Sozialstaat noch der Befriedung.

Die Angst der Betroffenen vor Repression und Kriminalisierung

Immer wieder kommt das Argument, man hätte Angst vor Kriminalisierung. Natürlich ist die finanzielle Lage von Hartz IV- BezieherInnen desolat, Geldbußen werden befürchtet, aber rebellisches Verhalten wird noch nicht mal ausprobiert. Die Erwerbslosenszene hat seit 30 Jahren auch kaum Erfahrungen damit. „Kölner Erwerbslose in Bewegung“ führten am 1. Oktober 2007 den ersten Zahltag durch, wo in 13 Fällen für Betroffene eine Barzahlung erwirkt wurde und weitere Probleme geklärt werden konnten. Rebellische Praktiken sind also auch bei Erwerbslosen möglich. Lange habe ich für eine Breite des Protests bzw. Widerstands plädiert, wenn aber wie hier in Berlin immer nur BündnispartnerInnen in der Mitte der Gesellschaft gesucht werden und der Druck von unten vernachlässigt wird, dann organisieren wir uns immer neue Mißerfolge. Peter Grottian mahnt schon lange an, dass ziviler Ungehorsam geübt werden muß. Es wird höchste Zeit.

Was unterscheidet die heutige Zeit von den damaligen Arbeitslosenprotesten in den USA?

Damals betrug die Arbeitslosenzahl bis zu 10 Millionen, heute erzählen die Herrschenden etwas von unter 3 Millionen. Die Arbeitslosenstatistik wird gefälscht, weil z.B. MaßnahmeteilnehmerInnen, Ein-Euro-JobberInnen, Selbständige etc. herausgerechnet werden.

Die Zahl der Hartz IV- BezieherInnen betrug 2010 ca. 6,7 Millionen.

Zudem muß niemand verhungern, da zur Not Lebensmittelausgaben zur Verfügung stehen. Hartz IV- BezieherInnen leiden nicht an Unter-, sondern Mangelernährung. Armut macht krank, insbesondere bei den psychischen Erkrankungen ist ein Anstieg zu verzeichnen.

Da die Armen die Schuld bei sich selbst suchen und nicht an Veränderung glauben, gibt es auch keine Unruhen. Zudem befinden sich die Kommunen schon lange in der Finanzkrise, aber das Hartz IV- Gesetz ist auf Bundesebene geregelt. Die Unzufriedenheit drückt sich in der Politikverdrossenheit aus, aber die Armen wählen oft nicht und bringen deshalb das politische System nicht in Turbulenzen. Es ist relativ stabil.

Was bewirkt Proteste?

1.   Um Proteste zu bewirken, müssen Menschen die Schuld nicht bei sich, sondern beim System suchen. Nicht du bist Schuld, sondern das System. Es müssen die Verblendungsmechanismen, z.B. die Mechanismen, die zu Standortnationalismus und Rechtspopulismus führen, aufgezeigt werden. Daher ist kontinuierliche Aufklärung notwendig, in den Medien, durch Öffentlichkeitsarbeit, durch Konferenzen, Veranstaltungen, politischer Literatur usw.

2.     Um Proteste zu bewirken, müssen Menschen an die Veränderbarkeit des Systems glauben. Nicht fatalistisch sein, sondern rebellisch. Haben wir überhaupt Alternativen anzubieten? Was sollen die ständigen Forderungen an den Staat, sie sind nur Ausdruck unserer Schwäche. Ob es nun 80 Euro für Lebensmittel, 500 Euro Regelsatz oder das bedingungslose Grundeinkommen/ Existenzgeld, das mittlerweile seit 30 (!) Jahren gefordert wird. Nicht staatsfixiert sein, sondern das Leben selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört auch, nicht an die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu glauben. Daher muß die Linke m.E. den Realsozialismus aufarbeiten und nicht in Nostalgie verfallen, um überhaupt wieder nichtautoritäre nichtkapitalistische Alternativen denken zu können. Zweitens steht die Frage im Raum „Wie wollen wir jetzt leben?„. „Anders leben, anders arbeiten?„ Was heißt das für uns im Alltag. Erwerbslose sollten sich selbst gemeinsame Projekte und Perspektiven aufbauen, statt immer nur Abwehrkämpfe zu führen

3.     Um Proteste zu bewirken, müssen Menschen Erfolge in ihrem Alltag spüren. Wir müssen die eigene Stärke spüren. Daher sind Alltagskämpfe im Stadtteil, im Betrieb, im Jobcenter etc. notwendig. Ein Erfolg kann eine Begleitung zum Amt sein, ein Erfolg kann die Öffnung eines Flughafens sein oder dass das QM von den GegnerInnen „beeindruckt“ ist, ein Erfolg kann eine Betriebsgruppe bei Prekären sein, ein Erfolg kann eine Aktion beim Jobcenter sein.

4.     Um Proteste zu bewirken, bedarf es einer Strategie. Was oftmals fehlt, ist ein strategisches Vorgehen. Auch wenn in Unruhezeiten Spontanität wichtig ist, so hat man gerade in Ebbezeiten das Gefühl, dass in Gruppen totaler Chaotismus herrscht. Da wird ein Mißerfolg nach dem anderen organisiert, eine Frustration folgt der anderen. Man sollte aber nicht dem Irrglauben verfallen, dass durch gezielte Planung Sozialproteste ausgelöst werden könnten. In diesen Ebbezeiten sind Alltagskämpfe und die Verletzung herrschender Formen besonders wichtig.

5.     Um Proteste zu bewirken, stellt sich auch die Frage der Organisierung. Was tun mit den Menschen, die nach einer Demo oder Veranstaltung wieder allein nach Hause gehen. Sie müssen in ihren Stadtteilen Anlaufpunkte haben, wo sie sich organisieren können. Dabei geht es nicht um einen Vereinheitlichungsprozeß, eine große Organisation von oben, sondern um Organisierung von unten. Aus einer Organisierung von unten könnten allerdings auch Rätestrukturen erwachsen.

Was sind die Alternativen?

Wir müssen uns neuer sperriger Formen bedienen. Unberechenbar sein!
Herrschende Normen verletzen! Ziviler Ungehorsam!

Ich erinnere mich an eine Aneignungsaktion bei Karstadt während der Proteste 1998.

Ich erinnere mich an ein Go-In beim BVG-Chef in Berlin, als das Sozialticket abgeschafft war.

Ich erinnere mich an Ein-Euro- Spaziergänge, wo Beschäftigungsträger aufgesucht wurden.

Ich erinnere mich an witzige Aktionen, wie einen Gladiatorenkampf zwischen Ich-AG, Leiharbeiter und Minijobber, die Verleihung des Goldenen Tretstiefels an das Sozialamt Neukölln und ein Erwerbslosentheater zu den Wahlen 2002. Das hat Spaß gemacht und daher kam auch kein Gefühl der eigenen Schwäche auf. Im Gegenteil.

Es geht nicht darum, nur radikalere Aktionsformen durchzuführen, denn die Bedürfnisse der Menschen sind verschieden. Aber es geht darum, Radikalität wieder mehr anzudenken und auszuprobieren.

Anders leben- anders arbeiten

Es bedarf einer Gegenstruktur von unten, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.  Wir müssen experimentieren- mit Selbsthilfe, kleinen Netzen und Eigenökonomie!

Der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken ist notwendig, dabei kann auch mit Eigenökonomie experimentiert werden, z.B. Selbsthilfegenossenschaften. In einem Erwerbslosenzentrum wäre das möglich, das alle ihre Kompetenzen einbringen können. Wichtig ist die Frage „Wie wollen wir leben?“. Wie können wir Projekte aufbauen, die Perspektiven für Erwerbslose aufzeigen?

Schon vorhandene Alltagspraxis

Wichtig sind auch Alltagskämpfe im Jobcenter, im Stadtteil, im Betrieb etc.

Sinnvoll sind Zahltage, wie in Köln und Berlin. http://www.die-keas.org/zahltag-1

Sinnvoll ist auch die Präsenz vor und in den Ämtern, wie die Gruppe FelS es tut. Sie kürten bei den Herbstaktionstagen die miesesten Sachbarbeiter im Jobcenter Neukölln. Zudem führen sie Militante Untersuchungen und Jobcenterversammlungen durch.  http://zusammendagegen.blogsport.de/

Wichtig sind natürlich auch unabhängige Beratungen, wie in der Lunte (jeden Donnerstag von 18-20 Uhr, Weisestr.53),

Begleitungen von „Keine/r muss allein zum Amt“  http://zahltagberlin.blogsport.de/

oder das Infotelefon der Kampagne gegen Zwangsumzüge. http://www.gegen-zwangsumzuege.de/

Allerdings muss diese Beratungs- und Begleitungsarbeit auch ausgewertet werden, so dass politische Konsequenzen daraus abgeleitet werden können. Die ALSO in Oldenburg wertet ihre Beratungsarbeit in der Arbeitslosenzeitung quer aus. Beratung und Begleitung ist nicht an sich politisch. Man muß etwas tun, damit diese Tätigkeiten politisch werden.

Mittlerweile gibt es auch Alltagskämpfe gegen Gentrifizierung in den Stadtteilen. Es geht um eine linke Alltagspräsenz und linkes Alltagsverhalten. In den Alltagskämpfen wollen wir nicht die Massen (wie bei den Massendemonstrationen) mobilisieren, wir wollen aber im Alltag der Menschen als Linke wieder präsent sein, z.B. wenn ihre Mieten steigen und sie aus dem Kiez verdrängt werden sollen. So organisierte die Stadtteilinitiative im Schillerkiez eine sehr gut besuchte Veranstaltung zu Betriebskostenabrechnungen, die Ende des Jahres einflatterten. Auf dieser Veranstaltung war ein Querschnitt der Bevölkerung des Schillerkiezes anwesend, Arme, Niedriglöhner, Erwerbslose, Migranten, Studenten etc. Viele Mieter im Schillerkiez haben Betriebskostenerhöhungen erhalten und befürchten ihre Verdrängung aus dem Kiez. Sie wurden rechtlich informiert, es wurde aber auch über die kollektive Organisierung in ihren Häusern und im Kiez diskutiert. Es zeigt sich, dass KiezbewohnerInnen an konkreten Problemen angesprochen werden müssen. In den Stadtteilversammlungen der Stadtteilinitiative wurden bisher meistens nur die Pioniere der Gentrifizierung angesprochen. Auch die Veranstaltungsorte sind wichtig, diese Veranstaltung fand in einer Kirche statt, die Stadtteilversammlungen eher in Szenekneipen.

Ein anderes Beispiel in Neukölln sind die Jobcenterversammlungen, die allerdings nicht so gut besucht waren. Die linke Gruppe FelS stand wöchentlich am Jobcenter, führte Befragungen durch und lud die Erwerbslosen zu Versammlungen ein. Dort wurden Probleme der TeilnehmerInnen besprochen, aber auch die kollektive Organisierung diskutiert. Im Rahmen der Herbstaktionstage wurden die miesesten Sachbearbeiter des Jobcenters „gekürt“.

Aufklärung

Wichtig ist auch die politische Bildungsarbeit, in dem man Veranstaltungen und Konferenzen zu den Themen Armut, Erwerbslosigkeit, Sozialstaat und prekärer Arbeitswelt organisiert.

Beispiele sind folgende Veranstaltungen: http://www.teilhabe-berlin.de/aktuelles.html

Es ist allerdings noch nicht gelungen, daraus eine Organisierung oder Kämpfe folgen zu lassen.

Statt Forderungen an den Staat, die Systemfrage stellen!

In der Erwerbslosenszene wird meistens nur Detailkritik an Hartz IV geübt, aber nicht die Systemfrage gestellt. Wer wiederum in der Linken die Systemfrage stellt, vergißt oft das pragmatische Überleben der Armen, woran allerdings auch die Erwerbslosenszene nicht denkt, die nur Abwehrkämpfe führt und Forderungen an den Staat stellt. Das hilft den Erwerbslosen allerdings in der Situation keinen Schritt weiter. 

Wichtig kann es allerdings trotzdem sein, an die Veränderbarkeit des Systems zu glauben.

Daher ist auch die Aufarbeitung des Realsozialismus so wichtig. Hier meine Aufarbeitung zur DDR: http://www.freiheitpur.i-networx.de/ddr.html

Wir müssen aus den Fehlern lernen. Die Perspektive für mich ist: Statt eines autoritären Sozialismus, ein libertärer Sozialismus! Die Idee des Sozialismus ist nicht tot, aber es ist Aufarbeitung notwendig, statt wieder einmal Geschichtsvergessenheit der Linken.

Die Armen lehnen sich nur selten auf.

„Die Erfahrung, wie wehrlos sie sind, ist fester Bestandteil ihres Alltags: jeder Polizeiübergriff, jede Wohnungsausweisung, jeder Verlust des Arbeitsplatzes, jede Streichung der Sozialhilfe ist in ihr Bewußtsein eingraviert.“ (Piven, Cloward, S. 49)

Das erste Anzeichen für Unzufriedenheit ist in der parlamentarischen Demokratie das Wahlverhalten, Arme wählen kaum noch, sie stellen das Heer der Nichtwähler. Die Politikverdrossenheit in Deutschland tangiert allerdings nicht nur die Unterschicht. Unzufriedenheit ist also da, viele zweifeln die Legitimation des Systems an.

Viele erkennen die Absurdität des Systems!!!

Von der Unzufriedenheit zum Widerstand ist es allerdings ein weiter Weg.

Nicht- ich bin schuld, sondern das System ist schuld.

Nicht- man kann ja sowieso nichts machen, sondern wir können das System verändern.

Mit einem kollektiven Bewußtsein die eigene Stärke spüren!

Nach der Ebbe kommt wieder die Flut!

ABER ERSTMAL INNEHALTEN UND REFLEKTIEREN!!!

Und um aus der Geschichte zu lernen, zum Schluß Erkenntnisse aus dem Buch „Aufstand der Armen“, dass jeder sozialpolitisch Bewegte lesen sollte. Das Buch kann gut der Reflexion dienen.

Aus den Erfahrungen lernen!

Siefried Leibfried und Wolf-Dieter Narr schreiben, dass folgende Einsichten von Piven und Cloward von der Forschung zum sozialen Protest geteilt werden:

Kritik an formalen Organisationen mit „Hierarchiebildung, Stellvertreterpolitik der Funktionäre, aus der Organisation als Instrument wird das Ziel selbst, die Organisationserhaltung wird vorherrschender Bezugspunkt, der Organisationspatriotismus triumphiert.“ (Piven, Cloward 1986, S. IV)

„Soweit soziale Bewegungen und ihr Protest erfolgreich waren, verdankt dieser Erfolg sich nicht einer großen einflußmächtigen, auf Parteien und Regierung Druck ausübenden, mühsam aufgebauten Organisation. Entscheidend war vielmehr die Verletzung herrschender Formen, die nicht berechenbare, der nicht organisatorisch vermittelte und stillgelegte Protest: Das Sperrige...Selbst wenn es, wie hierzulande oft, gelingen sollte, auf diesem Wege Organisationen aufzubauen, werden diese doch eher dazu dienen, die nicht berücksichtigten Interessen in die herrschenden Konventionen einzubinden, als umgekehrt dazu, diese Konventionen zu verändern.“ (Piven, Cloward, S. IV)

„Kollektiver Protest ist als gesellschaftliche Normalität unwahrscheinlich....Bevor es zu einer stärkeren und unüblichen Mobilisierung kommen kann, muß ein kollektives Bewußtsein

gemeinsamer Nöte entstanden sein...Kollektiver Protest entsteht jedoch nicht durch gezielte Planung. Das heißt nicht, daß er keine bestimmte Richtung nähme und nicht durch verhältnismäßig einheitliche Absichten gekennzeichnet wäre. Jedoch zeichnet den kollektiven Protest ein nicht im vorhinein kalkulierbares Element aus. Gerade dies erklärt die unzureichenden Reaktionen der Vertreter etablierter Institutionen und erregt deren Unruhe und Angst.“ (Piven, Cloward, S.V)

„Die Vertreter herrschender Interessen werden erst dadurch zu einem anderen Verhalten genötigt, und sei es nur vorübergehen, daß sie die Forderungen des Protestes angesichts seiner ungebärdigen Formen nicht mehr in dem bestehenden Kanalsystem drainieren können.“ (Piven, Cloward, S. VI)  Den Herrschenden gelingt am besten, Organisationen einzubinden, die über Wahlen Einfluß nehmen wollen.

„Protest wird erst möglich bei Nachlassen halbfeudaler Repression.“ (Piven, Cloward, S. VI) In diesem Sinne kann man die DDR wohl auch als halbfeudales System betrachten, denn kollektiver politischer Protest war kaum möglich bzw. wurde niedergeschlagen.

„Kollektive Proteste kommen ‘von unten’. Aber sie besitzen gewöhnlich auch intellektuelle Vorreiter und professionell agierende Organisatoren. Beide wollen das Beste für die Protestierenden. Sie können allerdings den Protest unbeabsichtigt seines Stachels und damit seiner Wirkung berauben. Die Organisatoren und die Konzepte schmiedenden Reformer setzen auf die Logik der Institution. Kontinuität soll erreicht werden, regelmäßiger Einfluß. Der Protest soll dort ein Ohr finden, wo entschieden wird usw. Doch allzu rasch wird dann die Mobilisierung und die Politisierung zum Aufbau der Organisation verwandt und der Hoffnung geopfert, mit Hilfe der Organisation Einfluß nehmen zu können...Der Druck von ‘unten’ wird umgeleitet, organisatorisch ‘geläutert’, geht seiner Stärke verlustig und verpufft. Der kollektive Protest verliert sein kollektives Element wie die Eigenart des Protests, sprich: das Nicht- normal- Konsumierbare.“ (Piven, Cloward, S. VI)

Es darf dennoch nicht verkannt werden, daß Organisationen und Positionen, die als Ausdruck kollektiven Protests entstanden sind oder erworben wurden, auch dann sinnvoll bleiben können, wenn die Protestwurzel abgestorben und die ungebärdigen Formen des Protests gebändigt worden sind...Allerdings sollte nicht vergessen werden, daß zuerst der Protest vorhanden war und dann die Organisation kam. Nicht die Organisation inszenierte einen erfolgreichen Protest, der Protest inszenierte sich zunächst selbst und schuf eine Organisation.“ (Piven, Cloward, S. VII)

„Gerade die politische Geschichtsschreibung sozialen Protests belegt, daß diejenigen, die solche Geschichte schreiben, von ihrer eigenen Gegenwart ausgehen und von ihren eigenen

Konzepten des Politischen....Wer sozialen Protest untersucht, muß sich über die eigene Wahrnehmung, die eigenen Urteilskriterien, den eigenen Politikbegriff im besonderen Rechenschaft ablegen.“ (Piven, Cloward, S. VII)

Narr und Leibfried schreiben, dass sich de amerikanischen Verhältnisse allerdings nicht auf Deutschland übertragen lassen. Die Unterschiede der Traditionen seien zu groß. In Deutschland erfolgte eher eine staatliche Planung von oben, die schließlich nach 1945 in die Sozialpartnerschaft mündete. Andererseits könne man aber einen anderen Blickwinkel gewinnen. Die Staatsfixierung deutscher Geschichtsschreibung könne korrigiert werden.

Wie entstand die Arbeitslosenbewegung während der Depression in den USA? Und warum endete sie?

Der Aufruhr

Aufgrund des ökonomischen Zusammenbruchs bestimmte Elend und Verwirrung das Alltagsleben von Millionen Menschen. Die Arbeitslosenzahl stieg rasant von 429 000 im Oktober 1929 auf 9 Millionen im Oktober 1931. Es drohte der Hungertod, da die Masse der Armen von der Sozialfürsorge ausgeschlossen war. Die ganze Lebensweise der Arbeitslosen brach zusammen. Die Familien zerrütteten, so ließen Männer ihre Familien im Stich.

Unterernährung und Krankheiten nahmen zu. Viele Menschen zogen rastlos von Stadt zu Stadt.

Einige Arbeitslose begannen sich bewußt zu werden, „was geschehen war und warum, und wer dafür verantwortlich zu machen war. Sie begannen ihr persönliches Elend nicht einfach als individuelles Mißgeschick zu begreifen, sondern als Schicksal, das sie mit vielen anderen teilten, mit Menschen, die so waren wie sie selbst. Wenn aber viele Menschen in denselben Schwierigkeiten steckten, dann war es vielleicht gar nicht ihre eigene Schuld, sondern Schuld des ‘Systems’“. (Piven, Cloward, S. 72)

Die Arbeitslosen lehnten sich auf, zu Beginn mittels Lebensmittelplünderungen. Schließlich kam es zu Demonstrationen, Rathäuser wurden gestürmt. Aus der Verzweiflung wurde Wut. „Arbeitslose Männer und Frauen begannen, sich gegen lokale Autoritäten und gegen die von ihnen gesetzten Regeln aufzulehnen, die sie für ihre Probleme verantwortlich machten. Dies wurde u.a. in dem massenhaften Widerstand gegen Wohnungsräumungen deutlich.“ (Piven, Cloward, S.76) Es kam zu Mieterunruhen. Es gründeten sich Arbeitslosenräte. Schließlich gaben die Arbeitslosen auch ihre Vorbehalte gegen die Sozialfürsorge auf, aus Verzweiflung oder Wut. „Einige gelangten zu der Überzeugung, daß sie ein Recht auf dieses Einkommen, das sie zum Überleben benötigten, hatten, wo es doch keine Arbeit für sie gab, da sie von den Fabriken, Büros und Handwerksbetrieben beständig abgewiesen wurden. Von ihrer Wut angestachelt, machten sich Mengen von arbeitslosen Männern und Frauen auf zu den Fürsorgeämtern, deren Beamte sie unter Druck setzten und in die Ecke trieben, und deren Räume sie zuweilen sogar besetzt hielten, bis ihre Forderungen erfüllt wurden- bis man ihnen Geld oder Naturalien aushändigte.“ (Piven, Cloward, S.80) Die Arbeitslosen wurden aufsässiger.

Die gepflegte Praxis der Fürsorgeämter, die Empfänger von Sozialfürsorge gründlich zu durchleuchten und zu überwachen, wurde aufgegeben. So wurden in 30 Tagen in New York 196 Forderungen von Arbeitslosengruppen registriert, davon wurden 107 bewilligt. Da immer mehr Arbeitslose Geld verlangten, nahm die Finanzkrise der Kommunen zu. Unter dem

Druck der Unruhen und der kommunalen Finanzkrise bewilligten einige Bundesstaaten Notausgaben für Sozialfürsorge, die aber sehr gering waren. Selbst Bürgermeister verlangten jetzt nachdrücklich Bundeshilfe.

Aufgrund der politischen Unruhe hatte bis November 1932 das Problem der Arbeitslosigkeit so weite Kreise erfaßt, dass sie eine politische Umwälzung hervorbrachte. Roosevelt gewann die Präsidentschaftswahlen 1932, er hatte viele Versprechungen gemacht. Er verdankte seine Wahl den großen Städten, wo Arbeitslosigkeit und Not am größten waren. Drei Wochen nach seiner Amtseinführung forderte Roosevelt ein öffentliches Arbeitsbeschaffungsprogramm und ein massives Bundeswohlfahrtsprogramm zur Linderung der Not. „Es hatte der Proteste und der  anschließenden fiskalischen und wahlpolitischen Turbulenzen bedurft, um eine Bundessozialhilfegesetzgebung hervorzubringen, und es bedurfte weiterer Proteste, um die Implementation der Gesetze zu erreichen.“ (Piven, Cloward, S.91) Aufgrund der weiteren Aktionen nahmen viele Staaten und Kommunen überhaupt an den Bundesnothilfeprogrammen teil.

Vom Aufruhr zur Organisation

„Seit Beginn der Depression zog das rebellische Potential, das in den arbeitslosen Massen steckte, ‘organizers’ und Aktivisten der Linken magisch an. Sie näherten sich den Arbeitslosen zwar auf unterschiedliche Weise, doch eines war ihnen allen gemeinsam: sie beklagten ohne Ausnahme den lockeren und chaotischen Charakter der Bewegung und strebten durchweg den Aufbau einer Organisation an.“ (Piven, Cloward, S.92)

Die Kommunisten waren die ersten, die Organisationen aufbauen wollten. In der frühen Phase führten sie allerdings noch direkte Aktionen durch. Jeder Mißstand wurde zum Auslöser von Massenaktionen. 1921 versuchten sie die Arbeitslosen in „Aktionsausschüssen“ zu organisieren, ab 1929 in Arbeitslosenräten. Mitte 1930 war das Arbeitslosenthema Schwerpunkt ihrer Betätigung. Die Kommunisten übernahmen auch die Führung in der Auseinandersetzung mit der Polizei. In dem frühen Stadium gab es kaum Mitgliederversammlungen und formelle Strukturen. Auch andere Radikale waren aktiv. Die Mitgliederzahl der Arbeitslosenbewegung schwankte, weil viele Menschen in der Hoffnung auf Sozialfürsorge dazu stießen, die Bewegung aber wieder verließen, wenn sie die Unterstützung erhalten hatten. 

„Entstanden war die Arbeitslosenbewegung in einzelnen Städten, bei sporadischen Straßendemonstrationen, Mieterunruhen und Störaktionen auf Sozialämtern. Die Ortsgruppen waren oft nur locker organisiert und wurden mehr durch die periodischen Demonstrationen als durch reguläre und formelle Mitgliedschaft zusammengehalten. Sie gewannen an Kraft durch die

Erfolge in den direkten Aktionen, die Geld oder Lebensmittel einbrachten oder Wohnungsräumungen verhinderten. Doch die Mehrzahl der radikalen Sprecher der verschiedenen Gruppen hielt die organisatorische Unverbindlichkeit der Ortsgruppen für einen Nachteil“ (Piven, Cloward, S.97) Den ‘organizers’ fehlte die organisatorische Klarheit, sie wollten mit Hilfe einer Organisation und des politischen Wahlsystems Veränderungen erreichen. Auch die Sozialisten wollten vor den Wahlen 1932 jetzt eine nationale Organisation aufbauen. Im Frühjahr 1935 wurde dann eine nationale Organisation der meisten großen Arbeitslosenorganisationen gegründet, die „Worker’s Alliance of America“. Ende 1936 hatte diese Organisation nach eigenen Angaben 600 000 Mitglieder in 43 Bundesstaaten. Die Organisation wollte eine Dauerhaftigkeit erreichen, tatsächlich ging aber die Mitgliederzahl zurück, als sie nur noch mit dem Aufbau der Organisation beschäftigt waren. Ursache war allerdings auch, dass das Wohlfahrtssystem von Roosevelt die Gruppen von ihren Störaktionen abbrachten und lokale Anführer in bürokratische Funktionen einbanden. „...bei dem Versuch, durch organisierten und wahltaktischen Druck wesentlichere Reformen durchzusetzen, verzichteten sie auf lokale Störaktionen und wurden unbeabsichtigt zu Kollaborateuren in einem Prozeß, der der Bewegung letztlich die Spitze abbrach...Die Fähigkeit der lokalen Gruppen, Anhänger anzuziehen, war von ihren konkreten Erfolgen in den Sozialämtern abhängig gewesen. Doch der vergrößerte Verwaltungsapparat, die Mittelausweitung und die wohlwollender gewordene Atmosphäre unter der Roosevelt- Administration erlaubten es den Fürsorgeverwaltungen, ihre Arbeit zu normalisieren und wieder volle Kontrolle über die Gewährung der Sozialhilfe zu erlangen....sie (machten) sich daran, präzise Kriterien auszuarbeiten, wer wieviel Unterstützung bekommen solle. Gleichzeitig entwickelten sie komplizierte, formalisierte Verfahren für Verhandlungen mit organisierten Arbeitslosengruppen.“ (Piven, Cloward, S.102) Es wurden Beschwerdebüros eingerichtet.

Aufnahme in den bürokratischen Apparat

Die Arbeitslosengruppen waren der wichtigsten Waffe in der Auseinandersetzung mit den Fürsorgeämtern beraubt. Die Mitgliederzahlen der Arbeitslosengruppen nahmen ab und die internen Differenzen zu. Vertreter der Arbeitslosen wurden in den bürokratischen Apparat aufgenommen. „je stärker die Arbeitslosengruppen auf diese Weise integriert wurden, um so ‘reifer’ und ‘vernünftiger’ wurden sie. Sie fungierten dann als eine Art Hilfsstab, der sogar Untersuchungen durchführte, die das Amt selbst nicht leisten konnte...Unbestreitbar stellten die Arbeitslosen, nachdem sie einmal in die neuen Verfahren eingewilligt hatten, für die lokalen Verwaltungen kein größeres Problem mehr da.“ (Piven, Cloward, S.105) Auch bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden ähnliche Verfahren eingesetzt, danach wurden Streiks als illegal erklärt, die Streikenden konnten ersetzt werden.

Lobbyismus in den Parlamenten und Verhandlungen mit Behörden

Anstelle von Tumulten in den Fürsorgeämtern gingen die Arbeitslosenorganisationen zum Lobbyismus in Parlamenten und Verhandlungen mit Behörden über. Dabei waren die früheren Erfolge nicht durch Lobbyismus in den Parlamenten oder durch standardisierte Beschwerdeverfahren erreicht worden. „Erfolge im Kampf um Unterstützung waren dadurch errungen worden, daß man aggressive Protestdemonstrationen organisiert und die sofortige Gewährung von Beihilfen für Hunderte von Menschen gefordert hatte. Durch die Preisgabe rebellischer Taktiken zugunsten bürokratischer Prozeduren verlor die Bewegung die Möglichkeit, Entscheidungen der lokalen Fürsorgeverwaltungen zu beeinflussen...Die Kraft der Bewegung war gebrochen, ihre lokalen Anführer tanzten auf dem glatten Parkett der Bürokratie...“(Piven, Cloward, S.107)

Einstellung der Bundesfürsorge

Folglich erklärte Roosevelt 1934, daß die direkten Fürsorgeleistungen des Bundes eingestellt werden. Anstatt direkter Sozialfürsorge forderte er die Schaffung öffentlicher Arbeitsbeschaffungsprogramme. Das Angebot an Arbeitsplätzen war aber begrenzt, es waren immer noch fast 10 Millionen Menschen ohne Arbeit. Also mußten sich die Arbeitslosen wieder an die lokalen Fürsorgeämter wenden. Aufgrund der Sozialfürsorgekürzungen gingen viele dem Hungertod entgegen.

Medienhetze

In der Öffentlichkeit hatte sich inzwischen die einhellige Unterstützung für Wohlfahrtsmaßnahmen des Jahres 1933 verflüchtigt. Die Medien wetterten gegen die Fürsorgeempfänger. Das politische Klima schlug um. Die Reihen der Arbeitslosen waren wiederum gespalten, da viele der fähigsten Vertreter von Arbeitsbeschaffungsprogrammen aufgesogen waren oder sogar in den Fürsorgeämtern eingestellt wurden.

Parlamentarische Niederlagen - das Ende

Die nationale Organisation „Alliance“ überschwemmte das Parlament jetzt mit Postkarten, Telegrammen und Petitionen. Sie brachten einen eigenen Gesetzentwurf ein, der mit überwältigender Mehrheit im Kongreß abgelehnt wurde. Trotzdem suchten sie weiter Bündnispartner und leisteten Überzeugungsarbeit, die aggressive Rhetorik wurde immer mehr abgemildert. 1937 begannen sie dann Beziehungen zu wohlgesonnenen Senatoren und Kongreßabgeordneten aufzubauen. Sie schrieben regelmäßig an den Präsidenten. Sie brachten eine Resolution für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein, die im Kongreß nie zur Abstimmung kam. Trotz der Mißerfolge schlug die „Allianz“ weitere legislative Programme vor und festigte ihre Beziehungen zur Administration. 1938 mobilisierte sie ihre Kräfte zur Unterstützung der Kandidaten der Demokratischen Partei. Damit erreichten sie nicht mal symbolische Zugeständnisse der Bundesregierung, die „Alliance“ hatte sich als bedeutungslos erwiesen.

„Die lange Reihe parlamentarischer Niederlagen und der Prozeß fortschreitender Bürokratisierung, der einen Rückgang der Basisaktivitäten zur Folge hatte, waren nicht ohne Konsequenz geblieben. Mitgliederzahlen und Militanz waren zurückgegangen. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen verschärften sich; verbittert und frustriert begannen die übriggebliebenen Gruppen sich abzuwenden...Die Führung erkannte nicht, daß die Regierung nicht gezwungen ist, die Forderungen einer organisierten Avantgarde zu erfüllen, um Massenunruhen zu ersticken, wenn sie sich auch mit Unruhen selbst sehr wohl auseinandersetzen muß. Indem der New Deal ein politisches Klima schuf, das den Glauben der Menschen stärkte, durch Wahlen politischen Einfluß nehmen zu können, schwächte er die Bereitschaft der Arbeitslosenführer, Aufruhr zu schüren...Die besondere Tragödie der ‘Workers’ Alliance’ besteht nicht darin, daß es ihr nicht gelang, die fundamentalen Reformen, denen sie sich verschrieben hatte, durchzusetzen. Errungenschaften dieser Größenordnung sind das Resultat von Kräften, die größer sind als alles, was politische Führer allein auf die Beine stellen können...Die Tragödie...besteht vielmehr darin, welche Rolle die ‘Alliance’ während der kurzen, stürmischen Zeit spielte, als die Menschen bereit waren, sich gegen die Autoritäten und Normen, die normalerweise ihr Leben bestimmen, aufzulehnen. Anstatt die Möglichkeiten, die diese Zeit bot, voll auszunutzen und den Aufruhr bis an seine äußeren Grenzen zu treiben, gingen die Sprecher der Arbeitslosen daran, eine Organisation aufzubauen und nach gesetzlichen Reformen zu rufen- und indem sie das taten, fügten sie sich im Grunde den Gesetzen des Bürokratismus...Als die ‘Alliance’ sich dann von dem Kampf in den Fürsorgeämtern abwandte, um auf der großen politischen Bühne für hochfliegende Pläne auf grundlegende Veränderungen zu werben, wandte sie sich praktisch auch von den Millionen Fürsorgeempfängern ab. Als Resultat wurden die Leistungen wieder eingeschränkt und Millionen von Menschen, die noch immer ohne Arbeit waren, mit ihrer Not alleingelassen.“ (Piven, Cloward, S.116f.)

Die Protestbewegung der Wohlfahrtsempänger in den 1960er Jahren in der USA

„1960 erhielten nur 745 000 Familien Unterstützung im Rahmen des AFDC-Programms („Aid to Families with Dependent Children“- Unterstützung von Familien mit abhängigen Kindern); die Höhe der Leistungen betrug weniger als eine Milliarde Dollar. 1972 waren es dagegen drei Millionen Familien, und die Beihilfen beliefen sich auf insgesamt sechs Milliarden Dollar.“ (Piven, Cloward, S.289) Der Aufruhr hatte für die Erhöhung der Leistungen gesorgt, es war vor allem der Kampf der schwarzen Massen ums Überleben, von dem auch weiße Arme profitierten. Insbesondere in den Städten brodelte es.

Auch hier begann es zunächst so, dass das Ethos der Eigenverantwortlichkeit und die Verachtung der Almosenempfänger dazu führte, dass nur ein kleiner Teil der Armen öffentliche Unterstützung beantragte. Aber dann wurde die Armut ein öffentlich debattiertes Thema. Zudem wandte sich die schwarze Bürgerrechtsbewegung 1962 und 1963 ökonomischen Problemen zu. Die Kennedy-Administration wollte Bürgerrechtsformen umgehen und trotzdem nicht die Unterstützung der Schwarzen verlieren. Kennedy hatte eine rhetorische Welle über das Armutsproblem in Gang gesetzt, unter Johnson wurde das zur Sturmflut. Es wurden Hilfsprogramme beschlossen. Diese dämpften zunächst nicht die Unruhe, sondern trugen zur weiteren Mobilisierung bei. „Die neuen Hilfsprogramme gaben entscheidenden Anstoß zu der Flut von Anträgen auf öffentliche Unterstützung, die nach 1963 einsetzte.“ (Piven, Cloward, 296) Die Armen brauchten Geld, denn ihr Geldmangel war die Ursache ihrer Probleme, das erkannten auch die Sozialarbeiter, die Handbücher über das „Recht auf Wohlfahrt“ schrieben und überall verteilten. Da es Massenproteste und eine entgegenkommende Regierung gab, vertraten auch die Sozialarbeiter militant die Interessen ihrer Mandanten. Sie forderten die positive Bescheidung von Anträgen, klagten und gewannen auch häufig. Auch Anwälte wurden aktiv, sie strengten Musterprozesse an und hatten verblüffende Erfolge. Ab 1965 waren die Armen über ihr „Recht auf Wohlfahrt“ informiert und es wurde ihnen geholfen, diese auch zu bekommen.

„ Alle genannten Faktoren stiegen gleichzeitig an: die rhetorischen Kraftakte gegen die Armut, die Bewilligung neuer Mittel für die Anti-Armuts-Programme, die Gettounruhen ebenso wie die Anträge auf öffentliche Unterstützung. Offensichtlich waren viele Bedürftige zu der Überzeugung gelangt, daß eine Gesellschaft, die ihnen Arbeitsplätze und angemessene Löhne verweigerte, ihnen zumindest ein zum Überleben ausreichendes Einkommen schuldet. Die Zeit begann der Großen Depression zu ähneln: in beiden Perioden kam eine große Anzahl von

Menschen zu dem Schluß, daß das ‘System’ und nicht sie selbst die Verantwortung für ihr Schicksal trage- und so wandten sie sich in immer größerer Zahl an die Fürsorgeämter.  Es war eine Millionenbewegung der Wohlfahrtsempfänger entstanden.

Je mehr Menschen Anträge stellten, um so mehr wurde bewilligt. Die Liberalisierung der Fürsorgepraxis war beeinflußt von der öffentlichen Diskussion über Armut und soziale Ungerechtigkeit. Zugleich befürchteten die Beamten den Ausbruch von Unruhen. „Das Verhalten der Antragsteller in den Warteräumen der Fürsorgeämter hatte sich ebenfalls verändert. Sie waren nicht mehr so bescheiden, so untertänig, so flehend; sie waren empörter, wütender, fordernder. Die Wohlfahrtsbeamten blieben davon nicht unbeeinflußt; vor allem die Sachbearbeiter, die die Anträge entgegennahmen- gewissermaßen die Türsteher des Systems- nutzten ihren Ermessensspielraum jetzt viel freizügiger aus...In der Praxis verloren Durchführungsvorschriften fast völlig an Bedeutung; um die Hunderttausende von Familien, die die Warteräume der Wohlfahrtsämter überfüllten, überhaupt abfertigen zu können, wurden die Bestimmungen einfach ignoriert...Ohne organisatorische Führung und ohne in der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden, war eine Bewegung der Fürsorgeempfänger entstanden, die erhebliche Einkommensverbesserungen für ihre Mitglieder erzielen konnte“ (Piven, Cloward, S.300)

In dieser Situation stellten Piven und Cloward ein Papier vor. Mit der Erhöhung der Zahl der Fürsorgeempänger sollte ein großer Teil der Armut in den USA beseitigt werden. Sie wollten eine Krise des Wohlfahrtssystem herbeiführen, die Lösung sollte ein nationales Mindesteinkommen sein. Für Aktivisten blieb nur die Aufgabe, das militante Verhalten der Armen zu unterstützen. Jetzt begann eine kontroverse strategische Diskussion.

Die „organizer“ waren anderer Meinung. Die Armen könnten ihre Interessen besser vertreten, wenn sie sich organisieren würden.

Dabei stellt sich aber das Ressourcendefizit, betonten Piven und Cloward. Arme verfügen weder über Reichtum, wirtschaftliche Schlüsselpositionen, Medieneinsatz etc. Die „organizer“ meinten ab, das lasse sich durch die bloße Masse der Armen kompensieren, damit könne man politischen Druck ausüben.

Piven und Cloward meinten, der beste Weg, um Druck auf die Regierung auszuüben, sei die Erschütterung des Wohlfahrtssystems durch Aufruhr. Die „organizer“ wollten die Armen vor jeglicher Repression schützen. Mit Hilfe einer Organisation könne direkter Druck auf die Politiker ausgeübt werden.

Piven und Cloward meinten, „politischer Einfluß der Armen entstehe durch Mobilisierung und nicht durch Organisierung. Eine Krisenstrategie erfordert nicht, daß die Beteiligten sich einer Organisation anschließen und regelmäßig an Sitzungen teilnehmen. Sie erfordert, daß große Menschenmassen für Aktionen mobilisiert werden, die bestehende Institutionen in ihren Grundfesten zu erschüttern vermögen.“ (Piven, Cloward, S.311) Dazu sollten Informationskampagnen zum „Recht auf Wohlfahrt“ laufen. Es sollten einflußreiche Persönlichkeiten in den Gettos, wie Geistliche gewonnen werden, die den Armen raten würden, Ansprüche geltend zu machen. Und es sollten Demonstrationen und Protestaktionen durchgeführt werden, um die Empörung und Militanz der Armen zu fördern.

Piven und Cloward meinten auch, dass es an dauerhaften Anreizen fehlte, um die Armen zu organisieren. Die „organizer“ meinten aber die Armen könnten zu einem Machtfaktor werden, so dass man über die regulären Kanäle des politischen Systems Einfluß nehmen könne. Die neu gegründete „National Welfare Rights Organization“ (NRWO) machte eine Zulagenkampagne zu ihrem einzigen Kampfmittel. Wenn die Armen ihre Sonderzuschüsse bekommen hatten, verschwanden sie wieder. Es fehlte also der Anreiz, sich dauerhaft zu organisieren Nicht Piven und Cloward setzten sich durch, sondern die „organizer“, die eine nationale Organisation aufbauten. Bald wurden die politischen Überzeugungen konventioneller, die Militanz ging zurück, die Mitgliederbasis verschwand.

Die Lösung individueller Probleme als Organisierungsstrategie:

Die Gruppen versprachen, Mißstände abzustellen, daher kamen Menschen in die Gruppen. Zunächst reichten Organisationsvertreter selbst die Beschwerden ein. Dann schulte man Wohlfahrtsempfänger. Es wurden „Beschwerde-Komitees“ gegründet. „Als effektivste Methode, um Beschwerden Nachdruck zu verleihen, erwiesen sich kollektive Aktionen.“ (Piven, Cloward, S.326) Das Hauptziel der Organisation bestand darin, die Mitgliederbasis zu erweitern. Bevor man sich den Problemen zuwandte, mußten die Wohlfahrtsempfänger der Gruppe beitreten, Beiträge zahlen und eine Mitgliedskarte erhalten. Wenn die Probleme gelöst waren, verschwanden die meisten Fürsorgeempfänger wieder aus den Gruppen. Die Beschwerdearbeit verlangte viel Zeit und Energie der Betreuer und Empfänger, sie absorbierte buchstäblich die gesamte Energie und die gesamten Mittel der Gruppe. Es wurde immer schwieriger, die Beschwerdeaktivitäten aufrechtzuerhalten. Zudem konnte man durch die Beschwerdearbeit in Führungspositionen gelangen, es bildete sich eine neue Führungsschicht heraus, die Interesse an der Erhaltung ihres privilegierten Verhältnisses zum Wohlfahrtssystem hatten. Die Militanz ging zurück. Die Verfolgung individueller Beschwerden führte nicht zum Aufbau einer Massenmitgliedschaft.

Die Lösung kollektiver Probleme als Organisierungsstrategie

Da die individuellen Lösungen nicht zum angestrebten Ziel führten, wurde nun auf kollektive Lösungen gesetzt. Es sollten Sonderzuwendungen für Bekleidung und Haushaltsgegenstände gewährt werden. Das führte zunächst zum Erfolg, es entstand eine Massenbewegung der Wohlfahrtsempfänger, die mit Hilfe von Sit-Ins Konfrontationen in den Fürsorgeämtern herbeiführten. Die Herrschenden lösten das Problem so, dass sie die Sonderzuwendungen abschafften und eine Pauschalzulage einführten. Piven und Cloward schlugen deshalb einen Mietstreik vor. Die Wohlfahrtsempfänger sollten ihre Einkommensverluste dadurch ausgleichen, dass die Menschen ihre Miete für andere Dinge ausgaben. Das blieb in der Organisation jedoch nur ein verbales Druckmittel. Die Führung der Organisation wollte Druck auf Parlament und Regierung ausüben. Sie fand dafür auch UnterstützerInnen in der Mittelschicht. Die Vorbereitung und Durchführung der Kampagne brauchte die Ressourcen vollständig auf, die Regierung antwortete mit einer 10% igen Kürzung der Fürsorgesätze. Die letzte bedeutende Protestdemonstration in New York fand am 15.April 1969 statt, mit 5000 Personen- meistens Sozialarbeiter*, Mitarbeiter der Programme gegen die Armut, Studenten und anderen Symphatisanten.

(*Im Gegensatz zu den Protesten in den USA in den 1960er Jahren (dazu später) spielten bei den Hartz IV- Protesten Sozialarbeiter kaum eine Rolle. Sie passen sich meistens der Ökonomisierung des Sozialen an, weil sie selbst Angst um ihre Arbeitsplätze haben. Vor Einführung von Hartz IV war kein kollektives Aufbegehren der Sozialarbeiter bemerkbar, dabei bekommen sie die damit verbundenen Probleme in ihrer Arbeit am ehesten zu spüren.)

Die Erwerbslosenorganisation NRWO verwandelte sich von einer Protestorganisation zu einer Verhandlungs- und Lobbyorganisation. Sie warb in den Parlamenten für die Sache der Armen, die Armen selbst hatten damit aber nichts zu tun. Die Massenbasis wurde geringer, aber die finanzielle Unterstützung wuchs unter diesen Bedingungen. „Sobald die Unruhe nachzulassen begann, wurden der NRWO auch die externen Ressourcen wieder entzogen. Die Folge war der organisatorische Zusammenbruch...“ (Piven, Cloward, S. 364)

Als die schwarze Bürgerrechtsbewegung sich auch noch auflöste, machte das Land gegen die schwarzen Armen mobil. „Workfare“ statt „Welfare“. Die Pflicht zur Arbeit und Arbeitsdisziplin sollte wieder hergestellt werden. Das politische Klima veränderte sich.

Frances Fox Piven, Richard A. Cloward, Aufstand der Armen, Suhrkamp Frankfurt /Main 1986
(Im Buch befinden sich übrigens auch noch
zwei Kapitel zur Industriearbeiterbewegung und Bürgerrechtsbewegung in den USA.)

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von der Autorin.