Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

01/11

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Probabilismus [lat] - 1.. erkenntnistheoretisch die Ansicht, daß man in der Wissenschaft und Philosophie nicht zu einer sicheren Erkenntnis gelangen kann,
sondern sich mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit begnügen müsse; 2. moralische Lehre, nach der bei Handlungen, die nicht unmittelbar durch moralische Normen verboten sind, einer hinlänglich probabeln (wahrscheinlichen) Meinung gefolgt werden darf, selbst wenn die entgegengesetzte Ansicht probabler ist. Der Probabilismus taucht bereits im Konfuzianismus und Buddhismus auf. Er findet sich in der antiken Philosophie in der Sophistik, bei den Vertretern der zweiten und dritten Akademie (arkeselaos, karneades, kleitomachos), bei cicero, und wird später auch bei den Kirchenvätern der Patristik und in der Scholastik erörtert.

Zu einer systematischen moralischen Lehre wurde der Probabilismus jedoch erst durch die Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt. Das Problem, das dem Probabilismus zugrunde liegt, ist die auf der Grundlage eines wertabsoluten Denkens in besonderer Weise Schwierigkeiten bereitende Frage nach der Befolgung allgemeiner moralischer Normen im einzelnen Fall und in einer konkreten Situation. Diese Frage wurde für die Jesuiten zu einem ernsten Problem, weil die vorherrschende Tendenz zum -> Nominalismus auch auf moralischem Gebiet den Blick für das Einzelne und Konkrete schärfte. Dazu kam, daß sich mit dem sich entwickelnden Kapitalismus viele neue gesellschaftliche Beziehungen und Verhaltensweisen herausbildeten, die vom Standpunkt der christlichen Moral beurteilt werden mußten. Auch spielte eine große Rolle, daß die Jesuiten als Träger der Gegenreformation in verschiedener Hinsicht eine Handlungsweise zu rechtfertigen hatten, für die es kein Vorbild gab und die zur bisherigen christlichen Tradition auf moralischem Gebiet im Widerspruch stand (z.B. die Erlaubtheit des Tyrannenmordes, der unter den Bedingungen der Herrschaft protestantischer, d.h. ketzerischer Herrscher für die Jesuiten aktuell wurde). Um diese Probleme zu lösen, entwickelten katholische Philosophen (Bartholomäus de Medina, G. Vazquez u. a.) den probabilistischen Grundsatz, daß das Bestehen eines moralischen Gebots nicht immer eindeutig sei und daß unter solchen Umständen auch einer probablen Meinung gefolgt werden darf. Als probabel galten die durch eigene Gründe gestützte Ansicht und weit mehr noch die durch theologische Autoritäten begründeten Auffassungen. In der Praxis führte dieser Grundsatz, den die Jesuiten jedem Rigorismus entgegen als besonders lebensnahe ausgaben, zu einer umfangreich ausgearbeiteten Kasuistik übler Art, in der die verwerflichsten Handlungen als moralisch erlaubt nachgewiesen wurden. Wenn darum in späterer Zeit der Ausdruck «Jesuitenmoral» sehr oft in verächtlicher Weise gebraucht wmrde, so geht dies zurück auf die in der ersten Zeit des Bestehens des Jesuitenordens von seinen Mitgliedern auf probabilistischer Grundlage entwickelten moralischen Lehren. Da das Moralsystem des Probabilismus sehr oft in Konflikt mit den überlieferten christlichen Moralanschauungen geriet, entstand um den Probabilismus ein heftiger Streit, der sich lange hinzog und zum Teil bis in die neuere Zeit reicht. In diesem Streit wurden noch andere Auffassungen entwickelt, die teils als Nebenformen des Probabilismus erscheinen, teils ihm auch entgegentreten:

1. der Laxismus: besteht kein unzweifelhaftes Verbot, darf im eigenen Interesse entschieden werden, wenn überhaupt irgendwelche Gründe angebbar sind (A. Diana, A. Escobar, J. Caramuel) ;

2. der Äquiprobabilismus: von zwei sittlichen Meinungen darf die eine nur dann befolgt werden, wenn sie ebenso probabel ist wie die ihr entgegenstehende (A. von Liguori, Redemptoristen);

3. der Probabiliorismus: von zwei sittlichen Meinungen darf nur die probablere befolgt werden;

4. der Tutiorismus (Rigorismus): es darf nie eine probable Meinung, sondern immer nur eine ganz sichere befolgt werden. Während der Laxismus und der Tutiorismus von der katholischen Kirche verurteilt wurden, sind die anderen zwei Formen in der katholischen Philosophie bis in die Gegenwart verbreitet.

Der Probabilismus wurde nach seiner systematischen Ausbildung im 17. Jahrhundert heftig angegriffen, wobei sich von katholischer Seite vor allem die Jansenisten (-> Jansenismus) hervortaten. Bedeutung erlangten dabei besonders die 1656/57 erschienenen Lettres á un provindal (Briefe gegen die Jesuiten 1907) Pascals, in denen er, wenn auch nicht immer völlig objektiv, so doch im allgemeinen zutreffend, den Probabilismus widerlegte und seine verderblichen Folgen mit bleibender Wirkung bekämpfte. Auch andere Philosophen, vor allem von protestantischer Seite, wandten sich entschieden gegen diese Lehre, So urteilte z.B. kant (IV 860): «Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin notwendig, von allen möglichen Handlungen zu wissen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen, und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d.i. der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen.» Ebenso entschieden wandte sich gegen den Probabilismus Hegel (Philosophie des Rechts § 140), der erkannte, daß diese den Agnostizismus enthaltende Lehre alle moralische Entscheidung der Willkür des Subjekts anheimstellt, was jede Sittlichkeit im Innersten zerstören muß.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 874f

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