Probabilismus [lat]
- 1.. erkenntnistheoretisch
die Ansicht, daß man in der Wissenschaft und Philosophie
nicht zu einer sicheren Erkenntnis gelangen kann, |
sondern sich mit einer mehr oder weniger großen
Wahrscheinlichkeit begnügen müsse; 2. moralische Lehre,
nach der bei Handlungen, die nicht unmittelbar durch
moralische Normen verboten sind, einer hinlänglich probabeln
(wahrscheinlichen) Meinung gefolgt werden darf, selbst wenn
die entgegengesetzte Ansicht probabler ist. Der
Probabilismus taucht bereits im Konfuzianismus und
Buddhismus auf. Er findet sich in der antiken
Philosophie in der Sophistik, bei den Vertretern der
zweiten und dritten Akademie (arkeselaos, karneades,
kleitomachos), bei cicero, und wird später auch bei den
Kirchenvätern der Patristik und in der Scholastik
erörtert.
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Zu einer systematischen moralischen Lehre wurde der
Probabilismus jedoch erst durch die Jesuiten im 17. und
18. Jahrhundert entwickelt. Das Problem, das dem
Probabilismus zugrunde liegt, ist die auf der Grundlage eines
wertabsoluten Denkens in besonderer Weise Schwierigkeiten
bereitende Frage nach der Befolgung allgemeiner moralischer
Normen im einzelnen Fall und in einer konkreten Situation. Diese
Frage wurde für die Jesuiten zu einem ernsten Problem, weil die
vorherrschende Tendenz zum -> Nominalismus auch auf
moralischem Gebiet den Blick für das Einzelne und Konkrete
schärfte. Dazu kam, daß sich mit dem sich entwickelnden
Kapitalismus viele neue gesellschaftliche Beziehungen und
Verhaltensweisen herausbildeten, die vom Standpunkt der
christlichen Moral beurteilt werden mußten. Auch spielte eine
große Rolle, daß die Jesuiten als Träger der Gegenreformation in
verschiedener Hinsicht eine Handlungsweise zu rechtfertigen
hatten, für die es kein Vorbild gab und die zur bisherigen
christlichen Tradition auf moralischem Gebiet im Widerspruch
stand (z.B. die Erlaubtheit des Tyrannenmordes, der unter den
Bedingungen der Herrschaft protestantischer, d.h. ketzerischer
Herrscher für die Jesuiten aktuell wurde). Um diese Probleme zu
lösen, entwickelten katholische
Philosophen (Bartholomäus de
Medina, G. Vazquez
u. a.) den probabilistischen Grundsatz, daß das Bestehen eines
moralischen Gebots nicht immer eindeutig sei und daß unter
solchen Umständen auch einer probablen Meinung gefolgt werden
darf. Als probabel galten die durch eigene Gründe gestützte
Ansicht und weit mehr noch die durch theologische Autoritäten
begründeten Auffassungen. In der Praxis führte dieser Grundsatz,
den die Jesuiten jedem Rigorismus entgegen als besonders
lebensnahe ausgaben, zu einer umfangreich ausgearbeiteten
Kasuistik übler Art, in der die verwerflichsten Handlungen als
moralisch erlaubt nachgewiesen wurden. Wenn darum in späterer
Zeit der Ausdruck «Jesuitenmoral» sehr oft in verächtlicher
Weise gebraucht wmrde, so geht dies zurück auf die in der ersten
Zeit des Bestehens des Jesuitenordens von seinen Mitgliedern auf
probabilistischer Grundlage entwickelten moralischen Lehren. Da
das Moralsystem des Probabilismus sehr oft in Konflikt mit den
überlieferten christlichen Moralanschauungen geriet, entstand um
den Probabilismus ein heftiger Streit, der sich lange hinzog und
zum Teil bis in die neuere Zeit reicht. In diesem Streit wurden
noch andere Auffassungen entwickelt, die teils als Nebenformen
des Probabilismus erscheinen, teils ihm auch entgegentreten:
1. der Laxismus: besteht kein unzweifelhaftes
Verbot, darf im eigenen Interesse entschieden werden, wenn
überhaupt irgendwelche Gründe angebbar sind (A.
Diana, A. Escobar,
J. Caramuel) ;
2. der Äquiprobabilismus: von zwei sittlichen
Meinungen darf die eine nur dann befolgt werden, wenn sie
ebenso probabel ist wie die ihr entgegenstehende (A. von
Liguori, Redemptoristen);
3. der Probabiliorismus: von zwei sittlichen
Meinungen darf nur die probablere befolgt werden;
4. der Tutiorismus (Rigorismus): es darf nie eine
probable Meinung, sondern immer nur eine ganz sichere befolgt
werden. Während der Laxismus und der Tutiorismus von der
katholischen Kirche verurteilt wurden, sind die anderen zwei
Formen in der katholischen Philosophie bis in die Gegenwart
verbreitet.
Der Probabilismus wurde nach seiner systematischen Ausbildung
im 17. Jahrhundert heftig angegriffen, wobei sich von
katholischer Seite vor allem die Jansenisten (->
Jansenismus) hervortaten. Bedeutung erlangten dabei besonders
die 1656/57 erschienenen Lettres á un
provindal (Briefe gegen die Jesuiten 1907) Pascals,
in denen er, wenn auch nicht immer völlig objektiv, so doch im
allgemeinen zutreffend, den Probabilismus widerlegte
und seine verderblichen Folgen mit bleibender Wirkung bekämpfte.
Auch andere Philosophen, vor allem von protestantischer Seite,
wandten sich entschieden gegen diese Lehre, So urteilte z.B.
kant (IV 860): «Ob eine Handlung
überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand,
nicht das Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin notwendig, von
allen möglichen Handlungen zu wissen, ob sie recht oder unrecht
sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß ich
nicht allein urteilen, und meinen, sondern auch gewiß
sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein
Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d.i.
der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine
Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu
unternehmen.» Ebenso entschieden wandte sich gegen den
Probabilismus Hegel (Philosophie des
Rechts § 140), der erkannte, daß diese den Agnostizismus
enthaltende Lehre alle moralische Entscheidung der Willkür des
Subjekts anheimstellt, was jede Sittlichkeit im Innersten
zerstören muß.
Editorische Anmerkungen
Der
Text wurde entnommen aus:
Buhr,
Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 874f
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