Buchbesprechung von "Ein halbes Leben"
in Form eines Interviews

von und mit Yelena Simc und Matze Schmidt

01/11

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Yelena Simc: Wenn wir hier eine Art Live-Rezension machen, dann hat das etwas von einem inszenierten literarischen Duo ... Nichtsdestotrotz bietet diese Form die Moeglichkeit, eben jene Form,  also die des Interviews, nochmal zu beleuchten. Die Frage ist nur, wie tief man in Formfragen "versinken" will, um zu dem zu kommen, was gesagt werden sollte. Ist das nicht auch der Anspruch des Buches, um das es uns hier geht?

Matze Schmidt: Zunaechst muss man sagen, dass dieses Interview  vollstaendig nicht als Gespraech oder Chat, sondern ja an der Computer-Schreibmaschine entsteht. Das macht einen kleinen  Unterschied. Das Authentische der Interviews im Buch _Ein halbes Leben_ liegt in den, wenn auch transkribierten, Mitschnitten, also  audiomaeszig aufgenommenen Gespraechen. Wir beide muessen am Monitor und an der Tastatur nun nicht das eventuell Druckreife der Rede herausstellen, wir muessen das Reden herausarbeiten.

Yelena Simc: Du hast mir vor diesem Tipp-Interview gesagt, dass Dich das Buch darauf gebracht hat, wieder mehr Interviews zu machen. Den Herausgebern des dicken, dicken Bandes, der biografische Zeugnisse  versammelt, erging es ebenso mit dem Buch _Das Elend der Welt_ von  Bourdieu aus den 190er Jahren. Sie wenden das Gespraech, das
Interview als Form ebenfalls an, zur Reflektion ihrer eigenen Arbeit. Jetzt kommt mein Hakenschlag: Ist diese Arbeit der Soziologen mit der Arbeit, die sich als Faktum und Begrifflichkeit im Buch ueber  etwa 760 Seiten erstreckt, ist diese Arbeit gleich der Lohnarbeit, um die es in den Interviews mit Lehrern, Fabrikarbeitern,  Musikerinnen, Arbeiterinnen geht? Welche Distanz geht da vor sich?

Matze Schmidt: Das ist gut, Distanz als Vorgang, und nicht als rein schon vorhandenes, messbares -- . Ja, die Arbeit einer Soziologin ist sicher keine Lohnarbeit. Sie ist, und das dokumentieren die  Herausgeber auch selbst, eine privilegierte Arbeit, also gesellschaftlich bessergestellte Arbeit, die mit Geldern aus Steuern,  das heisst aus dem Topf der Lohnarbeiterinnen und Angestellten, um die es hier wiederum geht, bezahlt wird. Das Interview bietet aber,
glaube ich, zweierlei. Es zielt einerseits darauf, diese Distanz, des  Beobachters und Deuters zum "Objekt" aufzuheben. Es ist also ein wissenschaftliches Subjektivierungsapparaetchen, koennte man sagen.  Andererseits bietet es, die eigene Denke, die ohnehin akademisch ist, zu ueberdenken. Denn waehrend wir beide hier tippen, werden meine kleinen Notizen und Anstreichungen in den Texten des Buchs relativ.  Und das Gespraech nimmt einen Verlauf, den ich als Rezensent zwar fingieren koennte, der aber dann eben nicht faktisch dialogisch ist, sondern fiktiv dialogisch waere. Die Aussage, das Zeugnis, das Gespraech und die Aufzeichnung sind die beiden Grundbedingungen,
natuerlich innerhalb eines Settings. Im Interview, so reflektieren  das auch die Herausgeber Schultheis, Vogel und Gemperle, werden Sachverhalte zur Sprache gebracht, die im Formblatt, im Fragebogen,  im Abfragen nicht oder so nicht aufkommen. Ihre Inspriration dafuer beziehen diese aus dem Verstehensbegriff nach Bourdieu. Was mich aber immer wundert, soetwas.

Yelena Simc: Interview das Mittel und Medium -- was verwundert dabei?

Matze Schmidt: Mich wundert, dass Verstehen, beziehungsweise wundert es mich nicht, dass das Verstehen des Gegenuebers im Gepraech als Technik und Methode und nicht die Verbegrifflichung der Situationen der Arbeiterinnen in der Soziologie ploetzlich so wichtig wurde. Ohne Kenner zu sein wird doch schnell klar, dass die Wissenschaft, in ihrer Zerzettelung der Geisteswissenschaftlichkeiten, den Kontakt zur Klasse der Arbeiter verloren hat, aber ueber sie raesoniert, raesonieren muss. Da das vielleicht ihre Aufgabe ist, als buergerliche  Wissenschaft. Da koennte man Lukács folgen. Nur wurde dann mal klar, nicht nur weil Sozialisten ihre Professorenstellen innehatten, dass  die Begriffe der Soziologie nicht greifen, wenn man nicht oder nicht mehr weiss, wie die Selbstdarstellung des Sozialen aussieht, zu der man eine Lehre verfasst und diskutiert.

Yelena Simc: Aber, dass sich eine Wissenschaft das Verstehen,  genaugenommen die epistemologische, das heisst die auf die Bedingungen von Erkenntnis gerichtete Grundproblematik, aber auch als die  Grundvoraussetzung der Kommunikation, dass dieses sich diese Wissenschaft von der Gesellschaft erst wieder erarbeiten muss, oder  eben erarbeiten will, ist doch signifkant und ein guter Ansatz.

Matze Schmidt: Fragt sich nur, was daran signifikant ist, was daran symptomatisch ist fuer eine Wissenschaft, die abgehoben nun Erdung sucht. Schultheis war damals einer der Autoren in _La misère  du monde_ und hat auch bei Bourdieu habilitiert, sich auf seine Rolle als Professor vorbereitet. Ich meine, man darf den Apparat der  Wissenschaft nicht verkennen. Die Formulierung eines neutralen oder  objektiv-subjektiven, in diesem Wechselverhaeltnis durchdachten Verstaendnisses macht noch keine Abkehr vorm buergerlichen Niveau  der Theorie aus, welches immer davon ausgeht, zu spaet zu kommen.

Yelena Simc: Du kritisierst quasi die Institutionaille. Im Englischen gibt es den Ausdruck righting the wrongs. Ueber Eva Valesh, die als Aktivistin, wuerde man heute sagen, und Gewerkschafterin, soweit ich  weiss, Arbeiterjournalismus betrieben hat, gibt es ein Buch...,

Matze Schmidt: Ich ergaenze mal kurz und schlau: Das Buch heisst _Writing the wrongs: Eva Valesh and the rise of labor journalism_.

Yelena Simc: ... muesste man dem nachgehend eher den Anschluss suchen  an die Arbeiter-Reportagen, bei denen nicht die universitaer Geschulten das Wort erteilen, sondern Arbeiter selbst reden und  formulieren und publizieren? Wenn man herausfinden will, wie es in der gesellschaftlichen Struktur der Industriearbeit und im  Dienstleistungssektor aussieht, ist doch eher an die verschuettete und zurueckgedraengte Selbstaufgabenstellung der Arbeiter, naemlich  ueber sich selbst und ihre Situation zu berichten, anzuknuepfen.

Matze Schmidt: Ja. Ich habe das eben genannte Buch ueber Eva  Valesh noch nicht durchgelesen. Und da liegt auch schon der Mangel. Ich treffe Dozenten, Geisteswissenschaftler, Philosophen, die mir  gestehen was jeder weiss -- . Die gar nicht mehr die Zeit haben, die Texte zu lesen, ueber die gesprochen werde muesste. Der ganze Berg  der Sekundaerliteratur bestimmt scheinbar die Lage und Texte sind nur noch Sample-Material fuer den selbstgefaelligen Akademismus und nicht mehr Erkenntnismedium. Samples koennten ja auch spielerisch  angewendet werden, experimentell. Das wird aber schnell Romanschreiberei und gehoert dann umgehend in die Bestsellerlisten  der Populaerwissenschaft. Aber was ist die Aufgabe einer Rezension? Ist die Aufgabe, das Buch bekannter zu machen? Wer, den es anginge, kauft ausserdem ein Buch fuer knapp 40 Euro? In dem Buch, welches wir  hier bereden, wird das von den Machern auch klar geaeussert, dass sie sozusagen die Arbeit der Journalisten uebernommen haben, also ueber die Arbeitswelt jetzt aktuell zu schreiben, die man so nicht findet  in den Zeitungen. Ich kann das nicht voll beurteilen. Momentan scheint der Fernsehsender arte und die daran haengenden VJs das zu  machen, was man als Berichte ueber Lohnarbeit nennen koennte. Man sieht etwas ueber die moerderischen Bedingungen der Goldgraeber in
Guinea, oder ueber die Ausbeutung in einem 24 Stunden-Spaetkauf,  etwas ueber Konzerne im le monde diplomatique-Stil. Die Bilder aber sind wiederum nicht selbstrepraesentativisch. Das sind nicht  Artikulationen der sogenannten Betroffenen. Die Bilder, die Montage sind der Rahmen innerhalb dessen Arbeiterinnen zu Wort kommen. Sicher ist die Leistung der Gesellschaftsforscher und Gesellschaftstheoretiker, seien sie mit der Kamera oder dem  Diktiergeraet unterwegs, den Zeugnissen eine ueberhaupt mal Rahmung zu geben oder Hintergrundinformationen beizumischen, wichtig. Aber auch das koennte ja von Arbeiterinnen selbst geleistet werden. Da  sich die Teilungen der Arbeit der Gesellschaft aber auch im Buch darstellen wie sie sind -- hier die Theorie, da die Produzentinnen,  hier die Fragenden, da die Erzaehlenden -- kommt den Interviews in diesem Buch hier auf Metaebene, sozusagen als Statement, auch eine aufbrechende Stellung zu, die diese Arbeitsteilung des Wissens  problematisch macht.

Yelena Simc: Doch auf die beruehmte "reflexive Distanz", die von den  Herausgebern zitiert wird, kann man sich doch nicht zurueckziehen, wenn damit gemeint ist, sich als Fragende an die Stelle der Befragten  zu versetzen ohne in ihr aufzugehen. Wenn man das Dialogische, das gemeinsame Reden stark macht, dann ist dieser Abstand zur anderen Person immer wichtig, weil nicht alles Gesagte einfach unbefragt  uebernommen werden kann. Andererseits ist aber klar, dass die Fragende nie die Situation der Befragten einnehmen kann, dadurch aber  auch die Reflektion in der befragten Person in Gang kommen kann.

Matze Schmidt: Wenn die Befragung selbst befragt wird, ja. Wenn nicht, kommt man wieder zu interpretierbarem Material fuer Interpreten, die dann wieder von anderen Interpreten interpretiert werden. Diesen  Regress kann man nicht aufloesen, nur unterbrechen. Man muesste also zweierlei haben. Etwas von dem, das du bereits erwaehnt hast, die
Reportage ohne journalistischen Sensationswillen, folglich den Bericht  der Arbeiterin selber, und die Befragung dieses Berichts. Das kann man nicht alleine leisten. Auch das Buch- beziehungsweise Autorenteam war  wohl sehr gross und half sich in der Selbstkritik. Von der Soziologie kann man aber vielleicht nicht mehr erwarten, denn die Form des
Gespraechs zu nutzen, um das Gesagte wieder in den eigenen  disziplinierten Diskussionszusammenhang zu stellen. Dass alle Autorinnen oder Expertinnen ihrer eigenen Sache waeren, ist zur Zeit  nicht einloesbar. Warum das so ist, auch daruer gibt das Buch, vielleicht auf einer weiteren Metaebene oder versteckt Hinweise.

Yelena Simc: Ja, die Konfrontation Arbeit und Kapital bleibt da  merklich unbedacht, ist aber letztlich praesent. Auf Seite 35 gibt es einen Druckfehler, "Es faellt der Mittelstand" haette offenbar lauten  muessen "Es fehlt der Mittelstand", darauf erkennt die Lagerarbeiterin, das ist ihr Befund. Der Mittelstand schrumpft, muss  aber zugleich die massenhafte Stuetze des Kapitals bleiben.

Matze Schmidt: Ja, wenn es sich wirklich um ein instruktives Buch  handelt, ein lehrreiches, gemeint wie eine Zustandsbeschreibung, fallen -- wenn wir schon beim Fallen und Fehlen sind -- dann fallen  die Berichte von dem ab, was das bildungsmaechtige Kleinbuergertum mit Doktortitel will. Denn dieses will, wie z.B. Frigga Haug, morgens
in Ruhe vier Stunden schreiben und dann den Winter auf La Palma  verbringen. Es ist schon auf einer anderen Seite. Die Interviews wurden zwar mit Apothekerinnen, Postbeamten, Software-Entwicklern und  LKW-Fahrern und auch Rechtsanwaelten, gefuehrt, aber nicht mit Akademikerinnen im Hochschulbetrieb. Die sogenannte Generation Praktikum, die Volontaere an den Unis haetten da sicher einiges zu  sagen.

Yelena Simc: Ja, das steht hier nicht drin. Aber diese Angriffe finde ich auf Dauer etwas unproduktiv, da sie beim Vorwurf der Diskreditierung bleiben. Zum Aufstieg im Betrieb, der sich als  permanenter Fall darstellt ist ja doch einiges herauslesbar im Buch. Die Arbeitsverhaeltnisse bespielsweise der Lagerarbeiterin sind gut  beschrieben, da sie zeigen, wie der Druck steigt, wie Mehrarbeit und Lohnkuerzung im Zusammenhang stehen.

Matze Schmidt: Aber nur punktuell. Der Zusammenhang der brutalen  Lohndrueckerei wird nur fuer den einzelnen Betrieb, die Branche angerissen.

Yelena Simc: Muesste man sagen: das halbe Leben, das da zur Sprache  kommt, sagt nicht, dass dieses Leben eben halbiert wurde, dass Lebenszeit, naemlich im Verkauf der Arbeitskraft, gestohlen wird vom  Kapital?

Matze Schmidt: Klingt wie eine Phrase, waere aber der Zusammenhang, den ich hier vermisse. Die Musikerin sagt irgendwo etwas vom Oekonomischen. Das Oekonomische zwinge einen, so und so zu handeln,  zwinge einen vereinzelt wiederum seine genuin oekonomischen Interessen zu vertreten. An einer anderen Stelle sagt sie, dass
ihr Tun wie Arbeit sei. Sie erkennt, dass sie, Kennerin von Musik  und Produzentin von Erkenntnissen ueber Musik, diese nur warenfoermig verbreiten kann. Diese Illusion, das eigene Tun sei doch bisher vielleicht nicht Arbeit gegen Geld gewesen und es sei besser, wenn es nicht Arbeit gegen Geld waere, ist die Artikulation,  dass es auch anders sein koennte. Doch es ist auch die Einsicht, es kann unter den hier noch unbestimmten Voraussetzungen nicht anders
sein. Eine Desillusionierung an der eigenen Person und das Manko  von Wissen ueber die eigene Stellung, ja Stellung als Posten hinaus.

Yelena Simc: Also wenn diese individuellen Geschichten dazu dienen, die eigene Klasse an den Tag zu legen, wie es im Interview mit der Bankerin bezogen auf ihren elitaeren Habitus gemeint war,  ihr sicheres Auftreten, ihren Stil, ist das fruchtbar.

Matze Schmidt: Sicher, nur wie die BBC sagt, "stories behind the headlines"..., diese Geschichten hinter der Kulisse der Sensation, finden eben immer erst hinter den Titelzeilen statt. Sie kommen  zeitlich und strukturell immer erst danach, werden von der Verkuerzung bedingt. Alle Hoffnungen, demokratisierte Autorenschaften  eines Internet wuerden das aufheben, sind vorbei, weil sich die sozialen Netzwerke moeglicherweise polyphon und wie im Fall  Wikipedia koordiniert geben, dennoch die Verfassheit von Einzelwesen in der Arbeitswelt nicht ausraeumen koennen. Da hilft wohl auch kein kultureller Kapitalbegriff weiter.

Yelena Simc: Man sieht, die organisatorischen "Tools" sind da, aber  die Organisation fehlt.

Matze Schmidt: Solange solche Texte im Netz, und zwar ohne Micropayment, nicht zugaenglich sind, wird die Soziologie weiter ihre Verstehensprobleme alleine waelzen. Man sollte auch an dieser  Stelle die vielleicht mittlerweile klischeehafte Frage stellen, warum das Buch nicht auch zum Download angeboten wird, unentgeltlich!  Ob Vermittlungsversuche, zum Beispiel per Theater, wie fuer _La misère du monde_ geschehen, noch dazu mit Musik von Bach, jemanden erreichen, mag dahingestellt sein. Wenn Rimini Protokoll uebernimmt und die Rede  ueber Verwertung inszeniert, muss das kein schlechter Ansatz sein. Ich sehe da aber leider nur das schlechte Gewissen der "wissenden Klasse", die damit ihre eigene Klasse gerade nicht bewusst an den Tag legen  will und sich stattdessen selbst die Ehre gibt.

Yelena Simc: Indem sie aesthetisches Zeug aus Realexistierendem baut?

Matze Schmidt: Ja, das ist immer noch die Frage der Repraesentation.  Dass Theater sich in seinem Unbehagen dennoch gewissermassen outet, zeigt zugleich die herrschende Hilfslosigkeit, welche Zweifel und  Trauer, aber nicht Programm in Szene setzt. Schau, die sich klassenlos waehnt und doch Angestelltenlevel besitzt.

Yelena Simc: Bands wie Egotronic leisten das wahrscheinlich auch  nicht, eine Repraesentation der Verhaeltnisse.

Matze Schmidt: Ich denke, diese Bands und Banden dokumentieren ihr  Unbehagen, kokettieren mit Kommunismus, Sozialismus, koennen aber ihren sozialen Abstand zur Lohnarbeit, zur Produktion nicht  kritikabel zeigen. Man bastelt dokumentarisch, Agitation ist unmoeglich oder sofort wider ein roter Stern.

Yelena Simc: Obwohl sie doch ebenso prekaer leben -- das allerdings  unter ganz anderen Bedingungen, ungleichzusetzen mit der Fabrik. Wird nicht auch im "halben Leben" Prekaritaet zu einer neuartigen  Herrschaftsform erklaert? Darin folgen Franz Schultheis und die anderen wiederum Pierre Bourdieu, der diese neue Unsicherheit im
Band _Gegenfeuer_, auch unter anderen von Schultheis herausgegeben,  so fuer diesen "neuen Geist des Kapitalismus" -- ein anderes Zitat, diesmal von Luc Boltanski -- definiert. Es tauchen Begrifflichkeiten  auf wie "kognitive Dissonanz", fuer gegen die Ausbeutung widerstaendige Verhaltensweisen, und noch einmal jetzt, der Anspruch
der Autoren, "bottom up" zu agieren. Ich sehe darin einige  Widerspruechlichkeiten. Oder ist es einfach nur der Jargon, der manifestiert, wie geschichtslos und kontextlos die Sicht aufs Soziale  seitens der Soziologen ist? Der angeblich neue Geist, der neo-liberal heisst, kann doch sehr einfach als der alte identifiziert  werden, da Kapitalien immer um die Maiximierung von Profit bemueht sein mussten und muessen, ganz wie vor hundert Jahren auch. Zwar  kann man sagen, dass die Nachkriegszeit einen, selbstverstaendlich falschen Klassenkompromiss zeitigte und damit Kapitalismus irgendwie, zumindest im Westen, humaner aussah, das aber eine Analyse,  orientiert an einer Ethik darstellt. Wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen mit steigenden Loehnen und stetig gesteigerter Produktivitaet auch verbesserten, so sind doch die Grundbedigungen, die Konditionen der Produktionsweise keine anderen geworden, nur weil es eine Phase des vermeintlich allgemeinen Wohlstands gab.

Matze Schmidt: Und auch die Sicht des ideologischen "Geistes", des neuen, ist bereits problematisch, da die Triebe im System nicht allein Bewusstheitsgrad besitzen, so als waere das alles nur der boese  Wille arroganter Multis, haette man frueher gesagt, oder die Zerstoerungswut und der Technologiewahn transnationaler  Unternehmen. So, als koenne die kapitalistische Welt doch auch wieder gerecht sein.

Yelena Simc: Da schwingt einiges an Nostalgie mit. Die geradezu  ueberbildhafte Vorstellung, es gaebe eine Flugbahn des Individuums durch die Verhaeltnisse, die man nachvollziehen koenne, klingt wie  eine poetisierte quantitative Wissenschaftsmethodik, die nun qualitativ geworden ist, und der nichts anders bleibt als  deskriptiv fast-romantisch zu reden.

Matze Schmidt: Diese von-unten-Haltung finde ich aber auch symphatisch, da sie zumindest zeigt wie anti-kapitalistisch man sein moechte. Das ist meines erachtens als Signal zu werten, wie  weit man innerhalb einer gesellschaftlichen Positionierung auf der sozilogischen Seite bereit sein koennte zu gehen.

Yelena Simc: Gut, da koennte man diesen Satz mal auseinandernehmen,  um zu sehen, wie was getarnt oder verzerrt wird. Ich zitiere die Herausgeber aus ihrer Einfuehrung, die Herleitung und ihres Credo  und seine ethologische Bestimmung, wenn man so will -- es geht nochmal um das Verstehen oder die Verstehensleistung der Soziologie:
"Nachvollzug der Gruende ihres 'Andersseins'," das bedeutet der anderen Person, die nicht Soziologie betreibt, demnach lohnarbeitet, "angelegt im Ensemble der mit ihrem im Sozialraum eingenommenen Ort  und der dort hinfuehrenden Flugbahn verknuepften gesellschaftlichen Bedingungen und Bestimmungen." Die Autoren sehen darin einen Akt der Solidaritaet.

Matze Schmidt: Genaugenommen sehen sie darin eine (Zitat): "Quelle  gesellschaftlicher Solidaritaet". Das ist vom Akt zu unterscheiden. Mehr als Studien kann Wissenschaft auf diese Weise wohl ersteinmal  nicht bereitstellen.

Yelena Simc: Aber die Bedingungen und Bestimmungen als Ensemble erinnert an den staedteplanerischen Gestus in der Sprache der Historiker, der Kunsthistoriker. Ein objektives Zusammenspiel von  Kraeften wird mehr als unbestimmt gelassen und wie ein neutrales Zusammenwirken gedacht, wobei das Wort Gesamtheit vermieden bleibt. Das wirkt abstrakt und tut keinem weh. Die portraetartigen oder selbstprotraetartigen Interviews sind da etwas krasser.  
Klassenanalyse ist das aber sicher noch nicht.

Matze Schmidt: Sehe ich aehnlich. Bleiben noch die bibliografischen  Angaben:
 

Ein halbes Leben
Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch
herausgegeben von Franz Schultheis,  Berthold Vogel und Michael Gemperle

ist erschienen bei der UVK Verlagsgesellschaft in Konstanz und kostet 39,90 deutsche Euro. Es enthaelt 37 Interviews mit Lohn- beziehungsweise Gehaltabhaengigen  aus Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Auf der Webseite des Universitaetsverlags Konstanz  gibt es eine Leseprobe und einen Link zu einer vollstaendigen aber kostenpflichtigen Onlineversion.

 

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel von den AutorInnen.