Notwendige Anmerkungen
zum Artikel von Peter Nowak (Trend 11-09), Wider die Anarchisten der Bourgeoisie,  dessen verzerrte und falsche Aussagen man im Rahmen einer redlichen Auseinandersetzung nicht so stehen lassen kann:

von Sergio Lopez

01/10

trend
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1.
Zunächst einmal könnte man eine sorgfältige Lektüre des kommentierten Artikels, in diesem Fall des Interviews mit René zum Thema „Anarchismus in Venezuela“ in der „Direkten Aktion“ erwarten. Dieses Kriterium ist hier offensichtlich nicht erfüllt, da Peter Nowak fortlaufend von einer Zeitschrift und einer anarchistischen Gruppe namens „Liberio“ spricht, die es nun definitiv in Venezuela nicht gibt. Vermutlich meint er die Zeitschrift „El Libertario“.

2.
Dann setzt er gleich zu Anfang Behauptungen in die Welt, die auch zeigen, dass er keine Ahnung hat, was wo in Venezuela, in diesem Fall in Caracas, geschieht:

a) Er behauptet, die Anarchisten dieser Gruppe „finden sich in den Vierteln der Reichen in klimatisierten Einkaufszentren.“ Tatsache ist, dass der zentrale Treffpunkt dieser Gruppe in Caracas sich im Barrio Sarría befindet und ein weiterer in Las Acacias, in der Nähe des Fuerte Tiuna, auch nicht gerade ein wohlhabendes Stadtviertel, und definitiv nicht klimatisiert.
b) Er behauptet weiterhin: „Hier spricht die Stimme der Kinder jener venezolanischen Oberschicht, die seit 1999 zunehmend zurückgedrängt wurden“. Er hat dabei vielleicht übersehen, dass der besagte René, mit dem das Interview geführt wurde, zu den Gründern der Zeitschrift im Jahre 1995 gehört; inzwischen sind 15 Jahre vergangen und er gehört wohl sicher nicht mehr zur studentischen Bevölkerung des Landes, wenn er denn 1995 eventuell noch dazu gehörte. Die uns bekannten Aktivisten der Gruppe stehen in der einen oder anderen Weise im Berufsleben, u.a. als Journalisten, Rechtsanwälte für Menschenrechte etc.

3.
Zum Verhältnis Arbeiterklasse-Bolivarismus:

a) Das Verhältnis zu den Arbeiterforderungen nach Tarifverträgen
Seit Anfang 2009 gibt es eine Reihe von ernsthaften Konflikten in verschiedenen, auch staatlichen bzw. überwiegend staatlichen Betrieben in Venezuela, vor allem im Erdölsektor (PDVSA), im Eisen-, Stahl- und Aluminium -Sektor, aber auch in staatlichen Dienstleistungssektoren wie bei der Metro (U-Bahn) in Caracas. Hauptursache dieser Konflikte ist, vor dem Hintergrund sinkender Erdöleinnahmen und einer Inflation von ca. 30% jeweils in den Jahren 2008 und 2009, die Tatsache, dass der Staat den seit langem fälligen Abschluss neuer „contratos colectivos“ (Branchenspezifischer Tarifverträge) immer wieder hinauszögert. Die alten sind zum Teil seit Jahren abgelaufen. Dazu kommen aber auch noch Konflikte in der privaten Autoindustrie, wo z.B. im Frühjahr bei Mitsubishi im Bundesstaat Anzoategui, durch Intervention der Polizei, zwei Arbeiter erschossen wurden.
Hier ein Beispiel unter mehreren für die Reaktion des Regierungschefs anlässlich des Konfliktes mit den Metro Arbeitern um ihre Tarifverträge im Frühjahr 2009:
Chavez: ”Wenn sie in der Metro streiken, dann setz ich das Militär ein… Meint Ihr denn, ich würde den Müttern in den Armenvierteln das Geld streichen oder der Medizinischen Grundversorgung dort, um es einigen Gewerkschaften zuzustecken?“ (Zitat 1)
Im Sozialismus sind Arbeiterkämpfe eben überflüssig, das wissen wir doch schon seit langem, nur dort haben sie es anscheinend noch nicht ganz verstanden. Wenn der Staat der Eigentümer ist, dann ist doch alles paletti! Oder??.
Dieser Unwissenheit muss man dann notfalls mit der Knute ein Ende machen. Wie war das noch 1953 in Ostberlin, kann sich jemand daran erinnern? Oder hab ich da schon wieder eine Gedächtnislücke, waren es nicht doch alles geldgierige Reaktionäre, die da auf der Stalin-Allee demonstrierten??.+

b) Der. wahre Sozialismus in den „Consejos Comunales“:
Wenn man die Geschichte Venezuelas etwas längerfristig betrachtet, dann erkennt man unschwer hinter der von oben angeordneten Gründung der „Consejos Comunales“ das Gespenst des seit 1958 wohlbekannten Klientelismus der jeweils herrschenden Parteien in den Armenvierteln, wobei die jeweiligen Anhänger dort auch entsprechend ihrem Einsatz oder Status belohnt werden müssen, sei es mit Hemden und Mützen oder mit kleinen Pöstchen. Damals, nach dem Sturz der Diktatur von Perez Jimenez, waren es die Adecos (die Sozialdemokraten) und die Copeyanos (die Christdemokraten), die in den Barrios ihre „Juntas vecinales“ oder „Asociaciones de Vecinos“ einrichteten. Der Chavismus hat es mit mehreren Varianten versucht, angefangen mit den „Círculos Bolivarianos“, gefolgt 2004 von den „Unidades de Batalla Electoral“ bzw. „Patrullas Electorales“, die zunächst für den Wahlkampf 2004 gegündet wurden und kurz darauf in „Unidades de Batalla Endogenas Sociales“, umbenannt wurden, um dann, nach der Gründung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas und den Aufrufen zur Gründung verschiedener Barrio-Milizen mit den „Consejos Comunales“ ergänzt zu werden. Aber auch diese haben gerade im November 2009 durch das Parlament wieder eine veränderte Funktionszuweisung erhalten.
Dennoch verlor das Chavez-Lager, trotz dieser intensiven Klientelpflege, bei den letzten Regionalwahlen im Dezember 2008 u. a. das Oberbürgermeisteramt in Caracas; und da das nicht sein darf, wurde eben schnell durch einsamen Präsidentenbeschluss das „Ober-Oberbürgermeisteramt“ geschaffen, das dann, nur durch ein Fingerschnippen des obersten Amtsinhabers, von einer ihm genehmen Person besetzt wurde. Jaqueline Faría, die Auserwählte, erklärt dies so gegenüber fragenden Journalisten: „Der Finger Chavez` ist der Fingerzeig des Volkes, seine Finger wollen das Beste für Caracas“ (Zitat2). Das betrifft dann selbstverständlich auch die Consejos Comunales und ihren Aktionsradius und ihre Aufgaben als Parallelinstitution.

4.Versuch einer vorläufigen Bilanz
Bei der Interpretation der Abläufe und Ergebnisse dieser 10 Jahre „Revolution“ lassen sich zweifellos Verbesserungen, insbesondere eine Erhöhung der Kaufkraft bis Mitte 2008 feststellen, dank der nie da gewesenen Erdöleinnahmen jener Jahre zwischen 2004 und 2008, die sich für die Masse der Bevölkerung vor allem in Form von Almosen durch Subventionierung der Lebensmittel- und Benzinpreise konkretisieren.
Allerdings sollte man unterscheiden lernen zwischen den pompösen Ankündigungen, wie etwa in einem Infoblatt der bolivarischen Botschaft in Berlin, das vermeldet, dass nach 10 Jahren Revolution und neuer Landreform endlich 24% (!) des konsumierten Gemüses im eigenen Lande hergestellt wird, den häufig frisierten Statistiken, und der gleichzeitig sträflichen realen Vernachlässigung der gesamten Infrastruktur, welche sich gerade in einer dramatischen Krise in der Elektrizitäts- und Wasserversorgung manifestiert.
Diese Geschichte als revolutionären Prozess zu verkaufen, ohne anzumerken, dass die Bevölkerung, Arbeiter, Bauern oder Indigene, sich weder das Land oder andere Produktions- und Lebensmittel real angeeignet haben und real darüber verfügen können, ist schon etwas einäugig, zumal die Verbesserungen, soweit sie wahrnehmbar waren, von oben verordnet waren und nun, da eine Phase der Mangelwirtschaft begonnen hat, genauso widerrufen werden. An der mangelnden Verfügungsgewalt von Seiten der Produzenten (und Konsumenten) wird nicht gerüttelt, im Gegenteil: der Weg führt, nun auch bei den „Consejos Comunales“, vom „Poder Popular“ zum „Poder Público“. So werden z.B. die „cooperativas de Administración del Banco Comunal“ aufgelöst und eine neue administrativ-staatliche Institution geschaffen, die sich dann darum kümmert, dass die verfügbaren Finanzmittel für die consejos comunales verteilt werden. Diese machen übrigens etwa 5% der Haushaltsmittel 2010 aus.
In der augenblicklichen Lage, so formuliert es Alí Rodriguez, Ex-Guerillero und bis vor kurzem Finanz- und Wirtschaftsminister, ”en el socialismo se tiene que plantear un gasto con austeridad”, was so viel bedeutet wie: Sozialismus ist Mangelwirtschaft in einer vom Staat voll kontrollierten Arbeits- und Verteilungsgesellschaft.
Somit unterscheidet sich der Sozialismus des 21. Jahrhunderts vielleicht doch gar nicht so sehr von dem uns bekannten Modell des 20.Jahrhunderts.?

Das wichtigste Unternehmen des Landes, die staatliche Erdöl fördernde und verkaufende PDVSA, steht außer jeder realen Kontrolle seitens des Parlaments und natürlich noch weniger seitens der dort beschäftigten Lohnarbeiter und deren outgesourceter Kollegen („tercerizados“). Die alten und neuen Verstaatlichungen haben nicht zum systematischen Abbau der Ausbeutung, aber zur verstärkten Abhängigkeit von der Willkür einiger Bürokraten bis hin zur nie in Frage gestellten absoluten Eigenentscheidungsmacht des Staatsoberhauptes geführt. Dass der marode, gerade neu verstaatlichte Stahlbetrieb Sidor weiter betrieben wird, ist darüberhinaus wegen der ökologischen und gesundheitlichen Konsequenzen für die dort atmenden Lungen der schuftenden Arbeiter schlicht und einfach ein mörderisches Unterfangen.

Der Alltag des Großteils der Bevölkerung ist geprägt von der Angst vor der unbegrenzt um sich greifenden Kriminalität (die auch polizeiliche Gangs einschließt), von der Qual, mit mageren Einkünften einfach über die Runde kommen zu müssen, von den Bemühungen, einzelne Lebensmittel, z. B. Zucker, Kaffee oder Klopapier zeitweilig nur auf dem Schwarzmarkt kaufen zu können. Dazu kommen die täglichen, häufig unangemeldeten Stromausfälle, die zur Zeit das Aufbewahren von Lebensmitteln bei tropischen Temperaturen erschweren und das Leben der in Venezuela lebenden Menschen insgesamt erheblich belasten, wobei ihnen zusätzlich nahe gelegt wird, nicht länger als drei Minuten pro Tag zu duschen.
Aber der Präsident wird es schon richten: So verkündet er in seinem wöchentlichen Radioprogramm „Aló Presidente“ vom 6. Dez.09: „Wir haben es geschafft, dass es ein bisschen über dem Guri-Staudamm regnet… Wir haben da einige Flugzeuge eingesetzt, die die Wolken bombardieren. Ja, das stimmt wirklich. Ja, und das versuchen wir jeden Tag, das machen unsere Hercules-Flugzeuge mit zivilen und militärischen venezolanischen Piloten, und auch mit Kubanern. Jeden Tag schauen sie sich die Wolken an". (Zitat 3).
Leider hat es nicht wirklich was gebracht, es ist eben Trockenzeit, bis etwa Mitte Mai, und das weiß man eigentlich schon, sagen wir, spätestens seit Alexander von Humboldts Aufenthalt vor Ort.

5.Zur Beurteilung (Verurteilung) der Anarchisten von der Gruppe „El Libertario“ durch Peter Nowak
Dem „Libertario“ wird vorgeworfen, dass er in der Auseinandersetzung zwischen „Chavismo“ und „bürgerlicher Opposition“ nicht für den ersteren Partei ergreift. Doch „El Libertario“ bemüht sich eben gerade darum, anstelle eines grundsätzlichen Antagonismus zwischen beiden Strömungen, die Verwandtschaft und die historische Kontinuität der vermeintlichen Todfeinde zu betonen, und zwar aus der Perspektive der unteren Schichten der Gesellschaft, verbunden mit dem Wunsch nach einer wirklichen sozialen Emanzipation. Es geht für sie nicht darum, sich zwischen traditioneller oligarchischer und neuer bolivarischer Bourgeoisie zu entscheiden. Diosdado Cabello, einer der Köpfe der neuen Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas kann man als Protagonisten dieser mit und durch Chavez aufgestiegenen neuen, in Venezuela Boliburguesía genannten Schicht von Personen, die nun die Entscheidungsgewalt über die Verteilung der Erdölrente erobert und sich damit auf vielerlei Weise bereichert haben, betrachten.
Für die Gruppe um El Libertario geht es darum, einen eigenen Standpunkt, der an der sozialen Emanzipation als Dreh- und Angelpunkt des Denkens und Handelns festhält, herauszuarbeiten. Das ist ihr verdienstvoller Beitrag zur Konstitution einer radikalen Bewegung, deren Grundvoraussetzung die Autonomie gegenüber den reaktionären liberalen und den reformistischen staatsfixierten Flügeln der Bourgeoisie ist.

PS. Nowak hat Recht: „El Libertario“ wird nicht auf derselben Seite der Barrikade wie er stehen. Wir auch nicht, und das ist gut so!

Ursprünglicher Wortlaut der zitierten Textstellen:
Zitat 1: Chavez und die Metro-Arbeiter
Ellos iban a parar el metro" y advirtió que si lo paraban, lo militarizaba. Según su punto de vista, "bajo presión" unos sindicalistas lograron que la junta directiva del Metro firmara un convenio insostenible, el cual él rechazó. Es así que en el mes de marzo los dirigentes sindicales del Metro de Caracas accedieron a una "reforma regresiva" del contrato firmado y homologado a finales de 2008 renunciando a ciertas cláusulas favorables a ellos: "Ustedes piensan que yo les voy a sacar el dinero a las Madres del Barrio o a la Misión Barrio Adentro para dárselo a unos sindicatos”? (El Universal, 19-04-2009)
Zitat 2: Los dedos de Chavez son los dedos del pueblo, sus dedos quieren lo mejor para Caracas (El Universal, 17-04-2009)
Zitat 3: En su programa dominical Aló Presidente indicó que "hace poco logramos que lloviera un poco allá en Guri. Sobre la represa estaba lloviendo y más arriba. Tenemos unos aviones bombardeando nubes, ¿no?, ¿saben eso, verdad? Bueno, y estamos en eso todos los días. Todos los días. Están aquí montados en nuestros aviones Hércules y los pilotos militares y civiles venezolanos y cubanos todos los días están viendo las nubes". (El Universal, 08-12-2009)
 

Editorische Anmerkungen

Die Stellungnahme e´rhielten wir vom Autor.