Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Der rechtsextreme Front National verspürt erstmals seit längerem wieder Auftrieb
Nach oben geschwemmt durch die ideologische Regierungskampagne zur „nationalen Identität“

01/10

trend
onlinezeitung

Die so genannte Debatte über die „Nationalidentität“, die durch die französische Regierung losgetreten wurde, hat derartige Ausmaße angenommen (rund 4.000 neue Artikel zuM Thema pro Woche in Google-Actualités), dass es im ersten Anlauf kaum noch zu überblicken. Hingegen steht fest, dass das gesamte ideologische Gesumms darum herum dem rechtsextremen Front National (FN) mächtig genutzt hat: Gestartet bei sechs Prozent - im Oktober o9 - in den Vorwahlumfragen vor den Regionalparlamentswahlen in ganz Frankreich vom März 2010, steht er inzwischen bei 10 Prozent. Jean-Marie Le Pen sprach am Sonntag, den 13. Dezember 2009 davon, dass die Debatte um die „nationale Identität“ eine Wendung nehme, die Wasser auf die Mühlen seiner Partei lenke.

Erstmals seit längerem steht der rechtsextreme Front National (FN) derzeit wieder im Zentrum vieler politischer Gespräche. Viele Beobachter sagen ihm derzeit ein Comeback voraus, und sehen ihn insbesondere bei den nächsten französischen Regionalparlamentswahlen in einigen Regionen des Landes als Zünglein an der Waage auftreten.

Diese Wahlen finden am 14. und 21. März 2010 in allen Landesteilen Frankreichs, also den 21 Regionen auf dem europäischen Festland, auf Korsika und in vier „Überseegebieten“, statt. Um ihre Kandidatur im zweiten Wahlgang - der Stichwahl - aufrecht erhalten zu können, muss eine Liste mindestens 10 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten haben. Das französische Wahlrecht war im Vorfeld der letzten französischen Regionalparlamentswahlen vom März 2004 in diesem Sinne abgeändert worden, unter anderem um dem FN den Einzug vielerorts erschweren. Nachdem die rechtsextreme Partei in den letzten Jahren in eine Krise geriet und zudem seit 2007 sinkende Wahlergebnisse verzeichnete (Parlamentswahl im Juni 2007: nur noch 4,3 % im landesweiten Durchschnitt, Europaparlamentswahl 2009: landesweit 6,3 %), schienen ihre Aussichten auf Präsenz in der Stichwahl tatsächlich in den meisten Regionen sehr gering geworden zu sein.

Und dann dies: Anfang November dieses Jahres stieg der Stimmenanteil, der dem FN in Vorwahlumfragen - die ihn oft unterschätzen - vorhergesagt wird, sprungartig von 6 auf 9 Prozent im frankreichweiten Durchschnitt an. Seitdem hält die Partei sich von Woche zu Woche auf einem Niveau zwischen acht und neun Prozent. Seine Anwesenheit in der Stichwahl wird derzeit für mehrere Regionen erwartet oder jedenfalls für gut möglich gehalten: in Provence-Alpes-Côte d’Azur (um Marseille), Rhône-Alpes (um Lyon) und in Nord-Pas de Calais (um Lille) gilt sie als wahrscheinlich, in den Regionen Champagne-Ardennen, Elsass und Lothringen als möglich.

Was war passiert, dass der für den FN prognostizierte Anteil so schnell steil nach oben ging? Dessen Anwachsen muss im Kontext der durch Teile der französischen Regierung lancierten Debatte über die „nationale Identität“ betrachtet werden. Am 25. Oktober 2009 rief Frankreichs Minister „für Einwanderung und nationale Identität“, Eric Besson, eine staatsoffizielle Diskussion zum Thema - mit Veranstaltungen in den Präfekturen und einer durch sein Ministerium eingerichteten Webpage (http://www.debatidentitenationale.fr/) - für die Dauer von drei Monaten aus. Sie soll bis Ende Januar 1o dauern, und im Februar 1o soll ihr die Veröffentlichung „zusammenfassender Ergebnisse“ folgen. Auch ein von Minister Eric Besson herausgegebenes Buch dazu, was „Französischsein heute“ bedeutet, soll erscheinen. 72 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen halten die „Debatte“ allerdings, im Vorfeld der Regionalparlamentswahlen, für ein „politisches Manöver“. (Inzwischen hat der zuständige Minister Besson auf diesen Vorwurf reagiert, indem er anordnete, die Debatten rund um die „nationale Identität“ sollten „das gesamte Jahr 2010 hindurch andauern“.)

Bei der regierungsoffiziellen Diskussion um die „Nationalidentität“ geht es dabei nicht oder nicht unmittelbar darum, dass die Anwesenheit von Einwanderern per se ein Problem darstelle; vielmehr handelt es sich um eine Art französischer Ausgabe der deutschen „Leitkultur“debatte von Anfang des Jahrzehnts. Also darum, einen Wertekanon zu definieren, der auch für Zuwanderer verbindlich zu sein habe. Doch spätestens seit dem Schweizer Referendum vom 29. November 2009 hat sich die Debatte in breiten Kreisen auf das „Problem Islam“ und den Umgang mit ihm zugespitzt - wobei die Kampagne zeitweilig auch durch Präsident Sarkozy angefeuert wurde, der in den ersten Dezembertagen von Minaretten als einer „Verunstaltung der Landschaft“ sprach und dies mit der „Identität unseres Landes“ in Verbindung brachte. Ein Teil des konservativen Lagers versucht, ebenso wie die extreme Rechte in allen ihren Fraktionen und Schattierungen, auf der Welle des Schweizer Abstimmungsergebnisses zu „surfen“. Auf der durch die Regierung eingerichteten Webpage werden immer häufiger rassistische und gesetzwidrige Sprüche verzeichnet, die - trotz Moderation - nur teilweise gelöscht werden. In der ersten Dezemberwoche wurde bei einer durch die Behörden organisierten Debatte über „Nationalidentität“ in Verdun auch ein Bürgermeister der konservativen Regierungspartei UMP - der allerdings nur einer kleine Dorfgemeinde leitet - bei offen rassistischen Sprüchen (es gebe „schon zehn Millionen“ Einwanderer, die alle „nicht arbeiten“ und „uns aufzufressen“ drohten) ertappt.

Seitdem hat ein Teil der bürgerlichen Rechten versucht, die Risiken der Debatte zu verringern, die bislang weitaus eher für die extreme Rechte als für das konservativ-liberale Lager Unterstützung liefert. Anders als die Bürgerlichen zögert nämlich die extreme Rechte - in ihren sämtlichen Ausprägungen - nicht, offen die Anwesenheit von Einwanderern als solche zur Gefährdung der „nationalen Identität“ zu erheben. Marine Le Pen forderte etwa im französischen Fernsehen, um selbige „Identität“ zu befördern, die Wiedereinführung des reinen Ius sanguinis (Blutrechts) - statt des in Frankreich teilweise geltenden Ius soli (Bodenrechts) - im Staatsangehörigkeitsrecht und das Verbot von Doppelstaatsbürgerschaft.

Bislang ist es dem FN weitgehend gelungen, sich in der Öffentlichkeit derart lautstark zu Wort zu melden, dass er die Regierungsdebatte übertönt und dadurch viel Beachtung findet. Anderthalb Tage nach der Einrichtung der Regierungs-Website zur „nationalen Identität“ - die am 2. November o9 freigeschaltet wurde - hatte der Front National auch schon seine eigene Seite (http://www.identitenationale.net/) on-line geschaltet.

Auch in der regionalen Presse kann die rechtsextreme Partei jedenfalls zum Teil offen in die Debatte um „nationale Identität“ eingreifen - beispielsweise in der Regionalzeitung L’Union in Reims, wo der örtliche FN-Funktionär Thierry Maillard (ein Ultraradikaler vom „nationalrevolutionären“ Flügel, der von 1978 bis 1990 gewalttätige Neonazigruppen wie Oeuvre française geleitet hatte) die Gelegenheit nutzte, um im Zusammenhang mit der vorgeblich bedrohten nationalen Identität gegen die „Immigration-Invasion“ zu wettern. Nur wo es gar zu obskur findet, dürfte der FN die Gelegenheit verpassen, sich in die Debatte einzuklinken, wie beispielsweise in der Bretagne. Dort kommentierte die Webpage des FN im Bezirk Morbihan (Westbretagne) eine Rüge der UN für das Schweizer Abstimmungsergebnis mit den Worten: „Die Freimaurer und die ihnen innewohnenden satanischen Kräfte ereifern sich“. Hingegen dürfte es der FN mit einem smarteren Vorgängen, wie es bei seiner „Cheftochter“ und wahrscheinlichen künftigen Parteichefin - ab kommendem Jahr - Marine Le Pen oft zu beobachten ist, eher Chancen haben, vom aktuellen Klima zu profitieren.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.