Dichtung und Segregation (Auszüge)
In der Erfolgsliteratur der Bildungsschicht herrscht eine konstruierte Wirklichkeit vor – bei Ausschluss der Flüchtlinge


von Birgit v. Criegern

01/10

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Nervende wiederkehrende Elemente in der Gegenwartsliteratur habe ich seit geraumer Zeit verzeichnet und konsequent am Stoff und an gesellschaftlichen Beobachtungen eine These entwickelt. Auslöser für diese Abhandlung ist nicht zuletzt die überbordende gesellschaftliche Debatte zu "Parallelgesellschaften". Über dieses Gespenst alleine, dessen Beschwörung mit einer Anschuldigung an "die bildungsfernen Schichten" einhergeht, wäre zwar nicht viel zu erläutern. Im Gegenteil werden Abgrenzungen vielmehr von einigen "bildungsnahen" Personen in der Politik vollzogen.

Dass PolitikerInnen (u. a. Sarrazin) in 2009 zunehmend rassistisch vom Leder zogen bzw. wie die FDP wieder den Mythos von "integrationsunwilligen MigrantInnen" bemühten, sorgte wesentlich für einen Vorstoß zur deutschen Volksgemeinschaft, die sich gegen Flüchtlinge abgrenzt. Und was ist mit denen, die der Bildungsschicht zugehören und nicht Politik machen? Die Gegenwartsliteratur aus der gesellschaftlichen Mitte legt einiges von deren Horizont und Denkhaltung dar. Wenn viele konservative ZeitungsschreiberInnen darüber rätseln, warum sich "die Musliminnen", "die migrantischen Jugendlichen", "die Asylbewerber" nicht an das deutsche virtuelle und politische Bürgerideal anpassen, ist vergeblich darauf zu warten, dass ihnen prominente literarische Personen ins Wort fallen: Was heißt hier "die Asylbewerber", "die Musliminnen"? Was soll das Salbadern in Objektbezeichnungen? Wer spricht wie über wen, wenn nicht miteinander?

Wie konnte es nur so weit kommen mit dieser unförmigen deutschen Parallelgesellschaft, die von etlichen MigrantInnen "Einbürgerungstests" zu moralistisch angetragenen Themen wie Zwangsheiraten oder der Sichtweise auf Religionen und Säkularismus verlangt, teils mit mitgeliefertem Kauderwelsch (so verlangte eine Behörde von MigrantInnen persönliche Stellungnahmen zum "Kreuzungstod Christi", wie Pro Asyl in 2008 berichtete)?

Die Kultur der Bildungsschicht hebt sich nicht sonderlich ab von der Perspektive der Medien. In einzelnen Fällen zeigten sich hoch ausgezeichnete Autoren wie Josef Winkler (Büchnerpreisträger 2008) über migrantische Themen rassistisch. Und insgesamt werden maßgebliche gesellschaftsbildende Prozesse wie Interkulturalität, migrantische Geschichtsschreibungen in Europa und Deutschland und die aktuelle Flüchtlingswirklichkeit ausgeblendet.

Unabhängig von der Gewissheit, wie viele von den (rund) 90 000 jährlichen Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt auch wirklich gelesen werden – eben die zur Repräsentation hochgefeierten Werke ergeben zusammen einen Konsens, der sich auch darin behauptet, dass manche Leitkultur-Büchlein schon heute auf Schulbänke gelegt und die Köpfe der Jugendlichen mit ihnen drangsaliert werden. Das ist der Fall, wenn sich AutorInnen für gesellschaftlich exemplarische Personen geben, anstatt "Beispielhaftes" umzustoßen oder in Frage zu stellen. Etliche AutorInnen möchten zugleich Autoritäten sein (das ist hier so etwas wie eine Vergröberungsform von "Autor"). Sie möchten an der politischen Ordnung mitschreiben. Aber das Schweigen dieses Milieus über bestimmte Themen spricht die dicken Bände, die eigentlich erst lesenswert wären. Also geht es nach meiner Auffassung, natürlich, auch um Segregation dieses kulturellen Milieus, das insgesamt auch psychologische Ausgrenzungsverfahren darlegt.

Einerseits gab und gibt es involvierte kritische zeitgenössische AutorInnen wie z. B. Sevgi Emine Özdamar, May Ayim, Yoko Tawada, Sheila Mysorekar. Sie stellen die deutsche "leberwurstgraue" (Ayim) Realität in Frage, erschüttern das deutsche gesellschaftliche Selbstverständnis in Sprech- und Denkweisen. Ayim prangerte beispielsweise in 1990 die Verlogenheit einer deutsch-deutschen "(sch)einheit" an, bei der vom Alltagsrassismus geschwiegen wurde ("Grenzenlos und unverschämt" in May Ayim, "Blues in Schwarz-Weiß", Orlanda-Verlag 2005). Die Dichtungen von Ayim, der Mitbegründerin der Initiative Schwarze Deutsche, die 1996 zu früh starb, sind immer noch aktuell. Mit antirassistischem Widerstand in Geschichte und Alltag befasst sich auch die Journalistin und Autorin Sheila Mysorekar ("Widerstand. Poesie des Überlebens" in: Re/Visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Hrsg. Kien-Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar, Unrast-Verlag 2007). Sie zeigt teils satirisch, dass genetische Zuordnungen nur heillos konservativ-verstockt oder eben rassistisch daherkommen, wann immer dadurch versucht wird, die/ den Anderen damit festzuschreiben. Hingegen müsse die eigene familiäre, kulturelle und persönliche Geschichte gegen deutsche Weiße Denkkategorien eingesetzt werden. (Sheila Mysorekar, "Guess my Genes. Von Mischlingen, MiMis und Multiracials", in: Re/visionen.). Mit diesen Werken wird an einem überfälligen gesellschaftlichen Fortschritt gearbeitet, bei dem maßgeblich auch koloniale Sprech- und Schreibweise abzutragen sind und die Sichtumkehr (wer spricht über wen, wer definiert und objektiviert wen?) im Normativen vorgeführt und durchgesetzt werden muss. Was haben die langjährigen Literatureinrichtungen der akademischen Bildungsschicht davon eigentlich mitbekommen?

Nicht viel. AutorInnen wie der konservative Katholik Martin Mosebach (Büchnerpreisträger 2007) mit seinen bewölkt-biederen Betrachtungen ( "Der Mond und das Mädchen," Hanser-Verlag 2007) schrieben gegen schon gemachte Erfahrungen von Interkulturalität an! Das verriet eine Bildungslücke. In so einer bürgerlich gefeierten Bildungslücke gähnt die Kluft zwischen den Kulturen, die dann "Parallelgesellschaften" für die Politik wie auf Wunsch zu bringen scheint. Na gut, es darf nicht ernsthaft erwartet werden, dass AutorInnen z. B. der "Kanak Attak"-Strömung in das kulturell eigenwillige Blickfeld der Büchner-Preis-JurorInnen geraten, die sich derzeit sehr österreichverliebt zeigen. Aber was für ein seltsamer Pluralismus, wenn letztere das Werk der ersteren negieren und über den Haufen schreiben lassen!

Strukturelle Absurditäten, deutscher Alltagsrassismus und gesellschaftliche Entwicklungen kommen einfach nicht zur Sprache in dem, wofür sich die Bildungsinstitutionen (Darmstädter Akademie, Akademie der Künste Berlin, Literarisches Colloquium Berlin) und die großen Verlage interessieren. Die Literatur der Nachwendezeit (immer abgesehen von den linken und libertären Verlagen und Randmedien) hat einen merkwürdig zeitlosen Touch. Insoweit als gesellschaftliche Dinge erörtert werden, handelt es sich meist um deutsch-deutsche Weiße Identität, also Ost-West- Kontroversen oder Nachkriegsgeschichte (Maxim Biller, "Deutschbuch", Julia Franck, "Mittagsfrau"). Im Verhältnis dazu begegnen die genannten antirassistischen AutorInnen selten in den Feuilletons der Mainstream-Gesellschaft und werden mehr dem migrantischen Literaturspektrum zugeordnet bzw. in linken Verlagen und Kulturforen vorgestellt.

1. Eurozentrismus und die üblichen Rollenzuweisungen

In wenigen Werken haben gefeierte AutorInnen versucht, täppisch und staatskonform Bezug auf die Tatsache des migrantischen Europa zu nehmen. Wie z. B. Martin Mosebach, der in 2007 den Georg-Büchner-Preis erhielt.

In Mosebachs preisgekröntem Roman wurde der Protagonist Hans, erfolgreicher Frankfurter Bankkarrierist, vorgestellt, der sich zu Begegnungen mit seiner migrantischen Nachbarschaft im Bahnhofsviertel herbeilässt. Mit ihnen begibt er sich ins Gespräch, sitzt auch mal in der Runde unter dem Abendhimmel vor einem gemeinsam entzündeten Hoffeuer. Im Zentrum der Novelle "Der Mond und das Mädchen" steht allerdings mehr das eheliche Heck-Meck des empfindsamen Hans, der erstmals nach seiner Heirat von der Mutter wegzog und sich viel mit Fragen über Treue und Sittlichkeit herumplagt (symbolträchtig verliert er beim Fremdgang mit einer anderen Frau den Ehering). Das Szenario von der jungen Ehe im Bahnhofsviertel mit den migrantischen NachbarInnen ergibt letztlich eine sehr traditionelle bürgerliche Weiße Bedeutungs-Ökonomie. Die MigrantInnen der Umgebung, darunter Dealer und Prostituierte, dienen zum typisierten Hintergrund für die individuellen Lebens- und Gedankenabläufe der Weißen deutschen Hauptfigur.

Seine Begegnung mit den marokkanischen und syrischen NachbarInnen ist für Hans Anlass, über europäische Kultur zu räsonnieren, wobei er zwar in Gedanken einerseits der Islamophobie eine Absage erteilt, andererseits auch einen Untergang Europas erwägt, das dabei schon mit dem Phönizierreich verglichen werden muss. Den kulturpessimistischen Part liefert dabei Hans` deutscher Nachbar und philosophischer Gesprächspartner Wittekind. Was die geschilderten migrantischen NachbarInnen zu erzählen haben, zeigt hingegen einen Mangel an Philosophie, an Reflektiertheit: Sie kommen im schwierigen Alltag ständig ins Straucheln und ihre Rede geht von weltlichen Dingen wie Sex, Geld und Geschäften. Fixiertheit auf Geld ist z. B. eine zentrale Eigenschaft der Nachbarin Mahmouni: "(...) Zu teuer. Ich bin mit Geschäften großgeworden. Ich habe immer auf den Preis geachtet. Man darf sich nicht zu gut sein, den Preis nachzuprüfen( usw.)" (S. 112) Das wird an anderer Stelle ergänzt von der Nähe zu devianten und heruntergekommenen Existenzen: "Mein erster Mann war ein Lump, Trinker, Wetter auf Hunderennen, hatte ein jahrelanges Verhältnis zu seiner eigenen Tochter," führt besagte Frau Mahmouni selbst aus (S. 38). Auf Gewinn fixiert ist auch der Hausmeister Souad, der wenig intellektuell, vielmehr sehr emotional, "neugierig", "mit wehmütiger Treuherzigkeit", einmal auch wie ein "tobsüchtiger Frosch" beschrieben wird. Und: "Er will nicht bei den Verlierern sein" ( ein Erkenntnisgewinn Wittekinds) - das soll den Background seiner Einwanderungsgeschichte erklären. Eine Menge journalistischer Sätze (in Anklang an Magazine wie den Spiegel) und Klischees, die das Fehlen von interkulturellen Erfahrungen des Autors verraten. Offenbar war ihm der Stoff von ordnungspolitischen Debatten mitdiktiert, als er seinen Roman, ein Jahr nach der Einführung der "Einbürgerungstests" (2006) vorlegte - und dann doch deutlich eine spätkoloniale objektgerichtete Perspektive auf die Anders Wahrgenommenen fortzeichnete - diese werden auch mal rassistisch über Körpermerkmale wie die "braunen Tieraugen - man sah fast nichts Weißes bei ihnen" des Souad (S. 80) erfaßt.

Eine altmodisch, eurozentristisch sinnierende Geschichte, ein Glanzstück in den Augen der JurorInnen der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung!

In 2008 sollte es noch schlimmer kommen. Dann sollte der Autor Josef Winkler (dessen Freund und Förderer war Martin Walser) für sein Büchlein „Natura Morta“ (Suhrkamp-Verlag 2001) den Büchner-Preis erhalten. Das Lob der Medien, der Literatur-Patriarchen und der Literaturgazetten für sein Werk war überschwänglich. Einzig die "Welt" (ausgerechnet die!) wandte sich gegen die Preisverleihung und erklärte Winkler für "rückgewandt". Doch auch diese Zeitung fand nichts an den Rassifizierungen in Winklers Roman auszusetzen und kam nicht darauf zu sprechen.

Zugegeben, manches, etwa die sprachliche Absonderlichkeit des Romans, ist Geschmackssache: ein staksender Aufzählungsstil mit aneinandergereihten Partizip-Aktiv-Konstruktionen in fast-endlos-Sätzen. (Auch die Sprache erntete viel Lob.) Geschmackssache auch der Stoff: Es ist eine Novelle vom sechzehnjährigen Fischverkäufer Piccoletto in Rom, der auf der belebten Piazza Vittorio Emanuele als Gehilfe eines Fischhändlers arbeitet. Am Ende der Erzählung wird der Junge Piccoletto – beim Pizzaholen! - von einem Feuerwehrauto erfasst und stirbt. Den Hauptteil des kleinen Romans bestreitet die Schilderung von Sachen und von Menschen alsSachen: Verkaufsstand drängt sich an Stand, neben Touristen und Geistlichen tummeln sich migrantische Händler und BettlerInnen, Dealer und Stricher. Arme wühlen in den Abfällen der Obst -, Fleisch - und Fischverkäufer und ergattern Überbleibsel in den unterschiedlichsten Verfallszuständen. Es gibt Geflügelkäfige, Innereien, Tierbeine sowie Früchte zu sehen.

Die Darmstädter Akademie war beeindruckt - die Gegenstands-Aufzählung hatte offenbar den Zeitgeist gepackt. Es war vom "prallen Leben" in der Schilderung die Rede. Ein Rezensent meinte, dass "die abgründige Vielfalt des Marktgeschehens" gemalt würde, und lobte die "Tiefenschärfe des Szenariums". Doch wo tun sich diese Abgründe eigentlich auf, wenn Fleisch gehackt oder der Eidotter "glucksend" von der Eierverkäuferin in ein Glas befördert wird? "Ein sehr sinnliches Buch", befand der unvermeidliche Literaturkommentator Reich-Ranicki. Eben nicht, möchte mensch erwidern. Denn bei dem Schwenk des Autors mit Kamera-Auge über Menschenmasse und Dinge sind jegliche fühlenden oder denkenden Komponenten ausgetilgt. Ein anderes bleibt etwa Walter Benjamins Schilderung von einem italienischen Marktplatz, die beschriebene betäubte Gier des Erzählers nach Feigen, das Überessen daran und der anschließende Überdruss von den Früchten, wenn ihr Geruch dem ganzen Körper anhaftet ("Essen" in: "Angelus Novus II", Suhrkamp 1988). Aber die simple Aufzählung von Dingen verrät weniger Sinnlichkeit als vielmehr optische Rastlosigkeit des Konsumenten, der von Lidl-Regalen angeödet auf die Suche nach mehr Eindrücken schweift. Somit handelt es sich auch weniger um eine Er-zählung als um eine Aufzählung. Kollernde Granatäpfel, blutende Hühner und geschwenkte Plastikschnuller führten zu Begeisterungsausbrüchen der KulturvertreterInnen von der Akademie der Künste (die schon 2001 den Döblin-Preis für dies vergab) zu den Feuilletons von FAZ bis "Literaturen". In linken Medien wie Jungle World und Freitag lobte eine Rezensentin das Werk, das gar als sozialkritisch betrachtet wurde.

Doch Winkler hatte es auch einem allgemeinen Abendland-Empfinden angetan, diese "caravaggieske Genauigkeit" (Berliner Akademie der Künste) einerseits, dieses "Beschwören vergilischer Vorzeit" (FAZ) andrerseits! Alles auf einmal? Ja, denn das war ein weiterer eurozentristischer Wurf, zu dem die Medien begeistert den Roman im Stil eines Einkaufszettels verarbeiteten. Die Bereitschaft dazu war offenbar a priori dagewesen.

Rassistisch kommt "Natura Morta" daher, weil hier durchweg das N.-Wort und das Z.- Wort angewendet werden. Das schien ins bürgerliche Selbstverständnis zu passen, wurde es doch von keiner Seite angeprangert. Keine Kultureinrichtung, -zeitung oder bekanntere Person fand ich, die diese Tatsache angesprochen und problematisiert hätte! In der Zeitschrift für antirassistische Kultur "Die Brücke" (April 2009) schrieb ich selbst eine Abhandlung zum Thema.

Neokoloniale und/ oder herrschaftsideologische Sprechweisen in der Gegenwartsliteratur zu untersuchen, ist eine bis jetzt noch nicht wahrgenommene Aufgabe der Genderwissenschaft. Auch auf diesem Gebiet ergäbe sich die Notwendigkeit verbindlicher Kritik.

Die Verwendung des N.- und des Z.- Wortes durch den Weißen Autor Winkler ist Ausdruck einer neokolonialen Perspektive. Natürlich sollen diese Bezeichnungen, die schon fast erfolgreich aus dem neuen Sprachgebrauch unserer Gesellschaft getilgt worden waren, hier Befremden stiften. Die rückgewandte koloniale Sicht und Abgrenzung gegen migrantische Personen wird somit wiederbefestigt. So werden migrantische Personen in ihren bunten Gewändern, bei diversen Geschäftigkeiten, dem Stillen von Kindern oder dem Wühlen in Abfällen, aufgezählt. Merklich soll das zu einem gewollten Exotismus im Roman beisteuern, was nur eine rassistische und lebensferne Einstellung verrät. Noch ehe das Befremden vor dem Anderen in der europäischen Gesellschaft überwunden war, wird es hier zur Quasi-Ästhetik gemacht und wieder eingeführt. Offenbar bedeutete Winklers bürgerliche Zote mit dem N.-Wort und dem Z.-Wort, welche wieder das Objekt der Anderen Minderheiten trifft und Weiße vorherrschende Schichten in ihrer Majorität bestärkt, eine bürgerliche Wunscherfüllung und ein Entgegenkommen für die Kulturauffassung alternder Weißer Deutscher wie der Förderers Martin Walser.

Die Verdinglichung des Menschen und die Objektverliebtheit im neoliberalen Zeitalter erhält in Winklers Schundroman allerdings eine konsequente (unreflektierte) Wiedergabe. Zugegebenermaßen werden auch manche europäischen Figuren dinghaft beschrieben wie "der Neapolitaner", dessen Arme "mit Schlangenlinien und Pfeilen tätowiert" sind, aber da erlegt sich der Erzähler mehr Zurückhaltung auf als bei der körperlichen Sicht auf migrantische ProtagonistInnen, wo es auch mal um eiterverklebte Lider und dergleichen geht.

Es bedeutet kurz eine Peinlichkeit für die Kultur der gesellschaftlichen Mitte, dass Winkler für dieses Buch in 2008 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Ein Jahr darauf, im August 2009, publizierte die Psychologin und Genderwissenschaftlerin Grada Kilomba in dem Magazin "Nah und Fern" ihren Essay über das N.-Wort. Es ist klar, dass heute die einzige gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung bei den bürgerlich kaum gekannten Foren der Genderwissenschaft und der linken antirassistischen Literatur verbleibt.

Noch einmal so bedeutsam wie das schriftstellerische Wirken zeigt sich also das feuilletonistische und das kulturinstitutionelle, das Lob oder Tadel austeilt oder Stillschweigen praktiziert.

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3. Status: Erkenntnis erst nach Erfolgstätigkeit

Im Gegensatz zu den oben ausgeführten peinlichen Werken taucht das Thema migrantischer Realität in anderen Werken eben ganz einfach nicht auf. Mit der Auswahl des Dargestellten oder eben nicht Dargestellen in der deutschen Erfolgsliteratur ergibt sich eine Sichtweise, die sehr zur politischen Ordnung paßt.

Zum Beispiel mit dem beharrlich begegnenden Element Statusdenken. Damit verlagert sich die gemachte eurozentristische Denkkategorie auf die ebenso gemachte Denkkategorie des westlichen hegemonialen Produktionsprozesses. So gehört es zwar zu dieser Literatur motivisch hinzu, dass u. a. viel gereist wird, der Urlaub in Spanien, in England verbracht oder gejobbt wird, auch in die USA wird hereinschnuppert. Dabei wird jedoch immer die eigene Schicht im Auge behalten. In der Popliteratur sind es die jungunternehmerischen oder studentischen Ich-ErzählerInnen, die von festgefügten Strukturen eines Status herschreiben. Oder etwa die Hauptfiguren wie der Bankangestellte Hans in Mosebachs "Der Mond und das Mädchen", der Leipziger Rhetorikprofessor in Michael Roes`Buch "Die fünf Farben Schwarz", oder in Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem Kontinent" der deutsche Aussteiger und Chef einer Firma für drahtlose Netzwerke in USA, sind Sieger in der globalen Hierarchie. Sie sind Erfolgstypen, die zunächst mal über ihren Status eingeführt und als Denkende, Fühlende etabliert werden. Dann mühen sie sich exemplarisch mit einer Sache, etwa dem wirtschaftlichen Crash, als einem philosophischen und gar menschheitlichen Problem.

Letztlich zeigen AutorInnen damit, dass sie nicht alle Register kennen, auf denen dem Menschen heute mitgespielt wird. Ihre Figuren vollziehen Jobstrategien gemäß der Empfehlung von EU-Kommission und der Berater-Trusts, die uns heute sagen, wo`s langgeht. Zugleich sind die Dunkelziffern papierloser ArbeiterInnen und die offen erklärten Dumpinglohn-Strategien in den weltweiten hegemonialen Produktionsprozeß fest eingeplant. (...) Gedankengänge der zartbesaiteten geschilderten ProtagonistInnen beziehen sich jedoch nie auf die Herkunft der Billigbaumwolle auf ihren Körpern, erfreuen sich nur am Anblick der Farben.

Geistigen Sichtblenden in solchen Darstellungen mag natürlich nicht immer bewusstes Abrücken von anderen Schichten zugrunde liegen. Andersherum: Wozu lesen, wenn das Geschriebene als "Literatur" nicht Abhandengekommenes bewußt macht, sondern nur die Koordinaten des täglichen unsäglichen Infotainments fortführt? Das Wesen der Entfremdung erfaßte Erich Fromm u. a. in der „“Routinisierung und (…) Verdrängung der Grundprobleme menschlicher Existenz aus dem Bewußtsein“. Weiter heißt es da: „Wir berühren hier ein universales Problem des Lebens. Der Mensch muss sich sein tägliches Brot verdienen, und das ist stets eine Aufgabe, die ihn mehr oder weniger in Anspruch nimmt. ...Aber der Mensch kann nur zur Erfüllung seiner selbst gelangen, wenn er mit den Grundgegebenheiten seiner Existenz in Berührung bleibt.“ (Erich Fromm, „Wege aus einer kranken Gesellschaft“, S. 141, Ullstein 1980)

Verstetigter Konformismus im Schreiben bringt Unwirklichkeit mit sich, wenn nicht mehr über Themen geschrieben wird, die nicht auch im Tagesschau- Trailer anklingen.

Es ist allein schon der stringente Erzählstil, oft ein erstaunlich durchgehaltener Realismus, der über der wahren Erfahrungsverdichtung der Zeit scheitern muss. "Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muss er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft" (Theodor W. Adorno, "Über den Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman", in "Noten zur Literatur 1", S. 64, Suhrkamp).

Bruchloses Erzählen als Stil (in einer unkohärenten und neoliberal zerstückelten Lebenswelt mit verhackstückten verwertbar gemachten Biographien) scheint dem sturen Wachstum monotoner westlicher Bungalow-Architekturen in den letzten kulturell gewachsenen Landschaften der Welt zu entsprechen. Welche Disziplin gehört dazu, solche Eintönigkeit zu ertragen! Und wozu auch?

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5. "Macht, Gewalt, Erinnerung"- der Ostblock

Läßt Mangel an Lebenserfahrung die zeitgenössische deutsche Literatur verarmen, sucht der Betroffenheits-Kanon der etablierten Bildungsschicht sich seine RepräsentantInnen für wirkliche Existenznöte. Nöte interessieren ja, aber nicht die im Deutschland mit elenden "Gemeinschaftsunterkünften" für 80- 100 000 Flüchtlinge, im Europa der Abschiebungen. Als das Literarische Colloquium in Berlin in 2008 eine Lesung zum Thema "Macht, Gewalt, Erinnerung" veranstaltete, ging es um die Erfahrung von Arkadi Babtschenko ("Die Farbe des Krieges") als russischer Soldat in Tschetschenien und um György Dragomans Kindheitsschilderung vom totalitären Regime Nicolae Ceausescus in Rumänien ("Der weiße König") – fraglos wichtige Themen, die jedoch nicht die geringste Kritik an dem deutschen System aufkommen ließen, das u. a. rumänische Roma und Sinti ausweist. Vielmehr gibt sich die deutsche Kulturelite als Feld des freien Wortes schlechthin. Aus diesem Zusammenhang kann der Gefühls-Hype um die Nobelpreisträgerin für Literatur Herta Müller ("Atemschaukel") nicht ausgeblendet bleiben. Ihre Beschreibung von einem ukrainischen sowjetischen Zwangsarbeitslager ist zweifellos mit Wahrhaftigem ausgefüllt. Der "Hungerengel" (Müller in "Atemschaukel") und die Gewalt sind für Müller, die unter Ceaucescus Regime lebte, gewiss so bekannt und ernsthaft durchlitten, wie sie von deutschen Journalistinnen und Rezensenten larmoyant beklagt werden. Bloßes Klagen, sicher nicht Müllers Sache, macht jedes Tun im Heute überflüssig. Das hat der Rezensent vom "Tagesspiegel" in seiner Abhandlung mit rudernden und doch treffenden Worten gezeigt: " Man schämt sich zunächst, von all dem nichts gewusst zu haben, und ist zugleich mehr als heilfroh, dass man selbst so etwas nicht erleben musste, was sich zusammen ein wenig anfühlt, als habe man sich vor etwas gedrückt und geniere sich jetzt dafür." Heilfroh möge mensch sich genieren! Und an diesem Buch zu der Lektion kommen: "Denn furchtbarerweise ist es ja auch banal, wenn einer Hunger hat. Oder Angst. Oder friert(…) Dies ist ein ganz einfaches Buch. Nichts Vertracktes kommt hinein, kein Psychologisieren, auch nicht, wenn es von der schwachsinnigen Planton-Kati heißt: `An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun.` Kein Urteilen, das sich nicht von selbst ergäbe. Wenn etwas kompliziert ist, dann so: Stehlen ist stehlen, aber was ist dann stehlen aus Hunger? Wenn’s aber die eigene Frau ist, der man die Suppe weglöffelt?" (Tagesspiegel)

Andererseits erscheint es der deutschen Ordnungspolitik nur banal, wenn Flüchtlinge in Abschiebeknästen Angst haben. Oder frieren. Oder Suizide begehen. Und bitte nur keine falschen Illusionen in dieser Kultur sentimentaler deutscher KulturverehrerInnen: Stehlen oder Schwarzfahren als letzte Überlebens-Strategien Entrechteter dieses Systems, z. B. "geduldeter" MigrantInnen, würden heute und hier bei Entdeckung von einer reibungslos funktionierenden Abschiebungs-Maschinerie geahndet werden ( indessen achten "Geduldete", auf schiere Überlebenskämpfe Reduzierte das Gesetz hierzulande mehr als StaatsbürgerInnen und politisch führende SteuerhinterzieherInnen, und von der Korrektheit der Outcasts und der Freizügigkeit der Privilegierten müßte erst der Roman geschrieben werden). Dieses Kulturmilieu, das im Inland nur tödliche Langeweile zu kennen scheint, lädt sich an den wahren Existenzkämpfen von AutorInnen aus anderen Diktaturen auf und gestaltet die Welt noch zwanzig Jahre post festum nach altem Muster, verschiebt das Leiden auf die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs. Dieses, das Leiden wird damit letztlich historisiert. Müller selbst, die auch mit anderen Romanen ihr Können bewies, verfügt über wirkliche Erfahrung, ihre RezensentInnen zeigen, wohin sie diese gelenkt wissen wollen. Wenn sie so etwas wie die Universalität des Leidens anklingen lassen, wissen wir, dass diese Universalität an der Schwelle des Kulturinstituts abbricht.

So zeigt sich, dass frühere stalinistische Diktaturen den deutschen Kulturinstitutionen auch jetzt noch unentbehrlich sind. Zugleich gibt es ganz bestimmt auch begabte AutorInnen, die heute über Stacheldrähte vor deutschen Abschiebeknästen und Polizeikontrollen von MigrantInnen auf den hiesigen Bahnhöfen schreiben, aber sie werden in den bürgerlichen Konsens und in die großen Verlagsprogramme nicht durchdringen, werden das programmatisch Unverfängliche, das von den Akademien und Verlagen festgezurrt wird, nicht erschüttern. Die selektive Wahrnehmung der Bildungsschicht macht auch kuriose Widersprüche möglich, so dass der Dichter Rafik Schami, der hin und wieder die syrische Diktatur aufs Korn nimmt ("Erzähler der Nacht"), begeisterten Zuspruch von vielen LeserInnen erfährt, während sich kein Widerstand aus der gesellschaftlichen Mitte gegen das deutsch-syrische Abschiebeabkommen dieses Jahres regte. Dies blieb linken Gruppen und migrantischen Initiativen überlassen.

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Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns von der Autorin für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt. Dabei handelt es sich um Auszüge einer längeren Abhandlung, mit denen sie ihre Kernthesen zur Diskussion stellen will.