Nervende wiederkehrende Elemente in der Gegenwartsliteratur
habe ich seit geraumer Zeit verzeichnet und konsequent am
Stoff und an gesellschaftlichen Beobachtungen eine These
entwickelt. Auslöser für diese Abhandlung ist nicht zuletzt
die überbordende gesellschaftliche Debatte zu
"Parallelgesellschaften". Über dieses Gespenst alleine, dessen
Beschwörung mit einer Anschuldigung an "die bildungsfernen
Schichten" einhergeht, wäre zwar nicht viel zu erläutern. Im
Gegenteil werden Abgrenzungen vielmehr von einigen
"bildungsnahen" Personen in der Politik vollzogen.
Dass
PolitikerInnen (u. a. Sarrazin) in 2009 zunehmend rassistisch
vom Leder zogen bzw. wie die FDP wieder den Mythos von
"integrationsunwilligen MigrantInnen" bemühten, sorgte
wesentlich für einen Vorstoß zur deutschen Volksgemeinschaft,
die sich gegen Flüchtlinge abgrenzt. Und was ist mit denen, die
der Bildungsschicht zugehören und nicht Politik machen? Die
Gegenwartsliteratur aus der gesellschaftlichen Mitte legt
einiges von deren Horizont und Denkhaltung dar. Wenn viele
konservative ZeitungsschreiberInnen darüber rätseln, warum sich
"die Musliminnen", "die migrantischen Jugendlichen", "die
Asylbewerber" nicht an das deutsche virtuelle und politische
Bürgerideal anpassen, ist vergeblich darauf zu warten, dass
ihnen prominente literarische Personen ins Wort fallen: Was
heißt hier "die Asylbewerber", "die Musliminnen"? Was soll das
Salbadern in Objektbezeichnungen? Wer spricht wie über wen, wenn
nicht miteinander?
Wie
konnte es nur so weit kommen mit dieser unförmigen deutschen
Parallelgesellschaft, die von etlichen MigrantInnen
"Einbürgerungstests" zu moralistisch angetragenen Themen wie
Zwangsheiraten oder der Sichtweise auf Religionen und
Säkularismus verlangt, teils mit mitgeliefertem Kauderwelsch (so
verlangte eine Behörde von MigrantInnen persönliche
Stellungnahmen zum "Kreuzungstod Christi", wie Pro Asyl in 2008
berichtete)?
Die
Kultur der Bildungsschicht hebt sich nicht sonderlich ab von der
Perspektive der Medien. In einzelnen Fällen zeigten sich hoch
ausgezeichnete Autoren wie Josef Winkler (Büchnerpreisträger
2008) über migrantische Themen rassistisch. Und insgesamt werden
maßgebliche gesellschaftsbildende Prozesse wie
Interkulturalität, migrantische Geschichtsschreibungen in Europa
und Deutschland und die aktuelle Flüchtlingswirklichkeit
ausgeblendet.
Unabhängig von der Gewissheit, wie viele von den (rund) 90 000
jährlichen Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt auch
wirklich gelesen werden – eben die zur Repräsentation
hochgefeierten Werke ergeben zusammen einen Konsens, der sich
auch darin behauptet, dass manche Leitkultur-Büchlein schon
heute auf Schulbänke gelegt und die Köpfe der Jugendlichen mit
ihnen drangsaliert werden. Das ist der Fall, wenn sich
AutorInnen für gesellschaftlich exemplarische Personen geben,
anstatt "Beispielhaftes" umzustoßen oder in Frage zu stellen.
Etliche AutorInnen möchten zugleich Autoritäten sein (das ist
hier so etwas wie eine Vergröberungsform von "Autor"). Sie
möchten an der politischen Ordnung mitschreiben. Aber das
Schweigen dieses Milieus über bestimmte Themen spricht die
dicken Bände, die eigentlich erst lesenswert wären. Also geht es
nach meiner Auffassung, natürlich, auch um Segregation dieses
kulturellen Milieus, das insgesamt auch psychologische
Ausgrenzungsverfahren darlegt.
Einerseits gab und gibt es involvierte kritische zeitgenössische
AutorInnen wie z. B. Sevgi Emine Özdamar, May Ayim, Yoko Tawada,
Sheila Mysorekar. Sie stellen die deutsche "leberwurstgraue"
(Ayim) Realität in Frage, erschüttern das deutsche
gesellschaftliche Selbstverständnis in Sprech- und Denkweisen.
Ayim prangerte beispielsweise in 1990 die Verlogenheit einer
deutsch-deutschen "(sch)einheit" an, bei der vom
Alltagsrassismus geschwiegen wurde ("Grenzenlos und unverschämt"
in May Ayim, "Blues in Schwarz-Weiß", Orlanda-Verlag 2005). Die
Dichtungen von Ayim, der Mitbegründerin der Initiative Schwarze
Deutsche, die 1996 zu früh starb, sind immer noch aktuell. Mit
antirassistischem Widerstand in Geschichte und Alltag befasst
sich auch die Journalistin und Autorin Sheila Mysorekar
("Widerstand. Poesie des Überlebens" in: Re/Visionen.
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus,
Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Hrsg. Kien-Nghi Ha,
Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar, Unrast-Verlag 2007).
Sie zeigt teils satirisch, dass genetische Zuordnungen nur
heillos konservativ-verstockt oder eben rassistisch daherkommen,
wann immer dadurch versucht wird, die/ den Anderen damit
festzuschreiben. Hingegen müsse die eigene familiäre, kulturelle
und persönliche Geschichte gegen deutsche Weiße Denkkategorien
eingesetzt werden. (Sheila Mysorekar, "Guess my Genes. Von
Mischlingen, MiMis und Multiracials", in: Re/visionen.). Mit
diesen Werken wird an einem überfälligen gesellschaftlichen
Fortschritt gearbeitet, bei dem maßgeblich auch koloniale
Sprech- und Schreibweise abzutragen sind und die Sichtumkehr
(wer spricht über wen, wer definiert und objektiviert wen?) im
Normativen vorgeführt und durchgesetzt werden muss. Was haben
die langjährigen Literatureinrichtungen der akademischen
Bildungsschicht davon eigentlich mitbekommen?
Nicht
viel. AutorInnen wie der konservative Katholik Martin Mosebach
(Büchnerpreisträger 2007) mit seinen bewölkt-biederen
Betrachtungen ( "Der Mond und das Mädchen," Hanser-Verlag 2007)
schrieben gegen schon gemachte Erfahrungen von Interkulturalität
an! Das verriet eine Bildungslücke. In so einer bürgerlich
gefeierten Bildungslücke gähnt die Kluft zwischen den Kulturen,
die dann "Parallelgesellschaften" für die Politik wie auf Wunsch
zu bringen scheint. Na gut, es darf nicht ernsthaft erwartet
werden, dass AutorInnen z. B. der "Kanak Attak"-Strömung in das
kulturell eigenwillige Blickfeld der Büchner-Preis-JurorInnen
geraten, die sich derzeit sehr österreichverliebt zeigen. Aber
was für ein seltsamer Pluralismus, wenn letztere das Werk der
ersteren negieren und über den Haufen schreiben lassen!
Strukturelle Absurditäten, deutscher Alltagsrassismus und
gesellschaftliche Entwicklungen kommen einfach nicht zur Sprache
in dem, wofür sich die Bildungsinstitutionen (Darmstädter
Akademie, Akademie der Künste Berlin, Literarisches Colloquium
Berlin) und die großen Verlage interessieren. Die Literatur der
Nachwendezeit (immer abgesehen von den linken und libertären
Verlagen und Randmedien) hat einen merkwürdig zeitlosen Touch.
Insoweit als gesellschaftliche Dinge erörtert werden, handelt es
sich meist um deutsch-deutsche Weiße Identität, also Ost-West-
Kontroversen oder Nachkriegsgeschichte (Maxim Biller,
"Deutschbuch", Julia Franck, "Mittagsfrau"). Im Verhältnis dazu
begegnen die genannten antirassistischen AutorInnen selten in
den Feuilletons der Mainstream-Gesellschaft und werden mehr dem
migrantischen Literaturspektrum zugeordnet bzw. in linken
Verlagen und Kulturforen vorgestellt.
1.
Eurozentrismus und die üblichen Rollenzuweisungen
In
wenigen Werken haben gefeierte AutorInnen versucht, täppisch und
staatskonform Bezug auf die Tatsache des migrantischen Europa zu
nehmen. Wie z. B. Martin Mosebach, der in 2007 den
Georg-Büchner-Preis erhielt.
In
Mosebachs preisgekröntem Roman wurde der Protagonist Hans,
erfolgreicher Frankfurter Bankkarrierist, vorgestellt, der sich
zu Begegnungen mit seiner migrantischen Nachbarschaft im
Bahnhofsviertel herbeilässt. Mit ihnen begibt er sich ins
Gespräch, sitzt auch mal in der Runde unter dem Abendhimmel vor
einem gemeinsam entzündeten Hoffeuer. Im Zentrum der Novelle
"Der Mond und das Mädchen" steht allerdings mehr das eheliche
Heck-Meck des empfindsamen Hans, der erstmals nach seiner Heirat
von der Mutter wegzog und sich viel mit Fragen über Treue und
Sittlichkeit herumplagt (symbolträchtig verliert er beim
Fremdgang mit einer anderen Frau den Ehering). Das Szenario von
der jungen Ehe im Bahnhofsviertel mit den migrantischen
NachbarInnen ergibt letztlich eine sehr traditionelle
bürgerliche Weiße Bedeutungs-Ökonomie. Die MigrantInnen der
Umgebung, darunter Dealer und Prostituierte, dienen zum
typisierten Hintergrund für die individuellen Lebens- und
Gedankenabläufe der Weißen deutschen Hauptfigur.
Seine
Begegnung mit den marokkanischen und syrischen NachbarInnen ist
für Hans Anlass, über europäische Kultur zu räsonnieren, wobei
er zwar in Gedanken einerseits der Islamophobie eine Absage
erteilt, andererseits auch einen Untergang Europas erwägt, das
dabei schon mit dem Phönizierreich verglichen werden muss. Den
kulturpessimistischen Part liefert dabei Hans` deutscher Nachbar
und philosophischer Gesprächspartner Wittekind. Was die
geschilderten migrantischen NachbarInnen zu erzählen haben,
zeigt hingegen einen Mangel an Philosophie, an Reflektiertheit:
Sie kommen im schwierigen Alltag ständig ins Straucheln und ihre
Rede geht von weltlichen Dingen wie Sex, Geld und Geschäften.
Fixiertheit auf Geld ist z. B. eine zentrale Eigenschaft der
Nachbarin Mahmouni: "(...) Zu teuer. Ich bin mit Geschäften
großgeworden. Ich habe immer auf den Preis geachtet. Man darf
sich nicht zu gut sein, den Preis nachzuprüfen( usw.)" (S. 112)
Das wird an anderer Stelle ergänzt von der Nähe zu devianten und
heruntergekommenen Existenzen: "Mein erster Mann war ein Lump,
Trinker, Wetter auf Hunderennen, hatte ein jahrelanges
Verhältnis zu seiner eigenen Tochter," führt besagte Frau
Mahmouni selbst aus (S. 38). Auf Gewinn fixiert ist auch der
Hausmeister Souad, der wenig intellektuell, vielmehr sehr
emotional, "neugierig", "mit wehmütiger Treuherzigkeit", einmal
auch wie ein "tobsüchtiger Frosch" beschrieben wird. Und: "Er
will nicht bei den Verlierern sein" ( ein Erkenntnisgewinn
Wittekinds) - das soll den Background seiner
Einwanderungsgeschichte erklären. Eine Menge journalistischer
Sätze (in Anklang an Magazine wie den Spiegel) und Klischees,
die das Fehlen von interkulturellen Erfahrungen des Autors
verraten. Offenbar war ihm der Stoff von ordnungspolitischen
Debatten mitdiktiert, als er seinen Roman, ein Jahr nach der
Einführung der "Einbürgerungstests" (2006) vorlegte - und dann
doch deutlich eine spätkoloniale objektgerichtete Perspektive
auf die Anders Wahrgenommenen fortzeichnete - diese werden auch
mal rassistisch über Körpermerkmale wie die "braunen Tieraugen -
man sah fast nichts Weißes bei ihnen" des Souad (S. 80) erfaßt.
Eine
altmodisch, eurozentristisch sinnierende Geschichte, ein
Glanzstück in den Augen der JurorInnen der Darmstädter Akademie
für Sprache und Dichtung!
In
2008 sollte es noch schlimmer kommen. Dann sollte der Autor
Josef Winkler (dessen Freund und Förderer war Martin Walser) für
sein Büchlein „Natura Morta“ (Suhrkamp-Verlag 2001) den
Büchner-Preis erhalten. Das Lob der Medien, der
Literatur-Patriarchen und der Literaturgazetten für sein Werk
war überschwänglich. Einzig die "Welt" (ausgerechnet die!)
wandte sich gegen die Preisverleihung und erklärte Winkler für
"rückgewandt". Doch auch diese Zeitung fand nichts an den
Rassifizierungen in Winklers Roman auszusetzen und kam nicht
darauf zu sprechen.
Zugegeben, manches, etwa die sprachliche Absonderlichkeit des
Romans, ist Geschmackssache: ein staksender Aufzählungsstil mit
aneinandergereihten Partizip-Aktiv-Konstruktionen in
fast-endlos-Sätzen. (Auch die Sprache erntete viel Lob.)
Geschmackssache auch der Stoff: Es ist eine Novelle vom
sechzehnjährigen Fischverkäufer Piccoletto in Rom, der auf der
belebten Piazza Vittorio Emanuele als Gehilfe eines
Fischhändlers arbeitet. Am Ende der Erzählung wird der Junge
Piccoletto – beim Pizzaholen! - von einem Feuerwehrauto erfasst
und stirbt. Den Hauptteil des kleinen Romans bestreitet die
Schilderung von Sachen und von Menschen alsSachen:
Verkaufsstand drängt sich an Stand, neben Touristen und
Geistlichen tummeln sich migrantische Händler und BettlerInnen,
Dealer und Stricher. Arme wühlen in den Abfällen der Obst -,
Fleisch - und Fischverkäufer und ergattern Überbleibsel in den
unterschiedlichsten Verfallszuständen. Es gibt Geflügelkäfige,
Innereien, Tierbeine sowie Früchte zu sehen.
Die
Darmstädter Akademie war beeindruckt - die
Gegenstands-Aufzählung hatte offenbar den Zeitgeist gepackt. Es
war vom "prallen Leben" in der Schilderung die Rede. Ein
Rezensent meinte, dass "die abgründige Vielfalt des
Marktgeschehens" gemalt würde, und lobte die "Tiefenschärfe des
Szenariums". Doch wo tun sich diese Abgründe eigentlich auf,
wenn Fleisch gehackt oder der Eidotter "glucksend" von der
Eierverkäuferin in ein Glas befördert wird? "Ein sehr sinnliches
Buch", befand der unvermeidliche Literaturkommentator
Reich-Ranicki. Eben nicht, möchte mensch erwidern. Denn bei dem
Schwenk des Autors mit Kamera-Auge über Menschenmasse und Dinge
sind jegliche fühlenden oder denkenden Komponenten ausgetilgt.
Ein anderes bleibt etwa Walter Benjamins Schilderung von einem
italienischen Marktplatz, die beschriebene betäubte Gier des
Erzählers nach Feigen, das Überessen daran und der anschließende
Überdruss von den Früchten, wenn ihr Geruch dem ganzen Körper
anhaftet ("Essen" in: "Angelus Novus II", Suhrkamp 1988). Aber
die simple Aufzählung von Dingen verrät weniger Sinnlichkeit als
vielmehr optische Rastlosigkeit des Konsumenten, der von
Lidl-Regalen angeödet auf die Suche nach mehr Eindrücken
schweift. Somit handelt es sich auch weniger um eine Er-zählung
als um eine Aufzählung. Kollernde Granatäpfel, blutende Hühner
und geschwenkte Plastikschnuller führten zu
Begeisterungsausbrüchen der KulturvertreterInnen von der
Akademie der Künste (die schon 2001 den Döblin-Preis für dies
vergab) zu den Feuilletons von FAZ bis "Literaturen". In linken
Medien wie Jungle World und Freitag lobte eine Rezensentin das
Werk, das gar als sozialkritisch betrachtet wurde.
Doch
Winkler hatte es auch einem allgemeinen Abendland-Empfinden
angetan, diese "caravaggieske Genauigkeit" (Berliner Akademie
der Künste) einerseits, dieses "Beschwören vergilischer Vorzeit"
(FAZ) andrerseits! Alles auf einmal? Ja, denn das war ein
weiterer eurozentristischer Wurf, zu dem die Medien begeistert
den Roman im Stil eines Einkaufszettels verarbeiteten. Die
Bereitschaft dazu war offenbar a priori dagewesen.
Rassistisch kommt "Natura Morta"
daher, weil hier durchweg das N.-Wort und das Z.- Wort
angewendet werden. Das schien ins bürgerliche Selbstverständnis
zu passen, wurde es doch von keiner Seite angeprangert. Keine
Kultureinrichtung, -zeitung oder bekanntere Person fand ich, die
diese Tatsache angesprochen und problematisiert hätte! In der
Zeitschrift für antirassistische Kultur "Die Brücke" (April
2009) schrieb ich selbst eine Abhandlung zum Thema.
Neokoloniale und/ oder herrschaftsideologische Sprechweisen in
der Gegenwartsliteratur zu untersuchen, ist eine bis jetzt noch
nicht wahrgenommene Aufgabe der Genderwissenschaft. Auch auf
diesem Gebiet ergäbe sich die Notwendigkeit verbindlicher
Kritik.
Die
Verwendung des N.- und des Z.- Wortes durch den Weißen Autor
Winkler ist Ausdruck einer neokolonialen Perspektive. Natürlich
sollen diese Bezeichnungen, die schon fast erfolgreich aus dem
neuen Sprachgebrauch unserer Gesellschaft getilgt worden waren,
hier Befremden stiften. Die rückgewandte koloniale Sicht und
Abgrenzung gegen migrantische Personen wird somit
wiederbefestigt. So werden migrantische Personen in ihren bunten
Gewändern, bei diversen Geschäftigkeiten, dem Stillen von
Kindern oder dem Wühlen in Abfällen, aufgezählt. Merklich soll
das zu einem gewollten Exotismus im Roman beisteuern, was nur
eine rassistische und lebensferne Einstellung verrät. Noch ehe
das Befremden vor dem Anderen in der europäischen Gesellschaft
überwunden war, wird es hier zur Quasi-Ästhetik gemacht und
wieder eingeführt. Offenbar bedeutete Winklers bürgerliche Zote
mit dem N.-Wort und dem Z.-Wort, welche wieder das Objekt der
Anderen Minderheiten trifft und Weiße vorherrschende Schichten
in ihrer Majorität bestärkt, eine bürgerliche Wunscherfüllung
und ein Entgegenkommen für die Kulturauffassung alternder Weißer
Deutscher wie der Förderers Martin Walser.
Die
Verdinglichung des Menschen und die Objektverliebtheit im
neoliberalen Zeitalter erhält in Winklers Schundroman allerdings
eine konsequente (unreflektierte) Wiedergabe. Zugegebenermaßen
werden auch manche europäischen Figuren dinghaft beschrieben wie
"der Neapolitaner", dessen Arme "mit Schlangenlinien und Pfeilen
tätowiert" sind, aber da erlegt sich der Erzähler mehr
Zurückhaltung auf als bei der körperlichen Sicht auf
migrantische ProtagonistInnen, wo es auch mal um eiterverklebte
Lider und dergleichen geht.
Es
bedeutet kurz eine Peinlichkeit für die Kultur der
gesellschaftlichen Mitte, dass Winkler für dieses Buch in 2008
mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Ein Jahr darauf, im
August 2009, publizierte die Psychologin und
Genderwissenschaftlerin Grada Kilomba in dem Magazin "Nah und
Fern" ihren Essay über das N.-Wort. Es ist klar, dass heute die
einzige gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung bei den
bürgerlich kaum gekannten Foren der Genderwissenschaft und der
linken antirassistischen Literatur verbleibt.
Noch
einmal so bedeutsam wie das schriftstellerische Wirken zeigt
sich also das feuilletonistische und das kulturinstitutionelle,
das Lob oder Tadel austeilt oder Stillschweigen praktiziert.
(2.
…)
3.
Status: Erkenntnis erst nach Erfolgstätigkeit
Im
Gegensatz zu den oben ausgeführten peinlichen Werken taucht das
Thema migrantischer Realität in anderen Werken eben ganz einfach
nicht auf. Mit der Auswahl des Dargestellten oder eben nicht
Dargestellen in der deutschen Erfolgsliteratur ergibt sich eine
Sichtweise, die sehr zur politischen Ordnung paßt.
Zum
Beispiel mit dem beharrlich begegnenden Element Statusdenken.
Damit verlagert sich die gemachte eurozentristische
Denkkategorie auf die ebenso gemachte Denkkategorie des
westlichen hegemonialen Produktionsprozesses. So gehört es zwar
zu dieser Literatur motivisch hinzu, dass u. a. viel gereist
wird, der Urlaub in Spanien, in England verbracht oder gejobbt
wird, auch in die USA wird hereinschnuppert. Dabei wird jedoch
immer die eigene Schicht im Auge behalten. In der Popliteratur
sind es die jungunternehmerischen oder studentischen
Ich-ErzählerInnen, die von festgefügten Strukturen eines Status
herschreiben. Oder etwa die Hauptfiguren wie der Bankangestellte
Hans in Mosebachs "Der Mond und das Mädchen", der Leipziger
Rhetorikprofessor in Michael Roes`Buch "Die fünf Farben
Schwarz", oder in Terézia Moras "Der einzige Mann auf dem
Kontinent" der deutsche Aussteiger und Chef einer Firma für
drahtlose Netzwerke in USA, sind Sieger in der globalen
Hierarchie. Sie sind Erfolgstypen, die zunächst mal über ihren
Status eingeführt und als Denkende, Fühlende etabliert werden.
Dann mühen sie sich exemplarisch mit einer Sache, etwa dem
wirtschaftlichen Crash, als einem philosophischen und gar
menschheitlichen Problem.
Letztlich zeigen AutorInnen damit, dass sie nicht alle Register
kennen, auf denen dem Menschen heute mitgespielt wird. Ihre
Figuren vollziehen Jobstrategien gemäß der Empfehlung von
EU-Kommission und der Berater-Trusts, die uns heute sagen, wo`s
langgeht. Zugleich sind die Dunkelziffern papierloser
ArbeiterInnen und die offen erklärten Dumpinglohn-Strategien in
den weltweiten hegemonialen Produktionsprozeß fest eingeplant.
(...) Gedankengänge der zartbesaiteten geschilderten
ProtagonistInnen beziehen sich jedoch nie auf die Herkunft der
Billigbaumwolle auf ihren Körpern, erfreuen sich nur am Anblick
der Farben.
Geistigen Sichtblenden in solchen Darstellungen mag natürlich
nicht immer bewusstes Abrücken von anderen Schichten zugrunde
liegen. Andersherum: Wozu lesen, wenn das Geschriebene als
"Literatur" nicht Abhandengekommenes bewußt macht, sondern nur
die Koordinaten des täglichen unsäglichen Infotainments
fortführt? Das Wesen der Entfremdung erfaßte Erich Fromm u. a.
in der „“Routinisierung und (…) Verdrängung der Grundprobleme
menschlicher Existenz aus dem Bewußtsein“. Weiter heißt es da:
„Wir berühren hier ein universales Problem des Lebens. Der
Mensch muss sich sein tägliches Brot verdienen, und das ist
stets eine Aufgabe, die ihn mehr oder weniger in Anspruch nimmt.
...Aber der Mensch kann nur zur Erfüllung seiner selbst
gelangen, wenn er mit den Grundgegebenheiten seiner Existenz in
Berührung bleibt.“ (Erich Fromm, „Wege aus einer kranken
Gesellschaft“, S. 141, Ullstein 1980)
Verstetigter Konformismus im Schreiben bringt Unwirklichkeit mit
sich, wenn nicht mehr über Themen geschrieben wird, die nicht
auch im Tagesschau- Trailer anklingen.
Es ist
allein schon der stringente Erzählstil, oft ein erstaunlich
durchgehaltener Realismus, der über der wahren
Erfahrungsverdichtung der Zeit scheitern muss. "Will der Roman
seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es
wirklich ist, so muss er auf einen Realismus verzichten, der,
indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem
Täuschungsgeschäfte hilft" (Theodor W. Adorno, "Über den
Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman", in "Noten zur
Literatur 1", S. 64, Suhrkamp).
Bruchloses Erzählen als Stil (in einer unkohärenten und
neoliberal zerstückelten Lebenswelt mit verhackstückten
verwertbar gemachten Biographien) scheint dem sturen Wachstum
monotoner westlicher Bungalow-Architekturen in den letzten
kulturell gewachsenen Landschaften der Welt zu entsprechen.
Welche Disziplin gehört dazu, solche Eintönigkeit zu ertragen!
Und wozu auch?
(4....)
5.
"Macht, Gewalt, Erinnerung"- der Ostblock
Läßt
Mangel an Lebenserfahrung die zeitgenössische deutsche Literatur
verarmen, sucht der Betroffenheits-Kanon der etablierten
Bildungsschicht sich seine RepräsentantInnen für wirkliche
Existenznöte. Nöte interessieren ja, aber nicht die im
Deutschland mit elenden "Gemeinschaftsunterkünften" für 80- 100
000 Flüchtlinge, im Europa der Abschiebungen. Als das
Literarische Colloquium in Berlin in 2008 eine Lesung zum Thema
"Macht, Gewalt, Erinnerung" veranstaltete, ging es um die
Erfahrung von Arkadi Babtschenko ("Die Farbe des Krieges") als
russischer Soldat in Tschetschenien und um György Dragomans
Kindheitsschilderung vom totalitären Regime Nicolae Ceausescus
in Rumänien ("Der weiße König") – fraglos wichtige Themen, die
jedoch nicht die geringste Kritik an dem deutschen System
aufkommen ließen, das u. a. rumänische Roma und Sinti ausweist.
Vielmehr gibt sich die deutsche Kulturelite als Feld des freien
Wortes schlechthin. Aus diesem Zusammenhang kann der
Gefühls-Hype um die Nobelpreisträgerin für Literatur Herta
Müller ("Atemschaukel") nicht ausgeblendet bleiben. Ihre
Beschreibung von einem ukrainischen sowjetischen
Zwangsarbeitslager ist zweifellos mit Wahrhaftigem ausgefüllt.
Der "Hungerengel" (Müller in "Atemschaukel") und die Gewalt sind
für Müller, die unter Ceaucescus Regime lebte, gewiss so bekannt
und ernsthaft durchlitten, wie sie von deutschen Journalistinnen
und Rezensenten larmoyant beklagt werden. Bloßes Klagen, sicher
nicht Müllers Sache, macht jedes Tun im Heute überflüssig. Das
hat der Rezensent vom "Tagesspiegel" in seiner Abhandlung mit
rudernden und doch treffenden Worten gezeigt: " Man schämt sich
zunächst, von all dem nichts gewusst zu haben, und ist zugleich
mehr als heilfroh, dass man selbst so etwas nicht erleben
musste, was sich zusammen ein wenig anfühlt, als habe man sich
vor etwas gedrückt und geniere sich jetzt dafür." Heilfroh möge
mensch sich genieren! Und an diesem Buch zu der Lektion kommen:
"Denn furchtbarerweise ist es ja auch banal, wenn einer Hunger
hat. Oder Angst. Oder friert(…) Dies ist ein ganz einfaches
Buch. Nichts Vertracktes kommt hinein, kein Psychologisieren,
auch nicht, wenn es von der schwachsinnigen Planton-Kati heißt:
`An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun.` Kein
Urteilen, das sich nicht von selbst ergäbe. Wenn etwas
kompliziert ist, dann so: Stehlen ist stehlen, aber was ist dann
stehlen aus Hunger? Wenn’s aber die eigene Frau ist, der man die
Suppe weglöffelt?" (Tagesspiegel)
Andererseits erscheint es der
deutschen Ordnungspolitik nur banal, wenn Flüchtlinge in
Abschiebeknästen Angst haben. Oder frieren. Oder Suizide
begehen. Und bitte nur keine falschen Illusionen in dieser
Kultur sentimentaler deutscher KulturverehrerInnen: Stehlen oder
Schwarzfahren als letzte Überlebens-Strategien Entrechteter
dieses Systems, z. B. "geduldeter" MigrantInnen, würden heute
und hier bei Entdeckung von einer reibungslos funktionierenden
Abschiebungs-Maschinerie geahndet werden ( indessen achten
"Geduldete", auf schiere Überlebenskämpfe Reduzierte das Gesetz
hierzulande mehr als StaatsbürgerInnen und politisch führende
SteuerhinterzieherInnen, und von der Korrektheit der Outcasts
und der Freizügigkeit der Privilegierten müßte erst der Roman
geschrieben werden). Dieses Kulturmilieu, das im Inland nur
tödliche Langeweile zu kennen scheint, lädt sich an den wahren
Existenzkämpfen von AutorInnen aus anderen Diktaturen auf und
gestaltet die Welt noch zwanzig Jahre post festum nach altem
Muster, verschiebt das Leiden auf die Welt jenseits des Eisernen
Vorhangs. Dieses, das Leiden wird damit letztlich historisiert.
Müller selbst, die auch mit anderen Romanen ihr Können bewies,
verfügt über wirkliche Erfahrung, ihre RezensentInnen zeigen,
wohin sie diese gelenkt wissen wollen. Wenn sie so etwas wie die
Universalität des Leidens anklingen lassen, wissen wir, dass
diese Universalität an der Schwelle des Kulturinstituts
abbricht.
So
zeigt sich, dass frühere stalinistische Diktaturen den deutschen
Kulturinstitutionen auch jetzt noch unentbehrlich sind. Zugleich
gibt es ganz bestimmt auch begabte AutorInnen, die heute über
Stacheldrähte vor deutschen Abschiebeknästen und
Polizeikontrollen von MigrantInnen auf den hiesigen Bahnhöfen
schreiben, aber sie werden in den bürgerlichen Konsens und in
die großen Verlagsprogramme nicht durchdringen, werden das
programmatisch Unverfängliche, das von den Akademien und
Verlagen festgezurrt wird, nicht erschüttern. Die selektive
Wahrnehmung der Bildungsschicht macht auch kuriose Widersprüche
möglich, so dass der Dichter Rafik Schami, der hin und wieder
die syrische Diktatur aufs Korn nimmt ("Erzähler der Nacht"),
begeisterten Zuspruch von vielen LeserInnen erfährt, während
sich kein Widerstand aus der gesellschaftlichen Mitte gegen das
deutsch-syrische Abschiebeabkommen dieses Jahres regte. Dies
blieb linken Gruppen und migrantischen Initiativen überlassen.
(…)
Editorische
Anmerkungen
Der Artikel
wurde uns von der Autorin für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt.
Dabei handelt es sich um Auszüge einer längeren Abhandlung,
mit denen sie ihre Kernthesen zur Diskussion stellen will.
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