Vortrag vom November 2008
Israel und die Linke

von
Volkhard Mosler

01/09

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1. Es wird keinen Fortschritt zu einer friedlichen Lösung des Nahost-Konfliktes geben, solange der zugrunde liegende Konflikt nicht angegangen und nicht gelöst ist. Dieser Konflikt ist einfach zu benennen: die anhaltende Kolonisierung Palästinas durch den
zionistischen Siedlerstaat Israel, die Unterdrückung und Vertreibung der palästinensischen Araber aus ihrer angestammten Heimat. Da in den gegenwärtigen Friedensverhandlungen nichts darauf hindeutet, dass die beteiligten Mächte auf Israel den politischen und wirtschaftlichen Druck so erhöhen, dass dieses sich genötigt sähe, die Kolonisierung der 1967 besetzten Gebiete zu stoppen oder gar rückgängig zu machen, schwindet auch die langfristige Chance einer Zweistaatenlösung. Die Durchmischung sämtlicher Siedlungsräume hat einen Grad erreicht, dass eine staatliche Einheit Palästinas auf die Gründung von Bantustan-Staaten wie im früheren Südafrika hinausliefe.

2. Eine Bemerkung zur These von Gregor Gysi, dass die Anerkennung des Staates Israel zur Staatsräson der BRD gehöre. Ich kann mich gut erinnern an die Debatten im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dessen Mitglied ich 1963 wurde. Zu dieser Zeit galt die Forderung nach Aufnahme diplomatischen Beziehungen mit Israel als
linke Forderung. Der damals von RCDS und Burschenschaften dominierte Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) pflegte dagegen gute Beziehungen zu ägyptischen, aber auch zu palästinensischen Studentenorganisationen (GUPS, Generalunion Palästinensische Studenten) mit Rücksicht auf die damals gültige Hallsteindoktrin (Abbruch diplomatischer Beziehung mit allen Staaten, die die DDR anerkannten). Konrad Adenauer hatte 1952 den Abschluss des so genannten Wiedergutmachungsabkommens mit Israel mit dem großen Einfluss der „Juden auf die amerikanische Regierung“ begründet. Staatsräson war in der Adenauer-Ära der Antikommunismus und die Eingliederung der BRD in die westlichen Bündnissysteme. Meine These ist: die Anerkennung Israels durch die BRD folgte keinerlei moralischen Wertesystem, sie war allein der Tatsache geschuldet, dass Israel der wichtigste politische Bündnispartner des Westens im Nahen Osten war. Wäre der jüdische Staat in Kanada oder Tansania gegründet worden, wie es in der Frühphase der zionistischen Bewegung auch überlegt worden war, dann hätten die jüdischen Opfer des Holocaust ebenso wenig Hilfe und ebenso späte Hilfe erlangt wie die russischen Opfer oder die Opfer unter Roma und Sinti. Israels militärische Überlegenheit über seine arabischen Nachbarstaaten ist auch die Voraussetzung für seine bevorzugte militärische und wirtschaftliche Unterstützung durch die Staaten der EU und durch die
USA. Die privilegierte Partnerschaft, die das Verhältnis Israels mit den EU-Staaten und mit den USA kennzeichnet, folgt nicht moralischen sondern imperialen Interessen. Die Erhebung dieser angeblichen Staatsräson zu einem Grundsatz der LINKEN vergrößert indes die Spielräume für eine Zustimmung der LINKEN zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr (z. B. in einem Konflikt zwischen Israel und Iran).

3. Eine Beurteilung der Konfliktursachen ist nur möglich aus einer Analyse der historischen Vorgeschichte des Konflikts. Der moderne Zionismus als politische Nationalbewegung der in Europa und Russland unterdrückten jüdischen Minderheiten war zunächst minoritär. Der größere Teil der jüdischen Massen Osteuropas und auch Westeuropas fühlte sich von der sozialistischen Arbeiterbewegung angezogen. Die große Zahl jüdischer Führer(innen) von Marx, Luxemburg, Trotzki, Bernstein, Adler usw. war Zeugnis der Tatsache, dass die jüdischen Massen in der Arbeiterbewegung die Möglichkeit der Überwindung des Antisemitismus als eine Unterform des „modernen“ Rassismus sahen. Ihren Höhepunkt hatten diese Hoffnungen in der frühen Sowjetunion Lenins gefunden, in der die Rechte nationaler, religiöser und sexueller Minderheiten zum ersten Mal in der modernen Geschichte ihren politischen und gesetzlichen Ausdruck gefunden hatten. Mit der historischen Niederlage der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung vor dem Faschismus 1933 waren diese Hoffnungen jäh zerstört. Aus persönlichem Erleben möchte ich das Schicksal meiner Schwiegermutter nennen. Sie floh 1933 als siebzehnjährige Jungkommunistin nach Holland und konnte von dort rechtzeitig mit Hilfe zionistischer Organisationen nach Palästina emigrieren, ihr Vater blieb und wurde in Auschwitz ermordet. Als ich sie 1969 kennen lernte, war sie immer noch eine Sozialistin, aber sie hatte den Glauben an eine Lösung der Judenfrage durch die Arbeiterbewegung verloren. Gleichwohl gehörte sie zu jenem Drittel jüdischer Einwanderer in Palästina, die bei der Staatsgründung Israels 1947 noch für eine binomiale Lösung eingetreten war, das heißt für einen gemeinsamen Staat von Juden und Palästinensern.

4. Einem einflussreichen Mythos der Zionisten zufolge war Palästina „ein Land ohne Volk“ und war deshalb besonders geeignet für ein „Volk ohne Land.“ Die Väter der Bewegung waren sich allerdings über die tatsächliche Problematik einer Kolonisierung Palästinas durch europäische Juden durchaus bewusst. Auf dem zweiten Zionistischen Kongress von 1898 in Basel lag ein Bericht vor. Danach lebten 650.000 Araber „in den fruchtbarsten Gebieten unseres Landes.“ Schon 1895 hatte der Gründer der Bewegung, Theodor Herzl, in seinem Tagebuch eingetragen: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Land jede Arbeit verwehren.“ Der Staatsgründer Ben Gurion äußerte im Dezember 1947 klar und deutlich: „Es kann keinen stabilen, starken, jüdischen Staat geben, solange er eine jüdische Mehrheit von nur 60 Prozent hat.“ Niemand hat sich klarer über den durch eine jüdische Kolonisierung ausgelösten Konflikt geäußert als Ben Gurion: „Politisch sind wir die Aggressoren, während sie sich verteidigen. Das Land gehört ihnen (den Arabern), weil sie es bewohnen, während wir ankommen und uns hier niederlassen, und aus ihrer Perspektive wollen wir ihnen das Land wegnehmen, noch bevor wir hier richtig angekommen sind.“ (1938)

5. Die Kolonisierung des Landes unterschied sich von der Australiens oder Amerikas im Resultat: in diesen Ländern war die zivilisatorische Kluft wesentlich größer als in Palästina, die einheimische Bevölkerung überlebte die Kolonisierung nur in einigen Reservaten. In Palästina trafen die europäischen Kolonisten auf eine wesentlich weiter entwickelte heimische Zivilisation, die aus Europa stammenden Kolonisten hatten zwar einen durchschnittlich höheren Bildungs- und Wissensstand, aber der Abstand zur eroberten Gesellschaft war im Vergleich zu Australien gering. Das Ziel der Kolonisierung war aber gleich, auch wenn es nicht im gleichen Maß erreicht wurde, nämlich die Eroberung des Landes und Vertreibung oder Vernichtung der einheimischen Bevölkerung. Der Unterschied zum südafrikanischen Modell bestand darin, dass die indigene Bevölkerung nicht ausgebeutet, sondern ausgeschlossen werden sollte.

6. Die Tragödie der Palästinenser ist nicht zu denken ohne die unermesslich größere Tragödie des Holocaust. Erst mit Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze und der sich damit abzeichnenden Vernichtung stieg die Zahl jüdischer Einwanderer rasch auf über 650.000 in 1946 an. Ihnen standen etwa 1,5 Millionen Palästinenser gegenüber. Nach der Daumenregel Ben Gurions war ein jüdischer Staat mit einem arabischen Anteil von höchstens 20 Prozent lebensfähig. Daraus stellte sich die „Aufgabe“ einer ethnischen Säuberung von etwa der Hälfte der arabischen Bevölkerung, die einherging mit der Zerstörung ihrer Dörfer und Infrastruktur und der Eroberung von etwa 92 Prozent des fruchtbaren Landes durch die Kolonisten. Etwa 350.000 waren Überlebende des Holocaust. Viele von ihnen waren nicht freiwillig nach Palästina gegangen. Aber die Tore zur Einwanderung in USA blieben verschlossen. Rassistische Einwanderungsgesetze erlaubten Osteuropäern aus den baltischen Staaten die Einwanderung in die USA – darunter viele ehemalige Nazis –, nicht jedoch den Holocaust-Überlebenden, die so gezwungenermaßen nach Palästina gingen.

7. Die deutsche Arbeiterbewegung hatte 1933 versagt und trägt mit diesem Versagen natürlich indirekt auch eine Mitverantwortung für den Holocaust, wenn auch nicht eine Mitschuld. Hier liegt auch die besondere Verpflichtung, die deutsche Linke zu Recht gegenüber dem Schicksal der Holocaust-Überlebenden empfinden. Deshalb ist es auch nachvollziehbar, wenn sie den Überlebenden ihre Unterstützung zusichern. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, mit welchem moralischen Recht sie von den Palästinensern verlangen, ihre Leben und ihre Zukunft für das Überleben anderer Menschen hinzugeben. Oder wie es Noam Chomsky ausdrückt: „Wenn jemand in das Haus eines anderen eindringt, um diesem dann als „fairen Ausgleich“ ein paar Zimmer anzubieten, wird der
ursprüngliche Hausbewohner von solcher Großzügigkeit auch dann nicht hingerissen sein, wenn der Eindringling heimatlos, verarmt und verfolgt ist.“ Meine These wäre, dass 1947 mit Unterstützung der UNO auch eine gemeinsame jüdisch-arabischer Staatsbildung möglich gewesen wäre, sie hätte allerdings vorausgesetzt, dass die Einwanderer sich nicht wie Besetzer, sonder wie Mitstreiter für einen gemeinsamen unabhängigen Staat von Juden und Arabern eingesetzt hätten. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass dies damals nicht möglich gewesen wäre, stellt sich doch die Frage, warum es die jüdischen Einwanderer nicht bei dem von der UN ihnen 1947 zugeteilten Siedlungsgebieten belassen haben. Der
Holocaust kann auch nicht als Begründung für die erneute Vertreibung hunderttausender Palästinenser nach dem Sechtstagekrieg 1967 herangezogen werden. Mit dem Holocaust kann auch nicht erklärt werden, warum die jüdische Besiedlung immer weitere Landnahmen in den „besetzten“ Gebieten betreibt.

8. Im Sozialistischen Studentenverband (SDS) kam es 1967 auf einer Bundesdelegiertenkonferenz zu einer intensiven Debatte zum Nahost-Konflikt, die Konferenz fand im September d. J. nur wenige Monate nach dem Krieg statt. Es gab drei Positionen: eine „traditionalistische“, eine marxistische und eine maoistische. Die „traditionalistische“ war bis zum Sechstagekrieg mehr oder weniger vom gesamten SDS getragen, sie entsprach der oben beschriebenen Haltung der deutschen Nachkriegslinken, die in den Jahren zuvor für die Anerkennung Israels durch die BRD-Regierung eingetreten waren und darin ein linkes Projekt gesehen hatten. Ihre Vertreter sprachen sich für die Anerkennung des Existenzrechtes Israels aus und forderten dies auch als Beitrag der
Palästinensischen Befreiungsbewegungen für eine friedliche Lösung. Sie versprachen sich von einer solchen Anerkennung nicht nur einen wichtigen Schritt für eine friedliche Lösung, sondern auch zur Förderung der Klassenkämpfe in Israel, da diese durch die äußere Bedrohung ständig erstickt würden. Die Entwicklung hat diese Position widerlegt. 1993
hatte die PLO unter Yassir Arafat im Osloer Abkommen die Grenzen anerkannt, die Zahl der Siedler hat sich aber in den besetzten Gebieten trotzdem verdoppelt und zahlreiche neue Siedlungen sind entstanden. Dies hat auch zum politischen Absturz von Fatah geführt und zum Aufstieg von Hamas, die den Vertrag ablehnt. Als zweite Position sei hier die maoistische genannt. Sie bestand im Wesentlichen in einer unkritischen Unterstützung von Fatah oder einer der anderen Befreiungsbewegungen dieser Zeit und damit auch gegenüber deren Konzepten eines „demokratischen, säkularen palästinensischen Staats“ mit religiösen Rechten für die jüdische Bevölkerung. Die dritte, marxistische Position, deren Sprecher ich war, unterstützte ebenfalls den palästinensischen Widerstand, allerdings kritisch. Wir forderten von der palästinensischen Seite die Anerkennung des Existenzrechtes des jüdischen Volkes in Palästina und das Bündnis mit arabischen Massen gegen deren reaktionären Herrscher. Es gab nach unserer Meinung einen Zusammenhang zwischen den Niederlagen der PLO und ihrer beschränkt nationalistischen
Positionierung.

9. Eine Lösung des Konfliktes setzt voraus, dass das jüdische Volk im heutigen Staat Israel den Prozess der fortschreitenden Kolonisierung anhält und umkehrt. Das heißt auch und vor allem, dass nicht länger das Ziel einer „Heimkehr“ aller Juden der Welt nach Israel
angestrebt wird und es setzt umgekehrt die Anerkennung eines Rückkehrrechts der vertriebenen Palästinenser voraus. Eine Zweistaatenlösung halte ich heute noch weniger als vor 40 Jahren für machbar. Die Zersiedlung Palästinas durch jüdische Dörfer, Städte,
Verkehrswege usw. hat einen Grad erreicht, die kein Zusammenhängendes palästinensisches Siedlungsgebiet mehr übrig lässt. Nach dem Vorbild Südafrikas sollte nach dem Prinzip „one man (woman), one vote“ ein gemeinsamer binationaler Staat mit weitgehenden Autonomierechten und vollständiger Trennung von Staat und Religion, gebildet werden. Die Anzeichen mehren sich, dass unter Palästinensern heute mehr Menschen über eine solche gemeinsame Lösung nachzudenken bereit sind. Er ist jedenfalls realistischer als eine Herauslösung eines zusammenhängenden Staatsgebietes, das mehr ist als nur die Neuauflage eines Bantustan-Reservats von Israels Gnaden.

10. Als westlicher Kolonialstaat hat Israel sich nur durchsetzen und behaupte können in enger Zusammenarbeit und im engen Bündnis mit den in der Region dominanten imperialistischen Mächte: das waren Großbritannien, Frankreich und vor allem die USA. Israel ist dabei keineswegs nur instrumental für die imperialistischen Interessen der westlichen Großmächte, sie ist Teil des westlichen imperialistischen Machtgefüges, allerdings durchaus mit eigenen Interessen.

11. Eine Lösung des Konflikts auf Verhandlungswege setzt mindestens die Einbeziehung der neuen anti-imperialistischen Organisationen der Region, nämlich von Hamas und Hisbollah voraus. Hamas wurde 2006 in einer demokratischen Wahl mit großer Mehrheit gewählt, CIA und andere versuchten jedoch 2007, die gewählte Regierung von Hamas
durch einen Putsch gestützt auf von ihnen bewaffnete Fatah-Einheiten zu stürzen. Das Erstarken islamischer Parteien in der ganzen Region hat sicher von Staat zu Staat unterschiedliche Gründe, ein gemeinsamer Grund ist der Untergang der UdSSR und mit dieser der Bedeutungsverlust der an ihr einst orientierten Kommunistischen Parteien, die in den Jahrzehnten nach 1945 Massencharakter und Masseneinfluss besaßen. Religiöse Parteien des Islam erscheinen den von Imperialismus und Kapitalismus unterdrückten Klassen und Ethnien oft als einzige noch glaubwürdige Kraft des Widerstandes. Unter dem Druck der sich zuspitzenden politischen und ökonomischen Widersprüche in der Region haben diese Parteien in einigen Ländern (Ägypten, Palästina, Libanon) sich politisch geöffnet zu Kräften der Linken, die schlecht beraten wären, jede Zusammenarbeit abzulehnen. (Z. B. gab es in der riesigen Streikbewegung in Ägypten neue Organisationsformen, in denen Sozialisten und Muslim-Bruderschaften zusammengearbeitet haben.) Ich plädiere für eine kritische aber zugleich vorurteilsfreie Analyse und vorsichtige Kontaktaufnahme mit diesen Parteien. Ihre politische Ausgrenzung kann auch denen nicht Recht sein, die an einen Verhandlungsfrieden unter den gegenwärtigen Bedingungen glauben.

Editorische Anmerkungen

Dipl. Soz. Volkhard Mosler ist Mitglied im geschäftsführenden Vorstand
des Kreisverbandes DIE LINKE Frankfurt a. M. Den Vortrag hielt er auf
einem Nahost-Seminar der „AG Frieden und Internationale Politik“ der
LINKEN, das im November 2008 in Berlin stattfand.

Den Text erhielten wir von der WASG-Infos@yahoogroups.de am 11 Jan 2009 13:49 - dort hieß es:  Mit Zustimmung von Volkhard verschicke ich seinen Vortrag vom November vergangenen Jahres zum Thema "Israel und die Linke" (bewusst nicht überschrieben: Israel und DIE LINKE).