Rosa Luxemburgs Beitrag zum Marxismus

von Martin Suchanek

01/09

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Vor 90 Jahren wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - heroische Vorkämpfer und Führer der Revolution - bestialisch ermordet. Der deutsche Imperialismus zeigte einmal mehr, dass er zum Erhalt seiner Macht vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Auch die deutsche Sozialdemokratie offenbarte wie schon im Ersten Weltkrieg oder später bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ihre Bereitschaft, für die Verteidigung des Kapitalismus durch ein Meer von Blut zu waten.

Wie viele andere revolutionäre KämpferInnen des 20. Jahrhunderts mussten Liebknecht und Luxemburg nicht nur zu ihren Lebzeiten Verleumdung und pogromartige Hetze ertragen. Auch posthum wurde ihr Andenken geschändet - und zwar nicht nur von der offenen bürgerlichen, imperialistischen Reaktion.

Die Sozialdemokratie, die Luxemburg und Liebknecht bis auf Blut bekämpf hat, und deren Parteispitze an ihrer Ermordung tätig mitwirkte, beruft sich bei Bedarf auch auf das „Erbe“ jener, die sich gegen solche obszön-zynische Eingemeindung nicht mehr wehren können.
In ähnlicher Weise „gedenken“ die Stalinisten, die schon Lenins revolutionäres Erbe abtöteten, pervertierten und den Strategen und Führer der Oktoberrevolution unfreiwillig symbolträchtig im Mausoleum entsorgten, jener Rosa Luxemburg, gegen deren revolutionären Internationalismus sie im Zuge der Stalinisierung zu Felde zogen.
Ihren politischen und theoretischen Beitrag zum Marxismus, der sie zur größten Revolutionärin des 20. Jahrhunderts macht, wollen wir uns in diesem Beitrag widmen. Angesichts der Kürze dieses Artikels kann eine solche Darstellung nur kursorischen Charakter haben. Sie kann eine nähere Beschäftigung mit dem Werk Rosa Luxemburgs nicht ersetzen.

Das trifft umso mehr zu, als die 1871 im polnischen Zamosc in einem liberalen jüdischen Elternhaus geborene Luxemburg in ihrem kurzen Leben auf verschiedenen Feldern für den revolutionären Marxismus focht.

Sie gründete zwei revolutionäre Parteien: die „Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPL) und die KPD bzw. deren Vorläufer Spartakusbund mit und leitete sie. Sie stand jahrelang am linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationale - gegen den Revisionismus der Rechten, aber auch als eine der ersten gegen den Zentrismus der Kautsykianer.

Ihr Name ist untrennbar mit dem Kampf gegen den Revisionismus, mit der Analyse der Tendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft, mit der programmatischen Entwicklung der revolutionären Linken vor dem Ersten Weltkrieg und mit der Gründung der KPD verbunden.

Revisionismusstreit

Ende des 19. Jahrhunderts, am Übergang zur imperialistischen Epoche, entbrannte in der Arbeiterbewegung eine grundlegende theoretische und programmatische Debatte um die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und die Taktik der sozialistischen Parteien.
Der wohl bekannteste Theoretiker der Rechten in den Arbeiterparteien, Eduard Bernstein, versuchte in der 1899 erstmals veröffentlichten Arbeit „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ die Marxsche Theorie und die darauf fußende revolutionäre Taktik einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Er wollte damit zugleich der mehr und mehr reformerischen, rein-gewerkschaftlich gewordenen Alltagspraxis der Sozialdemokratie eine theoretische Grundlage verschaffen.
Bernstein argumentierte, dass die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts Marx´ Konzeption des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise widerlegt hätte. Auch die Tendenz zur immer größeren Konzentration und Zentralisation des Kapitals hätte sich nicht verwirklicht. Vielmehr wären die Mittelklassen angewachsen. Schließlich ginge die Entwicklung des Kapitalismus mit einer immer größeren Ausdehnung der bürgerlichen Demokratie einher und würde so der Arbeiterbewegung im Bündnis mit Demokraten die schrittweise Verbesserung der sozialen Lage, die „Hebung der Lage der Arbeiterklasse“ und die schrittweise, reformerische Umgestaltung der Gesellschaft ermöglichen.

Luxemburg antwortet in „Sozialreform oder Revolution“ mit einer vernichtenden Kritik an Bernstein und am gesamten Revisionismus.

Auf über 100 Seiten widerlegt sie die Bernsteinschen Thesen präzise. Sie nimmt damit auch die Entgegnung auf die wichtigsten Argumentationsketten ganzer Generationen später geborener ReformistInnen und SozialreformerInnen, der diversen linken SPDler, Lafontaines und Gysis u.a. Mini-Bernsteins des 20. und 21. Jahrhunderts vorweg. So fasst sie die Konsequenzen dieser Theorie u.a. in folgenden Worten zusammen:
“Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die Sozialreformen zu ermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der nächste Schritt ist also eine „Kompensationspolitik“ – auf gut deutsch – eine Kuhhandelspolitik – und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung kann aber auch nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform, d.h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller und Co. vor Anker gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässern durchstudierten die groß’ und kleine Welt, um schließlich alles gehen zu lassen, wie’s Gott gefällt. Der Sozialismus erfolgt also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht von selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung. Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.” (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Werke 1/1, S. 402ff)

Notwendigkeit der revolutionären Machteroberung

Luxemburg verdeutlicht hier den unüberbrückbaren Gegensatz von revolutionärer, marxistischer Strategie und Taktik einerseits und reformistischer andererseits. In „Sozialreform oder Revolution“ zeigt sie, dass, anders als von Bernstein und Co. behauptet, der imperialistische Kapitalismus nicht mehr und mehr zur Demokratie führt.
So weist sie Bernstein und Co. nach, dass sie die Ablösung ein halb-feudalen oder feudalen Staatsmaschinerie im 19. Jahrhundert und ihre Ersetzung durch einen kapitalistischen und bürokratischen Mechanismus oberflächlich mit einem „mehr an Demokratie“ verwechseln. Vielmehr geht die allgemeine Tendenz der Entwicklung Richtung verschärfte und verallgemeinerte Konkurrenz auf dem Weltmarkt, Militarismus, also Reaktion nach außen. Dieser entspricht, so Luxemburg, zunehmende Reaktion, Einschränkung der (bürgerlichen) Demokratie im Innern.

Aus alldem ergibt sich für Luxemburg die unbedingte Notwendigkeit des Festhaltens an der revolutionären Machtergreifung, der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat.
„In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug fühlte, die politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtssystem umzuwerfen, um ein neues aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, daß er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt ihrer Geschichte bildet, war nämlich die Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aller aufstrebenden Klassen, wie der Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen Kämpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den Kämpfen des Patriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit den Patriziern mit den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in der Neuzeit.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z.B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.
Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (ebenda, S. 427/428)

Generalstreikdebatte und Verhältnis von Partei und Gewerkschaft

Die Frage des Verhältnisses von Reform und Revolution warf in der Sozialdemokratie natürlich auch praktische Fragen auf. Hier nur einige, wichtige:

- Auseinandersetzung um den Eintritt in bürgerliche Reformregierungen durch die französische Sozialdemokratie;
- Haltung zum Generalstreik;
- Kampf um das Frauenwahlrecht;
- Kolonialpolitik;
- Kampf gegen den Militarismus und den aufkommenden Krieg.

Wie schon aus den obigen Fragen erkennbar, betrafen die Auseinandersetzungen zwischen rechtem und linkem Parteiflügel bis zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale alle grundlegenden Fragen der nationalen und internationalen Politik. Die zunehmenden Gegensätze, deren Unvereinbarkeit Luxemburg früher als alle anderen prominenten FührerInnen des linken Flügels, also auch eher als Lenin und Trotzki erkannte, wurden immer deutlicher. Immer mühsamer wurde sie, v.a. nach der Niederlage der Russischen Revolution 1905 vom „Zentrum“ um Bebel und Kautsky zusammengehalten. Ihre Lösung für die Konflikte zwischen Linken und Rechten bestand zunehmend in Formelkompromissen, Zurückweisung von Revisionismus und Reformismus in der Theorie und deren Akzeptanz in der Praxis.

Luxemburg wurde hingegen mehr und mehr zum Hassobjekt nicht nur der Reaktion, von Feudalen und Bürgerlichen, sondern auch der Parteirechten und der Gewerkschaftsführer in Deutschland.

Gerade in den Spitzen der Gewerkschaften fand sich um die Jahrhundertwende der organisierte Kern der Rechten in der Partei, des Revisionismus. Was Bernstein „wissenschaftlich“ zu begründet suchte, setzten die „Praktiker“ längst um. Sie wollten keine „Revolutionsspielchen“, sie wollten keine „Generalstreikabteuer“ oder „Generalunsinn“, sie wollten sich nicht von Sozialistischer Internationale und Partei zu militanten Formen des Klassenkampfes gegen den heraufziehenden imperialistischen Krieg oder gar gegen die Kanonenbootpolitik des Wilhelmismus verpflichten lassen. Wie Luxemburg gut erkannt hatte, war der „schroffe Klassenstandpunkt“ des Marxismus für sie ein Hindernis bei ihrer gewerkschaftlichen „Kompensationspolitik“.

Daher auch das permanente Streben der Gewerkschaftsführungen in Deutschland, sich von Beschlüssen der Sozialdemokratie oder internationalen Kongressen „unabhängig“ zu machen. Luxemburg wetterte scharf gegen diese Absichten und zerpflückte die ganze Politik der Apparate in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“:
“Diese Theorie von der parallelen Aktion der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften und von ihrer „Gleichberechtigung“ ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern hat ihre geschichtlichen Wurzeln. Sie beruht nämlich auf einer Illusion der ruhigen, „normalen“ Periode der bürgerlichen Gesellschaft, in der der politische Kampf der Sozialdemokratie in dem parlamentarischen Kampf aufzugehen scheint. Der parlamentarische Kampf aber, das ergänzende Gegenstück zum Gewerkschaftskampf, ist ebenso wie dieser ein Kampf ausschließlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Er ist seiner Natur nach politische Reformarbeit, wie die Gewerkschaften ökonomische Reformarbeit sind. Er stellt politische Gegenwartsarbeit dar, wie die Gewerkschaften ökonomische Gegenwartsarbeit darstellen. Er ist, wie sie, auch bloß eine Phase, eine Entwicklungsstufe im Ganzen des proletarischen Klassenkampfes, dessen Endziele über den parlamentarischen Kampf wie über den gewerkschaftlichen Kampf in gleichem Maße hinausgehen. Der parlamentarische Kampf verhält sich zur sozialdemokratischen Politik denn auch wie ein Teil zum Ganzen, genauso wie die gewerkschaftliche Arbeit. Die Sozialdemokratie ist eben heute die Zusammenfassung sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes in einem auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gerichteten Klassenkampf.

Die Theorie von der „Gleichberechtigung“ der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie ist also kein bloßes theoretisches Mißverständnis, keine bloße Verwechslung, sondern sie ist ein Ausdruck der bekannten Tendenz jenes opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie, der den politischen Kampf der Arbeiterklasse auch tatsächlich auf den parlamentarischen Kampf reduzieren und die Sozialdemokratie aus einer revolutionären proletarischen in eine kleinbürgerliche Reformpartei umwandeln will. Wollte die Sozialdemokratie die Theorie von der Gleichberechtigung der Gewerkschaften akzeptieren, so würde sie damit in indirekter Weise und stillschweigend jene Verwandlung akzeptieren, die von den Vertretern der opportunistischen Richtung längst angestrebt wird.” (LW 2, S. 156f)

Obiges Zitat verdeutlicht übrigens auch, dass Luxemburg keineswegs eine „reine“ „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung von Klassenbewusstsein oder des Verhältnisses von Partei und Bewegung vertrat. Das kommt auch dort zum Vorschein, wo sie immer wieder die Notwendigkeit der Sammlung, Formierung und Schulung der fortgeschrittensten ArbeiterInnen, der Avantgarde, in einer revolutionären Klassenpartei betont, einer Partei, die Führerin des Kampfes sein muss.

Kritik an Kaustky

Ein bleibendes Verdienst Luxemburgs ist es, nicht nur gegen die Rechte zu polemisieren, sondern auch - früher als andere - den zunehmend kompromisslerischen und hohlen Charakter der Politik Kautskys zu erkennen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Jahren 1910-14 verschärfte sie ihre Angriffe gegen das „Zentrum“ der Partei, weil dieses mehr und mehr von revolutionärer Klassenpolitik gegen den Imperialismus abgerückt war. So brandmarkte Luxemburg die reformistische und pazifistische Programmatik Kautskys (Rüstungsbeschränkung, internationales Schiedsgerichte usw.).

Es ist kein Wunder, dass diese Arbeiten Rosa Luxemburgs heute kaum bekannt und rezipiert werden, sind sie doch nicht nur eine vernichtenden Kritik an Reformismus und Zentrismus, sondern auch den UN-Huldigungen der heutigen „Friedensbewegung“, der LINKEN, der DKP oder der Gewerkschaftsbürokratie.

Imperialismusbegriff und Krisentheorie

Luxemburg war bekanntlich auch eine Theoretikerin, die versuchte, die Entwicklung des Kapitalismus, seine inneren Krisentendenzen zu fassen. In „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ sowie in „Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik“ (beide in LW, Bd. 5) stellt sie selbst den Anspruch, „dass die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muss“ (Antikritik, S. 431).

So groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der Marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen - nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie, wo sie zeigt, dass Marx sehr wohl eine „Zusammenbruchstheorie“ kennt - sind, so muss auch festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzeln (...) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten gerade nicht nachkommt.
Darauf haben u.a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ hingewiesen. Dort fasst Grossmann seine Kritik wie folgt zusammen:
„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ (Grossmann, S. 21)

Fehler Luxemburgs

Wie alle großen RevolutionärInnen hat Luxemburg auch wichtige Fehler gemacht. Sicher gehören zu den bekanntesten ihr mangelndes Verständnis der nationalen Frage, des Befreiungskampfes unterdrückter Nationen, wie Lenin es richtig seiner Kritik an der Junius-Broschüre beschreibt.

Ebenso gehören zu den theoretischen Schwächen ihre, wenn auch von grundsätzlicher Solidarität getragenen, Kritik an den ökonomischen Maßnahmen der Oktoberrevolution unter Lenin und Trotzki dazu.

Doch ihre Begeisterung für die Revolution war unbestreitbar groß. Sie erblickte im Oktoberaufstand immerhin die „Ehrenrettung des internationalen Sozialismus“.
Aber Luxemburg mochte sich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen des ehemals zaristischen Russlands ebensowenig anzufreunden wie mit dem Agrarprogramm der Oktoberrevolution.

Ihre vielleicht tiefgehendste Meinungsverschiedenheit zeigte sich an ihrer Kritik an der Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki im Jahr 1918. Darin plädierte Luxemburg noch für eine parallele Einrichtung von Sowjetorganen und Konstituante und dafür, dass die Bolschewiki eine Neuwahl zur Konstituierenden Versammlung hätten durchführen sollen.

Luxemburg war hier nicht klar, dass unter der Diktatur des Proletariats, wie überhaupt in der proletarischen Revolution ein dauerhafter Dualismus von Organen der revolutionären Demokratie, von Räten, also Organen der Klassenherrschaft des Proletariats einerseits und von bürgerlich-parlamentarischen Organen, also Herrschaftsformen der Bourgeoisie nicht möglich ist. Dieser Dualismus würde eine Permanenz der Doppelmacht bedeuten; er würde bedeuten, dass sich nach erfolgter Machteroberung der Arbeiterklasse die Reaktion automatisch um die bürgerlichen Organe formiert. Es bedeutet, dass dieser Dualismus in der einen oder anderen Weise zugunsten der einen oder anderen Seite, von Revolution oder Konterrevolution, beendet werden muss.

Wie Paul Frölich in seiner lesenswerten Luxemburg-Biografie schreibt, weist vieles darauf hin, dass Luxemburg anhand der Erfahrungen der deutschen Revolution und der konterrevolutionären Rolle, die darin die Verfassunggebende Versammlung spielte, die Schwächen ihrer Position zu erkennen begann.

Haltung zum Leninismus

Doch selbst in ihren Fehlern und Schwächen war und bleibt sie revolutionäres Vorbild, denn selbst diese speisten sich immer aus dem Willen, den Klassenkampf des Proletariats theoretisch und praktisch voranzubringen.

Auch wenn Luxemburg keine „Spontaneitätstheorie“ der Entwicklung des Klassenbewusstseins vertrat und der „Luxemburgismus“ über weite Strecken eine posthume Konstruktion ist; auch wenn sie unbedingt an der Notwendigkeit einer revolutionären Partei festhielt, so wäre es falsch, ihre Unterschiede zu Lenin zu negieren.
Erstmals traten diese schroff in der Russischen Sozialdemokratie nach dem Parteitag 1903 zutage, nach dem Luxemburg heftig gegen Lenins Kampf für eine straff zentralisierte und disziplinierte Partei von Berufsrevolutionären polemisierte. Zweifellos gehören diese Artikel - im Inhalt durchaus Trotzkis anti-bolschewistischen Broschüren und Aufsätzen dieser Periode ähnlich - zu den schwächsten und oberflächlichsten Arbeiten Luxemburgs.
In „Rosa Luxemburg und die IV. Internationale“ bietet Trotzki ein sehr klare und ausgewogene Einschätzung von Luxemburgs Parteiverständnis im Unterschied zu Lenin:

„Rosa selbst blieb nie bei der reinen Spontanitätstheorie stehen, wie etwa Parvus, der später seinen sozialreformerischen Fatalismus mit ekelhaftestem Opportunismus vertauscht hat. Im Gegensatz zu Parvus war Rosa Luxemburg bestrebt, den revolutionären Flügel des Proletariats im voraus zu erziehen und - sowie möglich - organisatorisch zu erfassen. In Polen hat sie eine sehr straffe selbstständige Organisation aufgebaut. Man könnte höchstens sagen, dass bei Rosa in ihrer geschichtsphilosphischen Einschätzung der Arbeiterbewegung die vorbereitende Auslese der Avantgarde im Vergleich zu den zu erwartenden Massenaktionen zu kurz gekommen ist, während Lenin - ohne sich mit den künftigen Aktionswundern zu trösten - stets und unermüdlich die fortgeschrittenen Arbeiter illegal oder legal, in den Massenorganisationen oder im Versteck, vermittels eines scharf umrissenen Programms zu festen Zellen zusammenschweißte.

Die Sponaneitätstheorie Rosas war eine heilsame gegen den verknöchterten Apparat des Reformismus. Indem sie sich manchmal gegen die Leninsche Arbeit des Aufbaus eines revolutionären Apparats richtete, offenbarte die Theorie - allerdings nur im Keime - reaktionäre Züge. Bei Rosa selbst geschah es nur episodisch. Sie war viel zu realistisch im revolutionären Sinne, um aus den Elementen der Spontaneitätstheorie eine vollendete Metaphysik zu konstruieren. Praktisch untergrub sie selbst - wie gesagt - ihre Theorie auf Schritt und Tritt. Nach der Novemberrevolution von 1918 begann sie die leidenschaftliche Arbeit der Zusammenfassung der proletarischen Avantgarde.“ (Trotzki, Rosa Luxemburg und die IV. Internationale, in: Trotzki, Schriften über Deutschland, S. 687/688)

Die große Revolutionärin konnte diese Arbeit nur beginnen. Im Januar 1919 wurde sie von der Konterrevolution ermordet. Doch ihr Vermächtnis lebt weiter - und auch die Aufgaben, für die sie unermüdlich arbeitete: die proletarische Weltrevolution, der Aufbau einer neuen, kommunistischen Partei und Internationale.
 

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir von

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 402
9. Januar 2009

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