90 Jahre KPD - 40 Jahre KPD/ML
"Legitime Nachfolgerin"
Leseauszug aus: Parteien-Handbuch

von Richard Stöss (Hrsg)

01/09

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Im September 1964 erschien erstmals die deutschsprachige Ausgabe der „Peking-Rundschau", so daß nun auch in der Bundesrepublik eine regelmäßig erscheinende Informationsquelle über den chinesischen Weg vorhanden war. 

Welche Kreise von der chinesischen Literatur erreicht wurden, läßt sich heute schwer feststellen. Sicher ist nur, daß in allen westeuropäischen kommunistischen Parteien und auch in der illegalen bundesrepublikanischen KPD die chinesischen Positionen zu ideologischen Auseinandersetzungen führten. In vielen westeuropäischen Ländern entstanden in dieser Phase neue, am chinesischen Kurs orientierte Parteien, die allerdings sehr klein blieben(6). 

In der Bundesrepublik gab es 1964 erste Anzeichen einer illegalen maoistischen, marxistisch-leninistischen(7) Strömung. Im Laufe der nächsten Jahre wurden die Kon­turen deutlicher sichtbar: Am 5. März 1965 wurde die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD*) gegründet, am 22. April 1967 die Freie Sozialistische Par­tei (FSP)(8) in Frankfurt, die im folgenden ausschließlich im Siegerland in Erscheinung trat, und im Juli 1967 trat erstmals eine „nicht unbedeutende Gruppe Marxisten-Leninisten der Wasserkante"(9) mit einer Zeitung namens „Roter Morgen" an die Öffentlichkeit. Anzeichen für weitere Gruppen gab es in Mannheim und in Nordrhein-Westfalen. Alle hatten lediglich regionale und sehr eng begrenzte Aktionsradien. Daß die Hamburger Gruppe um die Zeitschrift „Roter Morgen" hier besondere Be­achtung findet, hat einzig den Grund, daß sie später den Kern der KPD/ML bilden sollte. Die erste Ausgabe von „Roter Morgen" veröffentlichte eine „Erklärung der Marxisten-Leninisten der Kommunistischen Partei Deutschlands", in der vom „ungeheuerlichen Verrat" der „Kossygin-Breschnew-Clique an den Völkern der Sowjetunion" sowie am „gesamten internationalen Proletariat" die Rede war. Die „ruhmreiche Kommunistische Partei Chinas [sei dagegen] die mächtige Avantgarde der revolutionären Weltbewegung". Ganz bewußt verstand sich die Hamburger Gruppe als Fraktion innerhalb der illegalen KPD, da eine eigene Parteigründung „zur Zeit unter den in Westdeutschland waltenden Umständen nicht zweckmäßig sei"(10); vielmehr sollte „ innerhalb und außerhalb der Partei eine breite Diskussion an der ideologischen Front zur Entlarvung des Revisionismus" geführt werden. Der im folgenden monatlich erscheinende „Rote Morgen" war ein getreuer Spiegel der chinesischen (und albanischen) Positionen. Auf das Heftigste wurde gegen alle Spielarten des „modernen Revisionismus" polemisiert: Nach dem Tod Stalins im Jahre 1953 sei die Sowjetunion revisionistisch entartet, eine neue „Führungsclique" habe eine „reaktionäre Herrschaft" errichtet, und die DDR sei ein treuer Vasall der Sowjetunion. Auch die illegale KPD habe sich dieser Linie angeschlossen, so daß sich der Chruschtschow-Kurs der friedlichen Koexistenz mit den Vereinigten Staaten bis in ihre Reihen fortgesetzt habe; man rede vom „parlamentarischen Weg" zum Sozialismus,  ein  wirkliches „Ansprechen der Probleme des Weltkommunismus" finde aber nicht mehr statt. 

Der „Rote Morgen" erschien zunächst hauptsächlich im norddeutschen Raum, doch personell lokalisierbar wurde der Kreis erst, als ab November 1967 das Ham­burger KPD-Mitglied Ernst Aust als verantwortlicher Redakteur zeichnete. Aust hatte bis 1966 die KPD-loyale Küstenzeitung „Blinkfüer" herausgegeben und bei seinem umstrittenen Überlaufen(11) zur Gruppe „Roter Morgen" die 5 000 Adressen der „Blinkfüer"-Abonnenten mitgenommen. In einer Rede (1977) gab Aust be­kannt, daß er nicht erst im November 1967 zum „Roten Morgen" gestoßen sei, son­dern bereits die erste Ausgabe des „Roten Morgen" vom Juni 1967 initiiert habe(12). Sein Ziel sei es gewesen, mit dem „Roten Morgen" eine Zeitung aufzubauen, die an die „ruhmreiche Tradition der vor 1933 erschienenen ,Roten Fahne'"(13) anknüpfen sollte. Daß dahinter auch die Übernahme des alten Sozialfaschismus-Konzepts der Weimarer KPD stand, sollte sich bald zeigen: Wir lebten auch heute „unter einer mi-litaristisch-faschistischen Herrschaft", die durch den „offenen Verrat der sozialde­mokratischen Herrschaftsclique und der reaktionären Bonzen im DGB(14) unter­stützt werde; deshalb gelte es für alle Revolutionäre, den Kampf dagegen aufzuneh­men. Damit wurde von der Gruppe um den „Roten Morgen" bewußt ein Konzept propagiert, das der kommunistischen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik schon einmal eine schwere Niederlage beschert hatte. 

Zu Beginn des Jahres 1968 traten Ereignisse ein, die die Arbeit der Chinaorien­tierten Kommunisten innerhalb der illegalen KPD in Frage stellten. Spätestens seit Anfang 1968 deutete vieles darauf hin, daß aus bzw. anstatt der illegalen, Moskau­orientierten KPD bald wieder eine legal zugelassene kommunistische Partei entste­hen würde: Am 8. Februar 1968 stellte die illegale KPD auf einer Pressekonferenz in Frankfurt einen neuen Programmentwurf vor. Der Streitpunkt mit Bundesbehörden und Justiz bestand im wesentlichen nur noch in der Frage, ob eine Wiederzulassung der KPD oder eine Neugründung erfolgen sollte (Deutsche Kommunistische Partei). Überdies befand sich die westdeutsche Außerparlamentarische Opposition auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und erweckte bei den maoistischen KPD-Anhängern die Hoffnung auf eine relevante soziale Basis.

Der „Rote Morgen" kündigte eine Auseinandersetzung mit dem Programment­wurf der KPD an und wies gleichzeitig darauf hin, daß es nun darauf ankomme, „eigene Vorstellungen" für „den Weg zu einem einigen sozialistischen Deutschland" zu entwickeln und „in einer programmatischen Erklärung zusammen[zu]fassen(15). Ein erster Schritt dazu war die Zusammenarbeit marxistisch-leninistischer Gruppen aus Hamburg, dem Siegerland, Mannheim, Karlsruhe und Nordrhein-Westfalen „mit dem Ziel der Gründung einer deutschen revolutionären marxistisch-leninistischen Partei"(16). Als Gründe wurden neben dem „schändlichen Verrat der modernen Revi­sionisten" die „Verantwortung vor der deutschen Arbeiterklasse und dem deutschen Volk", „die [sich] ständig verschärfenden Klassengegensätze und [die] zunehmende Faschisierung der Bundesrepublik" sowie die „Erkenntnis, daß nur das sich organi­sierende revolutionäre Proletariat in der Lage ist, die bestehenden Klassenverhältnis­se in seinem Sinne zu ändern", angegeben. 

Im September 1968 arbeiteten angeblich bereits „in 21 Städten und Orten"(17) maoistische marxistisch-leninistische Gruppen, und auf einer Tagung am 26. Okto­ber 1968 beschloß der „vorläufige Vorstand der sich neu konstituierenden KPD (ML)" in Köln unter Leitung von Ernst Aust, „zur Gründung einer marxistisch-leni­nistischen Partei" aufzurufen. Am 31. Dezember 1968 schließlich trafen sich „33 Delegierte aus allen Teilen Westdeutschlands und Westberlins" in Hamburg und gründeten die KPD/ML als „legitime Nachfolgerin der revolutionären Partei Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und Ernst Thälmanns". Der Gründungsparteitag veröffentlichte eine Programmatische Erklärung und das Statut der Partei(18). 

Anmerkungen 

6) Über die Gründungen eigener maoistisch orientierter kommunistischer Parteien in Westeuropa s. ebd., S. 125 ff. Auf die Bedeutung der Pekinger Publikationen für Chinaorientierte Kommunisten in der Bundesrepublik weist der Vorsitzende der KPD/ML, Ernst Aust, z.B. in einer Rede anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Zentralorgans seiner Partei hin. Vgl. Roter Morgen. 25/1977, S. 11.

7) Für die an China orientierten Kommunisten und damit auch für die KPD/ML wird die Be­zeichnung „Marxisten-Leninisten" bzw. „marxistisch-leninistisch" benutzt, ohne daß damit eine Bewertung des Marxismus-Leninismus der moskautreuen Kommunisten erfolgt. Auch sie verstehen sich nach wie vor als Marxisten-Leninisten. ohne dies in der Weise zu betonen wie die Chinaorientierten Kommunisten.

8) Diese maoistische Partei stand in keiner Beziehung zu der rechtsextremistischen -» Freien Sozialistischen Partei (FSP).

9) Roter Morgen, Nr. 1, Juli 1967. S. 1. .

10) Ebd.

11) Aust ist häufig vorgeworfen worden, noch kurz vor seinem Ausscheiden als Herausgeber des „Blinkfüer" Artikel gegen die VR China geschrieben und publiziert zu haben. Vgl. dazu auch Gerd Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1968—1976. Köln und Gütersloh 1976, S. 109. Anm. 7.

12) Roter Morgen, 25/1977, S. 11. .

13) Roter Morgen, November 1967, S. 2.

14) Roter Morgen, Juni 1968, S. 1.

15) Roter Morgen, März 1968, S. 8.

16) Roter Morgen, Mai 1968, S. 1.

17) Roter Morgen, September 1968, S. 2.

18) „Programmatische  Erklärung"  und   „Statut  der  Kommunistischen  Partei   Deutschlands/ Marxisten-Leninisten" (laut Beschluß des Gründungsparteitages vom 31.12.1968), o.O., o.J.

Editorische Anmerkungen

Richard Stöss (Hrsg) Parteien-Handbuch, Band 3, S. Opladen, S.1832ff

*) Diese MLPD ist nicht identisch mit der heutigen MLPD. Es gibt nicht einmal personelle Verbindungen. Die 1. MLPD bestand auch nur eine kurze Zeit.

Siehe im TREND zur KPD/ML-Gründung auch: