Herrn Michael Heinrichs Umwälzung des Marxismus
Ein Berliner Politologe kritisiert die politische Ökonomie. Das Ergebnis hat mit Karl Marx nicht viel zu tun.

MASCH-Skript von Holger Wendt

01/08

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Das Ende der Geschichte wurde vertagt. Mit dem wachsenden Elend breiter Bevölkerungsschichten selbst in den Industrieländern, mit jeder ökologischen Hiobsbotschaft, mit jedem neuen Krieg wachsen die Zweifel an der Güte der besten aller möglichen Welten. Die Skepsis gegenüber den Dogmen der neoliberalen Ideologen wächst mit. Viele Menschen suchen nach Alternativen, manche auch ganz links. Marx mag tot sein, das Interesse am Marxismus ist nicht totzukriegen. Was aber ist Marxismus? Und was sagte Marx? Nur die Wenigsten greifen, wenn sie sich diese Frage beantworten wollen, direkt auf Originalschriften zurück. Das ‚Kapital’, die ‚Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie’ oder selbst ‚Lohn, Preis und Profit’ sind für Leserinnen und Leser ohne Vorkenntnisse schwer verdaubare Kost. Hier hilft Sekundärliteratur. Das in Deutschland derzeit mit Abstand bestverkaufte Buch für Marx-Einsteiger ist Michael Heinrichs „Kritik der PolitischenÖkonomie - Eine Einführung“ Damit wären wir beim Problem: Der Titel täuscht. Es handelt sich weniger um eine Einführung in die Marxsche Ökonomiekritik als vielmehr um eine im Geiste der sogenannten ‚Neuen Marxlektüre’ geführte Abrechnung mit der marxistischen Arbeiterbewegung. Und dabei springt Marx gleich mit über die Klinge.

Feindbild „Traditionsmarxismus“

Was lernt die junge Studentin, die sich mit Heinrichs Büchern dem Marxschen Werk nähern möchte? Zunächst dies: Generationen von Marxistinnen und Marxisten haben Marx gründlich missverstanden. Schlimmer: Man hat sie hinters Licht geführt. Der Schurke im Stück ist der „Traditionsmarxismus“, dessen Grundlagen Friedrich Engels mit seiner Schrift „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ gelegt hat(1). Dass Karl Marx den „Anti-Dühring“ en detail kannte, an dessen Erarbeitung beteiligt war, ja sogar ein Kapitel selbst geschrieben hat, ficht Heinrich nicht an: Seit Engels inkompetentem Eingreifen wandelt der Marxismus auf Abwegen. Noch übler trieb es Lenin, dem eine „weitere Verflachung“ vorgeworfen wird(2), am schlimmsten aber trieb es die Arbeiterbewegung(3). Wer also ist „Traditionsmarxist“? Engels? Kautsky? Bernstein? Luxemburg? Lenin? Hilferding? Bauer? Adler? Gramsci? Brecht? Grossmann? Varga? Sweezy? Lukács? Bloch? Mao? Guevara?  Mattik? Kuczynski? Sartre? Poulantzsas? Mandel? Abendroth? Haug? Schon eine oberflächliche Lektüre der Werke dieser Autoren macht klar: Den Traditionsmarxismus hat es nie gegeben, Heinrichs zentrale Kategorie ist theoriegeschichtlich völlig unbrauchbar. Sehr brauchbar ist sie hingegen als rethorischer Kniff: Wer seine Gegner als „Traditionalisten“ abqualifiziert, erstrahlt selbst im Lichte des revolutionären Neuerers. Eines reichlich arroganten Neuerers obendrein: „Was Ende des 19. Jahrhunderts in der Sozialdemokratie als ‚Marxismus’ dominierte, bestand aus einer Sammlung von ziemlich schematischen Auffassungen: Ein äußerst simpel gestrickter Materialismus, bürgerliches Fortschrittsdenken, ein paar stark vereinfachte Elemente der Hegelschen Philosophie und Versatzstücke Marxscher Begrifflichkeiten wurden zu einfachen Formeln und Welterklärungen kombiniert.“(4) Wer so über die Schriften eines August Bebel, eines Karl Kautsky, eines Franz Mehring oder einer Rosa Luxemburg schreibt, hat sich als Theoriehistoriker sein Urteil selbst gesprochen. Die Polemik gegen den Traditionsmarxismus ist der rote Faden in Heinrichs „Kritik der politischenÖkonomie“. Konkrete Theoretiker, konkrete Schriften, konkrete Textstellen werden allerdings kaum benannt. Immer wieder sagt uns Heinrich, was die Traditionsmarxisten denken würden. Niemals sagt er uns, welcher Traditionsmarxist es wann und wo geschrieben hat. Einschlägige Zitate oder Quellenangaben sucht man vergeblich. Ein Manko, dass jedem Studenten im Grundstudium angekreidet würde, hier hat es System: Es wird nicht belegt, es wird behauptet. Und so wundert sich der Traditionsmarxist: Bei Heinrich erfährt er, dass er den Wert „substantialistisch“ als dingliche Eigenschaft der einzelnen Ware auffasst(5), dass er den Begriff der Ausbeutung als moralische Kategorie missversteht(6), dass der die Dialektik „als eine Art Wunderwaffe, mit der man Alles und Jedes erklären konnte“(7) betrachtet, oder dass für seinen Kommunismusbegriff in erster Linie die Frage einer anderen Verteilung zentral ist, so dass ihm „auch schon ein autoritärer Wohlfahrtsstaat, der sogar gewisse marktwirtschaftliche Strukturen beibehält“ als Sozialismus oder Kommunismus gilt(8). Sicherlich hat die Arbeiterbewegung auch einige äußerst mittelmäßige Theoretiker hervorgebracht – welche politische Bewegung hätte das nicht? Was Heinrich betreibt, ist aber nicht Theoriekritik, sondern Rufmord. Seine Beschreibungen „traditionsmarxistischer“ Positionen sind Karikaturen. Er erschafft sich die Pappkameraden selbst, die er alsdann kühn zur Strecke bringt. Die wirklichen Fragestellungen, die wissenschaftlichen und politischen Probleme, die in der wechselhaften Geschichte des Marxismus diskutiert wurden und die zur Ausprägung der verschiedenen Interpretationsrichtungen innerhalb dieses ungeheuer geschichtsmächtigen Theoriegebäudes führten, werden nicht ernstgenommen, gelangen oft nicht einmal zur Kenntnis.

Marxismus ideologiefrei

Synonym zum Begriff des Traditionsmarxismus verwendet Heinrich den Begriff des ‚Weltanschauungsmarxismus’. „In der Arbeiterbewegung verbreitet war nicht die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie, sondern dieser ‚Weltanschauungsmarxismus’, der vor allem identitätsstiftend wirkte: Er zeigte, wo man als Arbeiter und Sozialist hingehörte, und erklärte alle Probleme auf denkbar einfachste Weise.“(9) Wir lernen: Die Arbeiterbewegung hatte eine Weltanschauung, Michael Heinrich hat keine. Offenkundig hat es sich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen, dass die Ideologie der Ideologielosigkeit auch eine Ideologie ist. Sie ist die unredlichste aller Ideologien. Der Unterschied zwischen den Vertretern des ‚Weltanschauungsmarxismus’ und ihren ideologiefreien Gegnern besteht keineswegs darin, dass die einen eine Weltanschauung haben und die anderen nicht. Der Unterschied besteht darin, dass die einen die philosophischen Grundlagen ihres Denkens offen legen und so die Möglichkeit erlangen, es kritisch zu reflektieren, während die anderen eine lediglich implizite, daher notwendig unreflektierte und inkonsistente Ideologie transportieren. Heinrich ergeht es nicht besser als allen anderen Anti-Ideologen, hinter seinen Thesen stecken hochgradig ideologische Prämissen. Nur sind es nicht die von Feuerbach, Hegel oder Marx, sondern die eines unverdauten Konglomerats aus Neopositivismus, Lebensphilosophie und Postmoderne. Michael Heinrichs Verhaftung mit der spätbürgerlichen Philosophie zeigt sich deutlich in der Herangehensweise an theoriegeschichtliche Aspekte der Marxschen Schriften. In Heinrichs ‚Hauptwerk’, „Die Wissenschaft vom Wert“, das auch seinem Einführungsbuch zugrunde liegt, interpretiert er Marx vom Standpunkt der Kategorien der Kuhnschen Wissenschaftstheorie(10). Also unter Zugrundelegung einer Philosophie, die in der Tradition des Neukantianismus steht und zu den Vorläufern der Postmoderne gerechnet wird. Zu den Kernelementen des Denkens von T.S. Kuhn gehört die Behauptung der Unvergleichbarkeit, der „Inkommensurabilität“ der verschiedenen historisch einander ablösenden Epochen in der Entwicklung einer Wissenschaft. Wissenschaftsgeschichte wäre demnach nicht Geschichte eines Fortschritts in der Erkenntnis der Welt, sondern ein Nach- und Nebeneinander miteinander prinzipiell unvereinbarer und unvergleichbarer Denkansätze(11). Engels und Lenin, Bloch und Lukács hatten Marx Werk als Aufhebung der Theorien seiner Vorläufer betrachtet - Aufhebung hier selbstverständlich im Hegelschen Sinne als dreifache Aufhebung, als Negation, Bewahrung und Emporheben auf eine höhere Stufe verstanden. Sie hatten somit neben dem revolutionär Neuen auch ein Element der Kontinuität betont. Heinrich weist dies zurück(12), sieht nur einen absoluten Bruch in der Wissenschaftsentwicklung. In der Konsequenz fällt das Marxsche Denken aus der europäischen Geistesgeschichte heraus. Es stellt keinen Fortschritt gegenüber der klassischen deutschen Philosophie, dem utopischen Sozialismus und der ökonomischen Klassik dar, es ist ein völlig Anderes. Marx Klassenbegriff hätte demnach nichts mit den Klassenbegriff eines Adam Smith, Marx Wertlehre nichts mit der Arbeitswertlehre eines David Ricardo, Marx Kapitalismuskritik nichts mit der Kapitalismuskritik eines Robert Owen, Marx Dialektik nichts mit der Dialektik eines Georg Willhelm Friedrich Hegel zu tun. Entsprechend einseitig fällt Heinrichs Beschreibung des Gegenstands seiner Bücher aus: Kritik der politischen Ökonomie wird lediglich als Kritik von Marx an seinen Vorläufern verstanden.(13) Der Doppelsinn der Formulierung „Kritik der...“, den Marx mit seiner Anspielung auf die Titel der Kantschen Hauptwerke zum Ausdruck bringt, entgeht Heinrich völlig.Kritik der politischen Ökonomie meint bei Marx eben nicht bloß Kritik an der politischen Ökonomie, sondern zugleich auch Kritik vom Standpunkt der politischen Ökonomie aus. Weiter unten werden wir die Konsequenzen dieser Sichtweise kennen lernen: Nachdem Heinrich das progressive Erbe der Aufklärung aus dem Marxschen Werk herausinterpretiert hat, implantiert er an dessen Stelle diverse Versatzstücke aus Fundus der nachklassischen bürgerlichen Philosophie.

Das Ende der Geschichte Analog zu seiner Entfernung des Marxschen Denkens aus der Geistesgeschichte entfernt Heinrich den Gegenstand dieses Denkens, den Kapitalismus, aus der Realgeschichte.(14) Er redet zwar viel von Geschichte, von der historischen Besonderheit des Kapitalismus: „Marx ist sich jedoch darüber im Klaren, dass der Kapitalismus eine besondere historische Produktionsweise ist, die sich von anderen Produktionsweisen wie der antiken Sklavenhaltergesellschaft oder dem mittelalterlichen Feudalismus grundlegend unterscheidet.“(15) Im Gegensatz zu Marx geht es Heinrich aber nicht um das Besondere eines Allgemeinen, um eine spezifische Epoche der Menschheitsgeschichte, sondern wiederum um ein absolut Anderes, das damit aufhört, Teil einer Geschichte zu sein. Sehr gut und glaubhaft kann er von diesem Standpunkt aus die Vorstellungen der bürgerlichen Neoklassik kritisieren, die in allen Formen des Wirtschaftens, vom Neandertal über die griechische Antike bis hin zur modernen Industriegesellschaft, ja selbst auf Robinsons Insel immer nur das ewig gleiche Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung am Werke sieht. Eine solche Verabsolutierung der Kontinuität führt natürlich nicht zu einem Verständnis historischer Entwicklungsprozesse, sondern zur Vorstellung von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Da Entwicklungsprozesse aber immer nur als Einheit von Kontinuität und Diskontinuität gedacht werden können, gelangt Heinrich mittels seiner Verabsolutierung der Diskontinuität ebenso wenig zu einem Begriff von Geschichte. An dessen Stelle tritt bei ihm lediglich die Anschauung eines unvermittelten Nebeneinanders disparater Zustände. Der Kapitalismus wäre demnach keine Epoche eines welthistorischen Entwicklungsprozesses, sondern ein in sich abgeschlossenes System, über dessen Entstehung, dessen Geschichte und dessen Zukunft die ‚Kritik der politischen Ökonomie’ keinerlei sinnvolle Aussagen treffen kann. Jedem, der es wagt, die systematischen Zusammenhänge zwischen historischen Epochen begreifen zu wollen, wirft Heinrich vor, „Geschichtsphilosophie“ zu betreiben. Dieser Begriff wird in seinen Veröffentlichungen durchgängig als Schimpfwort gebraucht, mit Ausdrücken wie „platter Geschichtsdeterminismus“(16) und „Spekulation“(17) belegt. Geschichtsphilosophie setze „die Möglichkeit einer nicht mehr überbietbaren, also ‚absoluten’ historischen Erkenntnis voraus.“(18)

Wohlgemerkt: Heinrichs Ablehnung der Geschichtsphilosophie zielt nicht nur auf bestimmte spekulative Varianten, sondern auf jeden Versuch, Gesetzmäßigkeiten historischer Prozesse zu erkennen.(19) Auch Karl Marx hat sich dieses Verbrechens schuldig gemacht: „Daß in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten ein geschichtsphilosophischer Ansatz im skizzierten Sinn vorliegt, scheint mir offensichtlich zu sein.“, „Geschichtsphilosophisch lässt sich auch das Vorwort von 1859 lesen...“, „Auch nach 1857 finden sich bei Marx eine Reihe ambivalenter Formulierungen und insbesondere in den ‚deklamatorischen’ Teilen seiner Schriften, d.h. den Abschnitten, wo er nicht analysiert, sondern – wie in Vorworten oder dem Abschnitt über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation am Ende des ersten Bandes des Kapital – allgemeine Folgerungen aus seinen Analysen zieht, wird die Grenze zur geschichtsphilosophischen Spekulation zuweilen überschritten.“(20) Heinrich behauptet allerdings, der späte Marx hätte seine frühere geschichtsphilosophische Schwäche überwunden. Er kann zwar auf Hunderten von Seiten nicht ein einziges Zitat vorweisen, in dem Marx sich von seinem ‚überwundenen’ Standpunkt distanziert hätte - die Liste gegenteiliger Passagen aus allen Marxschen Schaffensperioden ist hingegen schier endlos – Heinrichs Interesse an Quellenbelegen scheint aber ohnehin eher instrumenteller Natur zu sein. Der postmoderne Kampf gegen die ‚Geschichtsphilosophie’ hat Folgen für die ökonomische Analyse. Alle Aspekte des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, denen Marx potenziell systemtranszendierende Momente zuschreibt, werden unter Ideologieverdacht gestellt und aus der Kritik der politischen Ökonomie eliminiert. Die Zentralisiation des Kapitals? Marx betont: „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt.“(21) Für Heinrich handelt es sich lediglich um „Tendenzen, die im übrigen keineswegs durchgängig vorherrschen, die sich zuweilen sogar umkehren.“(22) Klassenkämpfe? Im ‚Kapital’ redet Marx vom Proletariat als der Klasse „deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist.“(23) Für Heinrich gab es in der Geschichte „zwar einzelne Situationen, in denen Teile des Proletariats revolutionär agierten, doch waren solche Situationen nicht Ergebnis einer allgemeinen Tendenz der Entwicklung des Proletariats zu einer revolutionären Klasse, sondern Ausdruck der konkreten historischen Umstände (...) Dass Teile des Proletariats revolutionär orientiert  waren, blieb deshalb auch stets nur vorübergehende Erscheinung.“(24) Die Krisen? Marx betrachtet sie als „eklatierende Widersprüche“ die die kapitalistische Produktionsweise „selbst dem groben Blick als bloß historische Übergangsform kennzeichnen.“(25) Heinrich leugnet die über den Kapitalismus hinausweisenden Aspekte der Krisen, betont einseitig die von ihnen ausgehende Wiederherstellung der Bedingungen der kapitalistischen Reproduktion: „Gegen die Vorstellung einer Zusammenbruchskrise wird festgehalten, dass Krisen Lösungen, wenn auch gewaltsame, von Widersprüchen sind: Gerade das Zerstörerische der Krisen ist für die kapitalistische Entwicklung ein produktives Moment.“(26) Der tendenzielle Fall der Profitrate? Marx nennt ihn das wichtigste Gesetz der Politischen Ökonomie, schreibt: „Das Wichtigste in ihrem [der Ökonomen] Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise...“(27). Für Heinrich ist das Ganze ein bloßer Irrtum: „Daher ist der von Marx angestrebte Nachweis, dass die Profitrate aufgrund der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte eine Tendenz zum Fallen haben muß, gar nicht möglich.“ (28)

Es fehlt hier der Platz für den Nachweis, dass die Marxschen Analysen in all diesen Punkten tragfähiger sind als Heinrichs ‚Verbesserungen’. Worauf es mir ankommt, ist zu zeigen, dass die Heinrichsche Darstellung des Marxschen Denkens diesem in wesentlichen Punkten widerspricht, ja völlig entgegensteht. Folgt man Heinrich, hat der Kapitalismus keine Geschichte. Er ist keine transistorische Gesellschaft, er ist ein in sich selbst kreisendes, vielleicht zuweilen von Krisen heimgesuchtes, vielleicht unschönes, letztlich jedoch stabiles System. Die Kritik der politischen Ökonomie zeigt keinen Weg hinaus. Sozialismus ist eine tolle Idee. Mehr nicht.

Abschied von der Arbeitswerttheorie

Heinrichs ahistorische Betrachtungsweise führt nicht nur in Bezug auf die Frage der längerfristigen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu einer den Marxschen Positionen widersprechenden Sichtweise. Sie hat bereits auf der abstrakten Ebene der Werttheorie gravierende Konsequenzen. Heinrich polemisiert gegen Vertreter einer „substanzialistischen“ Werttheorie. Er behauptet „Die Rede von der ‚Wertsubstanz’ wurde häufig quasi-stofflich verstanden: Der Arbeiter oder die Arbeiterin haben ein bestimmtes Quantum abstrakter Arbeit verausgabt und dieses Quantum stecke jetzt als Wertsubstanz in der einzelnen Ware und mache das einzelne Ding zu einem Wertgegenstand.“(29)

Dieser Auffassung gegenüber betont er die Tatsache, das ein Produkt erst durch seine Beziehung auf den Austausch zur Ware wird, „dass die Produkte ihre Wertgegenständlichkeit erst im Austausch erhalten.“(30). Soweit wäre ihm zuzustimmen, bliebe er hier nicht stehen. Anstatt nun Determinanten der Austauschverhältnisse zu bestimmen, die Wechselwirkungen zwischen Produktion und Austausch zu untersuchen, bricht die Heinrichsche Werttheorie bei der Konstatierung der Anerkennung des Wertes im Austausch ab. Heinrich betrachtet den Wert lediglich unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Anerkennung einer vorab verausgabten Privatarbeit im Verkaufsakt auf dem Markt. Diese Sichtweise kommt besonders drastisch im sechsten Kapitel der „Wissenschaft vom Wert“ zum Ausdruck, wo er mit dem Hinweis seiner Gegner, die Produkte kapitalistischer Unternehmen seien ihrer Bestimmung nach immer schon Waren, so gar nichts anzufangen weiß. Bei Heinrich bestimmt nicht der Fortgang des Akkumulationsprozesses, die Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Wert- und Austauschverhältnisse, sondern der Austausch bestimmt ihm zufolge umgekehrt die Wertgröße und damit den Akkumulationsprozess. Aller Rhetorik zum Trotz ist es hier letztlich die Zirkulationssphäre, die über Wertgröße und Preis entscheidet. Damit sind wir glücklich auf dem Boden der subjektiven Wertlehre gelandet: Den Satz, Wert sei das, was der Markt als solchen anerkenne, kann jeder marginalistische Schulökonom unterschreiben.

Natürlich kann sich eine solche Sicht der Dinge nicht auf Marx stützen. Dieser betont unzweideutig, „dass nicht der Austausch die Wertgröße der Ware, sondern umgekehrt die Wertgröße der Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert.“(31) Heinrich sieht sich gezwungen, einen Widerspruch zwischen seiner und der Marxschen Theorie zu konstatieren, schiebt den schwarzen Peter aber Marx zu: „Wie (...) gezeigt wurde, blieb Marx in der Darstellung seiner Werttheorie ambivalent. Zwar entwickelte er wesentliche Momente einer monetären Werttheorie, er fiel aber immer wieder auf das bereits überwundene Terrain einer nicht-monetären Werttheorie zurück.“(32)

Wieder ist es seine undialektische Betrachtungsweise, die Heinrich auf Abwege führt. Indem er zum einen Wesens- und Erscheinungsebene beständig miteinander vermengt (Die Begriffe Wert, Wertsubstanz, Wertgröße und Wertgegenständlichkeit purzeln munter durcheinander), zum anderen die Wertverhältnisse nicht in ihrer Prozesshaftigkeit als stets werdendes Resultat eines sich beständig entwickelnden Reproduktionsprozesses begreift, kann er nicht nachvollziehen, wie Marx Wesen (Wert, Wertsubstanz(33)) und Erscheinung (Wertgegenständlichkeit, Tauschwert, Preis) miteinandervermittelt. Ohne diese beiden zentralen Aspekte Marxscher Dialektik ist der Übergang zu einer positivistischen Auffassung von Wert und Preis unvermeidlich.

Der „ideale Durchschnitt“ Während die große Mehrheit der Marxforscher die Auffassung vertritt, der Gegenstand des ‚Kapital’ sei das Kapital im Allgemeinen, widerspricht Michael Heinrich dieser Ansicht. Immer und immer wieder betont er, Marx ginge es um die Darstellung des ‚Kapital in seinem idealen Durchschnitt’. Auf den ersten Blick eine Detailfrage für Marxologen, auf den zweiten Blick ein Unterschied ums Ganze. Die Betonung der Formulierung ‚idealer Durchschnitt’ bedeutet in der Konsequenz die Eliminierung des Entwicklungsgedankens in der Analyse. Ein idealer Durchschnitt entwickelt sich nicht. Diese Formulierung legt die Interpretation des ‚Kapital’ von vornherein auf eine statische Betrachtung seines Gegenstandes – des Kapitalismus !! - fest. Ein idealer Durchschnitt hat keine Geschichte. Die Rede vom Kapital im Allgemeinen hingegen verweist notwendig auf Besonderes und Einzelnes, öffnet somit den Blick für die historische Dimension der Analyse. Hat Heinrich recht? Die Art, in der er seine Marxinterpretation begründet, ist ein nur allzu typisches Beispiel für seinen Umgang mit Quellentexten. In seiner ‚Kritik der politischen Ökonomie’ rechtfertigt Heinrich seine Lieblingsformulierung auf Seite 28f mit einem einzigen Marx-Zitat. Wer sich jedoch die Mühe macht, die Stelle im dritten Band des Kapital nachzuschlagen, entdeckt, dass der angeführte Beleg nicht mehr ist als ein unvollständig zitierter Satzteil am Ende eines unvollendeten, von Marx nicht redigierten Manuskriptfragments, zudem eines Fragments, dass in einem völlig anderen Kontext steht. Die Satzteil lautet: „...weil die wirkliche Bewegung außerhalb unseres Plans liegt und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben.“(34) Den Kontext dieser Aussage bildet eine Auseinandersetzung mit der sogenannten „Trinitarischen Formel“, also einem vulgärökonomischen Theorem. Selbst in dieser für die zu klärende Frage völlig unsignifikanten Passage schränkt Marx die Relevanz der Rede vom „idealen Durchschnitt“ noch durch ein „sozusagen“ ein. Michael Heinrich hingegen erhebt sie unter souveräner Missachtung unzähliger gegenläufiger Textstellen zum Schlüssel seiner gesamten Analyse des ‚Kapital’.(35)

Das Verschwinden des Menschen

Die Aversion gegen die historische Dimension des Marxschen Denkens treibt Heinrich zu den seltsamsten Stilblüten. Man mag ihm ja noch folgen, wenn er in Bezug auf die von Marx und Engels gemeinsam verfasste ‚Deutsche Ideologie’ feststellt: „Der Versuch, die gesellschaftliche Wirklichkeit mit Hilfe bestimmter Vorstellungen vom ‚Wesen des Menschen’ zu erfassen, wird abgelehnt, da diese Wesensbegriffe immer nur die Hypostasierung bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen sind.“(36)

Statt jedoch nun das Wesen des Menschen im Sinne einer historischen Anthropologie in seiner Entwicklung zu begreifen, lässt er die Menschheit in einer Fußnote verschwinden: "Nun mag man zwar einwenden, dass hinreichend allgemeine Wesensbestimmungen diesem Verdikt nicht unterliegen würden. Aber selbst wenn dies zutrifft, leisten diese allgemeinen Bestimmungen gerade wegen ihrer ahistorischen Allgemeinheit nichts für das Verständnis einer bestimmten Gesellschaft. Hält man beispielsweise 'Gesellschaftlichkeit' als eine solche Bestimmung fest, so muß man sie so allgemein auffassen, daß in ihr nur noch die Tatsache enthalten ist, dass die Menschen in Gesellschaft leben. Dies trifft aber auch auf Schimpansen zu.“(37)

Nichts verbindet uns demnach mehr mit den Menschen vergangener Epochen. Nichts verbindet uns auch mit jenen, die noch oder schon außerhalb kapitalistischer Reproduktionszusammenhänge leben. Der Begriff der Menschheit, die größte Errungenschaft der Philosophiegeschichte, löst sich auf in ein disparates Nebeneinander unterschiedlicher Wesen, denen nicht einmal mehr ein gemeinsamer Gattungsbegriff zugestanden wird. Wenn wir mit den Bewohnern des antiken Griechenland oder den Angehörigen eines traditionell lebenden Ureinwohnerstammes nicht mehr gemeinsam haben als mit einer Schimpansenhorde, dann ist jedem humanistischen Denken die Grundlage entzogen. Einem neurechten ‚Ethnopluralismus’ sind hingegen Tür und Tor geöffnet. Wieder einmal zeigt sich: Die Eliminierung des Entwicklungsgedankens aus der Wissenschaft führt entweder zu unauflösbaren logischen Widersprüchen oder zu Konsequenzen, die dem Marxschen Denken entgegengesetzt sind.

Neues vom demokratischen Rechtsstaat

Auch in Hinblick auf die Staatstheorie ist Heinrich mit dem Traditionsmarxismus unzufrieden:

„Staatskritik wird von den Vertretern dieser Auffassung vor allem als Entlarvung verstanden: Die Neutralität des Staates soll als nur scheinbare nachgewiesen werden.“(38) In der Tat haben Generationen von marxistischen Staatstheoretikern, von Marx und Engels über Lenin, Gramsci und Poulantzas bis jüngst zu Canfora aufzuzeigen versucht, dass der bürgerliche Staat als ‚ideeller Gesamtkapitalist’ letztlich im Interesse der ökonomisch herrschenden Klasse fungiert, dass trotz einer gewissen Arbeitsteilung zwischen ökonomischer und politischer Elite letztere die Interessen der ersteren vertritt. „Der Staat ist der Ort der strategischen Organisation der herrschenden Klasse in ihrem Verhältnis zu den beherrschten Klassen“(39) schreibt Nicos Poulantzas in seiner ‚Staatstheorie’. Der bürgerliche Staat ist Klassenstaat, selbst wenn formale Gleichheit zwischen den Staatsbürgern existiert. Er ist Klassenstaat, nicht obwohl, sondern weil es Millionären und Obdachlosen gleichermaßen verboten ist, unter Brücken zu nächtigen. Heinrich hingegen hält von derartigen Ansichten wenig. Er nimmt die Form für den Inhalt, reproduziert liberale Glaubensformeln: „Der Staat verhält sich den einzelnen Bürgern gegenüber tatsächlich als neutrale Instanz; diese Neutralität ist keineswegs nur Schein.“(40) Zwar räumt Heinrich ein, der bürgerliche Staat vertrete das kapitalistische Gesamtinteresse, relativiert dies aber, da der Staat den Interessen der Bevölkerungsmehrheit Rechnung trage: „Die Auseinandersetzung über die verschiedenen politischen Maßnahmen und die unterschiedlichen Strategien, die Bildung von Konsens und Legitimation, die kapitalismuskonforme Integration von Interessen, all dies umfasst nicht nur die ‚herrschende’, sondern auch die ‚beherrschten’ Klassen. (Man beachte die Anführungszeichen! H.W.)(41). Der Satz „Zwar kann Politik mit den Machtmitteln des Staates auch diktatorisch gegen eine Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden.“ wird sofort wieder abgeschwächt: „Eine länger andauernde Ausschaltung demokratischer Institutionen und die Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit bringt jedoch erhebliche materielle Kosten mit sich (...) und stört zudem erheblich die Ermittlung des kapitalistischen Gesamtinteresses. Militärdiktaturen und Ähnliches sind in entwickelten kapitalistischen Ländern deshalb eher die Ausnahme.“(42) Diese Aussage ist nicht nur sachlich falsch – historisch ist eine funktionierende Demokratie mit uneingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit die seltene Ausnahme – sie versperrt vor allem den Blick auf das Wesentliche: Sobald die Bevölkerungsmehrheit den kapitalismuskonformen Konsens aufkündigt, sobald die Macht der ökonomisch herrschenden Klasse ins Wanken gerät, macht der bürgerliche Staatsapparat Schluss mit dem schönen Schein von Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Kann man Heinrich vorwerfen, er leugne, dass bürgerliche Staaten Klassenstaaten seien? Nein, er gibt sich lediglich große Mühe, deren Klassencharakter zu relativieren. Dabei spielt er sein übliches Spiel: Dem „Traditionsmarxismus“ werden simplifizierende Aussagen untergeschoben, Heinrich kontert mit Allgemeinplätzen, denen er en passant eine gehörige Portion liberaler Ideologie beimischt.

Von der Tragödie zur Farce

Beschäftigt man sich ernsthaft mit der Geschichte der Marx-Rezeption der letzten gut einhundert Jahre, anstatt alle dort verhandelten Probleme und Kontroversen mit generalisierenden Totschlagsbegriffen wie „Traditions-“ oder „Weltanschauungsmarxismus“ einzuebnen, dann springenzahlreiche Übereinstimmungen von Heinrichs Ansichten mit Positionen ins Auge, die in der sozialdemokratischen Diskussion um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vertreten wurden. Worum drehten sich die Debatten zwischen den Theoretikern des reformistischen Flügels der II. Internationale und ihren revolutionären Kontrahenten? Insbesondere drei Problemfelder waren von zentraler Bedeutung: Erstens wurde die Frage nach der philosophischen Grundlage einer adäquaten Interpretation des Marxschen Werkes gestellt. Führende Köpfe der zweiten Internationale, allen voran Eduard Bernstein, hatten in den ‚hegelianischen’ Passagen des ‚Kapital’ eine Marxsche Marotte gesehen, die man um eines besseren Verständnisses Willen tunlichst ignorieren müsse. Marx wurde unter Heranziehung der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie, insbesondere des Neukantianismus, ‚modernisiert’. Lenin, Luxemburg, Lukács und Gramsci betonten statt dessen nachdrücklich die Notwendigkeit, das Marx-Studium vor dem Hintergrund des Hegelschen Denkens zu betreiben. Dies ist der Kontext, in dem Schriften wie „Materialismus und Empiriokritizismus“ oder „Geschichte und Klassenbewusstsein“ verfasst wurden. Die zweite Diskussion kreiste um die Frage, inwiefern der Kapitalismus eine historisch notwendig endliche Gesellschaftsformation sei. Führende Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie vertraten die Auffassung einer prinzipiell uneingeschränkten Entwicklungsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, der Möglichkeit des grenzenlosen Fortganges der kapitalistischen Akkumulation. Der Übergang zum Sozialismus sei nicht als Resultat krisenhafter Prozesse der bestehenden Gesellschaft zu erwarten, sondern das Ergebnis einer richtigen sozialdemokratischen Reformpolitik. Ihre Gegner, es waren dieselben wie oben, betonten zwar die Wichtigkeit revolutionären Handelns, bestanden aber darauf, dass diesem ohne die Berücksichtigung ökonomischer Prozesse, die die kapitalistische Produktionsweise an objektive Grenzen führten, das Fundament entzogen sei. Die Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und den sozialdemokratischen ‚Experten’, die sich an ihren Schriften „Sozialreform oder Revolution“ und „Die Akkumulation des Kapitals“ entzündet hatte, ist in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die Auseinandersetzung zwischen Lenin und Kautsky in Fragen der Imperialismustheorie. Zum Dritten hatte die Frage nach der richtigen Auffassung der Rolle des Staates eine kaum zu überschätzende Bedeutung. War der Staat ein mehr oder minder neutrales Terrain? Konnte sich die Arbeiterklasse seiner bedienen, um die negativen Folgen des Kapitalismus abzumildern und ihre Lebenssituation stetig zu verbessern? Eröffnete der Staat sogar Möglichkeiten, den Kapitalismus schrittweise zu überwinden? Dann war es nur konsequent, wenn sozialdemokratische Politiker versuchten, in staatlichen Institutionen mitzuwirken; die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wurde aus gutem Grund zum wichtigsten Mittel sozialistischer Politik. Sah man im Staat hingegen wesentlich einen Klassenstaat, die zentrale politische Stütze der Macht des Kapitals, dann fiel die Beurteilung der Möglichkeiten des Parlamentarismus deutlich pessimistischer aus. Der bürgerliche Staat musste dann von den Revolutionären zerschlagen, durch einen Arbeiterstaat ersetzt werden. Man vergleiche die entsprechenden Kapitel aus Bernsteins Buch „Der Sozialismus einst und jetzt“ mit Lenins „Staat und Revolution“. Betrachten wir nun die Argumentation der „Kritik der Politischen Ökonomie - Eine Einführung“ und der „Wissenschaft vom Wert“ im Lichte dieser gut 100 Jahre alten Debatten. Heinrich polemisiert gegen den „Hegelmarxismus“, ersetzt das Hegelsche Erbe durch eine Philosophie, die in direkter Traditionslinie zum damals modischen Neukantianismus steht. Er wird nicht müde, die prinzipielle Schrankenlosigkeit kapitalistischer Akkumulation zu betonen. Schließlich legt er großen Wert darauf,den Klassencharakter des bürgerlichen Staates zu relativieren. Sind diese Übereinstimmungen mit den Positionen der damaligen sozialdemokratischen Rechten bloßer Zufall? Ich denke nicht. Sie sind, wenigstens was die theoretische Ebene angeht, notwendige Folge derselben philosophischen Grundentscheidung: Der Abkehr von einer in Hegelscher Tradition stehenden Dialektik.

Abschied von Marx

Die von Michael Heinrich und anderen Vertretern der sogenannten ‚Neuen Marxlektüre’ vertretenen Auffassungen kollidieren an allen Ecken und Enden mit den Marxschen Schriften. In den Anfängen dieser Interpretationsrichtung, die eng mit der Frankfurter Schule und der achtundsechziger Studentenbewegung verknüpft sind, wurden die unliebsamen Passagen einfach Friedrich Engels in die Schuhe geschoben: Dieser hätte Marx grob verfälscht. Eine Behauptung, die die Quellenforschung gründlich zerpflückt hat. Auch der zweite Trick, den alten gegen den jungen Marx ins Feld zu führen, scheiterte kläglich. Gerade die von der Neuen Marxlektüre am heftigsten befehdeten Positionen, etwa die Verbindung begrifflicher und historischer Analyse, die Betonung der zentralen Rolle von Klassenkämpfen oder die Überzeugung, der Kapitalismus sei eine historisch endliche Gesellschaftsformation, ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Marxsche Werk. Heinrich löst dieses Dilemma, indem er die Entwicklung des Marxschen Denkens in eine Unzahl disparater Entwicklungsstufen zergliedert, von denen jede wiederum durch diverse ‚Inkonsistenzen’ und ‚Ambivalenzen’ gekennzeichnet sei. Typischerweise geht Heinrich in einem Dreischritt vor: Zunächst beschreibt er seine Sichtweise unter Verwendung teilweise abenteuerlich interpretierter Marx-Zitate; häufig geschieht dies in der negativen Form einer Abgrenzung vom „Traditionsmarxismus“. Sodann rudert er zurück, räumt ein, dass sich in den Marxschen Schriften Belegstellen finden, die seiner Auffassung widersprechen. Dies nimmt er nun jedoch keineswegs zum Anlass, die eigene Marx-Interpretation zu hinterfragen. Statt dessen attestiert er dem Marxschen Werk innere Widersprüchlichkeit. Im Heinrichschen Original klingt das dann so: „Es ist also nicht nur die Marxsche Selbstreflektion, die mangelhaft ist; seine eigene kategoriale Entwicklung bleibt an entscheidenden Stellen ambivalent“(43),„Wie im sechsten Kapitel gezeigt blieb Marx in seiner Darstellung der Werttheorie ambivalent.“(44), „Auch bei Marx kann man die beiden genannten Fehlschlüsse und eine darauf aufbauende deterministische Auffassung der Geschichte finden...“(45), „Diese Ambivalenzen machen sich auch in der Krisentheorie geltend.“(46) Mittlerweile unterscheidet die ‚Neue Marxlektüre’ einen „esoterischen“ von einem „exoterischen“ Marx. Das zugrundegelegte Kriterium ist dabei so einfach wie pragmatisch: Alle Textpassagen, die der Neuen Marxlektüre ins Konzept passen, gehören zum eigentlichen, „esoterischen“ Marx. Alles hingegen, was ihrer Interpretation widerspricht, ist ideologisches Rudiment, sentimentales Überbleibsel oder auch Produkt schlichten Unverständnisses von Marx gegenüber seiner eigenen Theorie.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich gab es im Marxschen Denken eine Entwicklung, selbstverständlich wurden dabei bestimmte Vorstellungen modifiziert, andere fallen gelassen. Das bedeutet jedoch in keiner Weise, dass es gerechtfertigt wäre, das Marxsche Werk in eine Vielzahl disparater Versatzstücke zu zerlegen und es dem Belieben des Interpreten anheim zu stellen, welche er dem ‚eigentlichen’ Marxschen Denken als zugehörig betrachtet und welche nicht. Wenn eine Schule, die Ende der sechziger Jahre mit dem Anspruch angetreten war, den wirklichen Marx unter einem Berg marxistischer Fehlinterpretationen und fragwürdiger ‚Weiterentwicklungen’ zum Vorschein zu bringen, damit endet, zentrale Bestandteile der Marxschen Theorie als unmarxistisch auf den Müllhaufen zu befördern, dann erklärt sie ihren Bankrott. Von zwei Dingen eins: Entweder ich verstehe mich als Vertreter einer orthodoxen Marxinterpretation. Dann sollte ich mich davor hüten, Marx in einem fort zu schulmeistern. Oder ich meine, die Marxsche Theorie bedürfe dringend einer grundsätzlichen Revision. Dann sollte ich ehrlich genug sein, dies klar und deutlich zu benennen. Michael Heinrich widerspricht Marx explizit in Fragen der Werttheorie(47), der Geldtheorie(48), des Geschichtsbegriffes(49), des Klassenkampfs(50), des tendenziellen Falls der Profitrate(51), der historischen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation(52) und des Sozialismus(53). Das ist legitim. Aber es ist Etikettenschwindel, eine Marx-Demontage als Einführung in das Marxsche Denken zu verkaufen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich halte Michael Heinrichs Ansichten für mehr als bloß für eine weitere verfehlte Interpretation des ‚Kapital’. Ob er sich der Konsequenz seiner Argumentation bewusst ist oder nicht, sie ist ein Angriff auf die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie liegt damit in ihrer Grundausrichtung nicht nur auf der Gegenlinie zum Marxismus, sondern zur gesamten Tradition der Aufklärung. Dass dies unter Verwendung Marxscher Begrifflichkeiten bewerkstelligt wird, macht die Sache nicht besser.

Anmerkungen

1) Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004 (im Folgenden: Kritik), S. 23.

2) Kritik S. 23f. Zwei Seiten später reklamiert Heinrich allerdings Antonio Gramsci, Georg Lukács und Leo Kofler für die Traditionslinie der ‚Neuen Marxlektüre’, also für sich selbst. Der Haken: Alle drei Autoren beziehen sich an zahllosen Stellen ihrer Schriften positiv auf Lenin, verstehen ihre Werke explizit als Weiterführung seines Denkens.

3) Kritik S. 24

4) Kritik S. 23

5) Kritik S.52ff

6) Kritik S. 94

7) Kritik S. 35

8) Kritik S. 227

9) Kritik S. 23

10) Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2006 (im Folgenden: Wissenschaft), S.20ff

11) vgl. T.S. Kuhn, Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1967, S.
12) Wissenschaft S. 382f

13) vgl. Kritik S. 30 ff

14) Thomas S. Kuhn hatte dies noch offen ausgesprochen: „Dieser genetische Aspekt der Parallele zwischen politischer und wissenschaftlicher Entwicklung dürfte nicht länger zweifelhaft sein.“ (Kuhn, S. 129). Bei Heinrich vollzieht sich die Operation unter der Hand.

15) Kritik S. 30

16) Wissenschaft S. 149

17) Wissenschaft S. 150

18) Wissenschaft S. 150

19) Wen wundert es da noch, dass der ‚Hegelmarxismus’ abgelehnt, Hegel einmal mehr zum toten Hund erklärt wird? „Mehr als ein ‚Kokettieren’ mit der Hegelschen Ausdrucksweise scheint [Marx] daher (...) zunächst einmal gar nicht möglich gewesen zu sein.“ (Wissenschaft S. 170)

20) Wissenschaft S. 151

21) MEW 23/791

22) Kritik S. 221

23) MEW 23/22

24) Kritik S. 198

25) MEW 26.3, S.80

26) Wissenschaft S.369

27) MEW 25/252, vgl. auch MEW 32/74

28) Wissenschaft S. 337

29) Kritik S. 47 - Wieder verrät uns Heinrich nicht, wer denn diese Auffassung eigentlich vertritt.

30) Wissenschaft S. 216
31) MEW 23/78

32) Wissenschaft S. 391

33) Der Marxsche Begriff ‚Wertsubstanz’ ist Heinrich offenkundig peinlich. Zwar sagt er uns wieder und wieder, was nicht gemeint ist (ein ‚Substrat’), gibt aber nirgends eine positive Bestimmung. Sollte ihm die philosophiegeschichtliche Dimension des Terminus ‚Substanz’ entgangen sein?

34) MEW 25/839

35) Auf Seite 195 der ‚Wissenschaft vom Wert’ präsentiert Heinrich noch eine zweite Belegstelle. Leider beweist diese das glatte Gegenteil seiner These. Hier heißt es: „Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist...“. (MEW 25/120)

36) Wissenschaft S. 138

37) Wissenschaft S. 138, Fußnote

38) Kritik S. 205

39) Nicos Poulantzas, Staatstheorie, VSA Verlag, Hamburg 2002, S.179. Diese Sichtweise schließt nicht nur nicht aus, sondern sie bedingt, dass die Kämpfe der unterdrückten Klassen in die Staatsapparate eingeschrieben sind. Demokratische und sozialstaatliche Errungenschaften sind also möglich, nur sind sie es nicht aufgrund einer ominösen „Neutralität des Staates“. Deshalb nicht, weil sie eben „keine Errungenschaft des Individuums gegenüber dem Staat sind, sondern eine Errungenschaft der unterdrückten Klassen.“ (Staatstheorie S. 101)

40) Kritik S. 209

41) Kritik S. 215

42) Kritik S. 215

43) Wissenschaft S. 17

44) Wissenschaft S. 391

45) Kritik S.199

46) Wissenschaft S. 359

47) Wissenschaft S. 391

48) Kritik S. 67f 49 Wissenschaft S. 148ff

50) Kritik S. 193/S. 199

51) Kritik S. 152, Wissenschaft S. 327ff

52) Kritik S. 200

53) Wissenschaft S. 389ff

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten von: http://www.neue-impulse-verlag.de

MASCH-Skripte erscheinen in diesem Verlag, der von sich schreibt:

Im November 1963 erschien die erste Ausgabe der Marxistischen Blätter. Sieben Jahre nach dem Verbot der KPD und lange vor 68er-Bewegung, "Mehr Demokratie wagen", neuer Ostpolitik und Neukonstituierung der DKP fanden bundesdeutsche Marxisten einen Weg, das mutige Projekt - eine "Zeitschrift für wissenschaftlichen Sozialismus" - zu gründen.

"Heute gibt es neben den ´Marxistischen Blättern´ auch andere sich am Marxismus orientierende Publikationen. Dennoch nehmen die Marxistischen Blätter nach wie vor einen originären Platz ein", schrieb Willi Gerns, Mitherausgeber und langjähriger Autor der Zeitschrift, in einem Extra-Blatt zu unserem 40. Geburtstag. "Er ergibt sich aus ihrer besonders engen Verbindung mit der DKP, der kommunistischen Partei." Das entspreche dem Leitgedanken von Marx, Engels und Lenin, die revolutionäre Theorie mit der praktischen Arbeiterbewegung zu verbinden. Ein plausibler Gedanke. Einfach gesagt und schwer zu machen. Vor allem nach 1989/90, als nicht nur der Staat gewordene Sozialismus in Europa und auf deutschem Boden zusammenbrach, sondern auch die Verlage, Druckereien, Buchhandlungen im Umfeld der DKP und viele Hoffnungen auf eine friedlichere, sozial gerechtere, demokratischere Zukunft. Das war die Geburtsstunde unseres Neue Impulse Verlages. Auferstanden aus der Konkursmasse und der Zukunft zugewandt... Es war vor allem Kurt Steinhaus (gestorben 1992), der mit Robert Steigerwald, Willi Gerns und Lothar Geisler als Gesellschafter eine GmbH gründete, um mit dem ehrenamtlichen Herausgeberkreis und der vorwiegend ehrenamtlich arbeitenden Redaktion in erster Linie die weitere Herausgabe der Zeitschrift "Marxistische Blätter" sicher zu stellen. Das ist nach wie vor unsere Hauptaufgabe, zu der in den vergangenen Jahre das eine oder andere Buch, ein kleiner Bücherversand (siehe SHOP) und der Aufbau eines Angebotes für die marxistische Bildungsarbeit (siehe MASCH-Skripte) hinzugekommen sind.

Blättert man durch MBI-gewordene fast 45 Jahre, findet man viele prominente Autorinnen und spannende Artikel zu Fragen, von denen uns die großen nach Frieden, Arbeit, sozialer Gerechtigkeit und Zukunft heute mehr denn je auf den Nägeln brennen. Man stößt auf Kontinuität und Wandel, Bewahrtes und Erneuertes, Widersprüche, Irrtümer, Meinungsstreit, (Denk-) Fehler, Lücken und Brüche. Um all das -in unverfälschtem O-Ton- in eine hoffnungsvoll wachsende LINKE einzubringen, um nicht alles neu erfinden oder Fehler wiederholen zu müssen, um Brücken zwischen neuen LINKEN und alten zu schlagen, wollen wir spätestens zu unserem 45. Geburtstag im November 2008 alle Jahrgänge der Marxistischen Blätter auf DVD herausbringen. Wer zur Finanzierung des Projektes mit einer Spende beitragen möchte oder darüber hinaus schon jetzt eine "Geburtstagsspende" machen möchte, hier die Konto-Nummer: Neue Impulse Verlag, Konto: 33709 - 432, Postbank Essen (BLZ 36010043), Stichwort "Spende MBI"

Das Verlags-Kollektiv
Lothar Geisler / Walter Herbster

Zum "Neo-Revisionismus" des Michael Heinrich erschienen beim TREND u.a. folgende Artikel: