Geschichte einer deutsch-jüdischen Freundschaft
Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus aus Anlass der Befreiung des  Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 

von Antonín Dick

01/08

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Volksbühne, erstes im Stil der Moderne erbautes Theater Berlins, Karl-Liebknecht-Haus mit Parteizentrale der KPD, Avantgardekino Babylon, Theatercafé, wo sich Intellektuelle mit Arbeitern treffen, Demonstrationstreff, schwere Auseinandersetzungen mit der  Polizei –  das ist der Bülowplatz (heute Luxemburgplatz): Zentrum des kämpfenden Proletariats. Drei junge Schriftsteller, Hans Arno Joachim, Alfred Kantorowicz und Peter Huchel, mieten im Jahre 1930 hier eine gemeinsame Wohnung. Gedenktafel für Peter Huchel am Haus Kreuznacher Str. 52 in Berlin

In diesem Hause wohnte von 1931 bis 1933

Peter Huchel
3.4.1903 - 30.4.1981
Lyriker, Hörspielautor

Vertreter einer sozial und politisch geprägten Lyrik. 1949 bis zum erzwungenen Rücktritt 1962
Chefredakteur der Literaturzeitschrift "Sinn und Form". Nach neun Jahren Isolation und Überwachung 1971 Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland

Joachim: „Wir stammen aus der besitzenden Klasse.
Aber es steht uns zu, neben dem Arbeiter zu wohnen.“

Zusammengebracht hat Kantorowicz die beiden Dichter, und Joachim sorgt sofort für Huchels erste Lyrikveröffentlichungen,  fördert ihn, wird, obwohl nur ein Jahr älter, sein Lehrer, redigiert seine Prosaarbeiten, und zwar so gründlich, dass er sie regelrecht umschreibt, etwa den Text „Im Jahre 1930“ über einen kleinbürgerlichen NS-Mitläufer. Anderthalb Jahre später bezieht Joachim mit seiner Frau, der Graphikerin Gerta Aufrichtig, eine Wohnung in Berlin-Steglitz,  Kantorowicz  und Huchel ziehen in den roten Künstlerblock am Laubenheimer Platz, doch der Dreierbund bleibt. Neue Freunde, Ernst Bloch und Fritz Sternberg, stoßen dazu, und zeitweise wohnt Huchel bei Kantorowicz und Sternberg.  

Dresden und Stuttgart 1932: Während die gegenaufklärische Zeitschrift „Die Kolonne“ Huchel für seinen Gedichtband „Knabenteich“ mit dem Lyrikerpreis ehrt, wird Joachims erstes Hörspiel „Der Philosoph am Fenster“, ein Dokumentarstück über den Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg, gesendet.  

Berlin 1933: Flucht aller Juden und Linksintellektuellen aus dem Künstlerblock, auch die Joachims flüchten. Einer der Freunde bleibt: Huchel.  

Paris 1934: Joachim veröffentlicht ein avantgardistisches Exil-Hörspiel über den nach dem Staatsstreich von 1851 verbannten französischen Dichter und Romancier Victor Hugo, das wegen der neuartigen Montagetechnik das Exilschaffen Bert Brechts und Anna Seghers’ nachhaltig beeinflusst.

Michendorf bei Berlin 1934: Huchel schreibt für die Sendereihe „Horchposten“ des Reichssenders Berlin ein gegen die Emigration gerichtetes Hörspiel: die  märchenartige „Ballade im Eisfenster“.  

Berlin Anfang Februar 1936: Huchel gibt beim Reichssender seine „Ariererklärung“ ab.  

Paris 7. 2. 1936: Kantorowicz notiert in sein Tagebuch: „Am Buch habe ich drei Wochen keine Zeile geschrieben. Die Fraktion lehnt es ab. Dabei hungern wir mit 150 Frcs. im Monat. Friedel ist völlig abgearbeitet. Das ist eine schwere Zeit. Wie werden wir da durchkommen?“ 

Michendorf bei Berlin 13. 2. 1936: Huchel fordert vom Reichssender Honorarerhöhung, unterschreibt mit „Heil Hitler! 

Peter Huchel.“ Berlin 14. 2. 1936: Ursendung des Hörspiels, am Tag darauf Honorarerhöhung. Im Sommer davor oder danach: Urlaubsreise der Huchels nach Frankreich, doch ohne den Versuch, die Freunde Joachim und Kantorowicz zu kontaktieren.  

Michendorf bei Berlin 1938: Huchel schreibt ein den Freunden gewidmetes  Abschiedsgedicht, in welchem er fragt: „Wohin ziehn die Boten? // Nichts tun sie kund.“  

Berlin 1940: Vorbereitung des Überfalls auf Frankreich, Huchel arbeitet an der Filmnovelle „Das Fräulein von Soor“, um die antifranzösische Kriegspropaganda des Dritten Reiches zu unterstützen.  

Frankreich Mai 1940: Kantorowicz und Joachim fliehen vor der vorrückenden Deutschen Wehrmacht, retten sich nach Südfrankreich.  

Sanary Januar 1941:  Joachim und Kantorowicz fragen sich: „Wie mag es wohl Peter Huchel gehen? Wird er überleben?“ Während den Kantorowiczs mit Geld von Bloch, das dieser ihnen aus den USA schickt, die Flucht gelingt, fällt Joachim im Februar 1944  in die Hände der Gestapo.  

Drancy 1944: Als Nummer 411 steht sein Name auf der Abschubliste für den Transport Nr. 70 vom 27. 3. 1944. 

Irgendwo in Großdeutschland: Huchel bei der Deutschen Luftwaffe. 

Auschwitz 30. 3. 1944: Ankunft Joachims. Von den 1025 Personen dieses „Abschubs“, darunter 109 Kinder unter 18 Monaten, wurden 520 sofort bei der Ankunft vergast. Schlusszeilen von Huchels Abschiedsgedicht: „O Freund, o Gefährte // der einsamen Nacht: // Der zeitlos Abgekehrte // die Zeit bewacht.“ 

Die Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg-Wilmersdorf Monika Thiemen weiht im ehemaligen roten Künstlerblock eine repräsentative Gedenktafel für Huchel ein,  hält eine Rede: „Vielen gilt Peter Huchel als bedeutendster deutschsprachiger Lyriker der Nachkriegszeit … Er verließ Deutschland 1933 nicht. Er konnte bis 1940 als Hörspielautor arbeiten, bis er 1941 zum Kriegsdienst bei der Luftwaffe eingezogen wurde und 1945 in sowjetische Gefangenschaft geriet. Nach Kriegsende begann er als …“ 

Berlin 2003: Die Stimme des Staates

 „Was sagten Sie, Madame? Sie meinen: das Leben ist doch schön? Nicht wahr, Madame? Nun ja, gewiß, so soll das Leben auch sein: leicht, reich und üppig schwebend – und etwas zynisch …Pas de galoppe! Wie meinen Sie, Madame? Ist Ihnen etwas, wie? Man hat auch seine Sorgen? … Nein? Aber nein, – das wär es gar nicht, was diesen leisen Hauch von schalem Überdruss auf diese glatte Stirne legt? Da wär auch sonst so etwas,  – wie ein fader Beigeschmack? So etwas,  – wie ein geheimer Zweifel?“

Paris 1934: Die Stimme Victor Hugos

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus, den  27. Januar 1945,  zur Veröffentlichung.