Restaurationsverschnitt
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte genügt ideologischen Standards, nicht wissenschaftlichen: Ein aktueller Wälzer aus Potsdam ist exemplarisch


von
Antonín Dick

01/08

trend
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Es scheint zum Gesetz der DDR-Forschung zu werden: Die ständig ansteigende Masse an empirischen Daten verhält sich umgekehrt proportional zur Vertiefung der historischen Wahrheit. Von Anfang an betrieb die DDR-Aufarbeitungsindustrie nichts als ein hastiges In-den-deutschen-Boden-Rammen des 89er Siegs der nationalen Partei über die der sozialen Emanzipation. Arthur Rimbaud: »Nous avons notre revanche, citoyens de la Commune!« (Jetzt haben wir unsere Revanche, ihr Herren der Kommune!) Und was sich von der übriggebliebenen DDR-Dissidenz nicht nationalisieren läßt, wird aus der Geschichtsschreibung exkommuniziert.

Vor einigen Wochen kam ein weiterer Wälzer aus diesem ideologischen Räderwerk gutbezahlter Staatsdemokraten auf den Buchmarkt, Thomas Kleins Arbeit »›Frieden und Gerechtigkeit!‹ Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre«. Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, geleitet vom nationalkonservativen Bundeshistoriographen der DDR-Forschung Martin Sabrow. Die Ausbeute? Restaurationsverschnitt: Datenversessenheit, Exkommunikationsgehorsam und ein unübersehbarer Theoriemangel.

Exkommunikationsbeispiel eins: Ungeachtet des realexistierenden Sozialismus in der DDR vernachlässigt der Autor Arbeiterinteressen und Arbeiteropposition in den Betrieben zugunsten der Kirchenopposition. So beschreibt er auf Seite 359 des Bandes, wie die beiden kirchengestützten DDR-Künstler Freya Klier und Stephan Krawczyk im Jahre 1987 die Nutzung einer leerstehenden Fabrik in Berlin-Mitte bei den Behörden beantragten, angeblich, um »neues sozialistisches Denken und Handeln in Gang zu bringen«. Er unterschlägt, was es an Kunst in den Fabriken der DDR vorher gab. Im Berliner Kabelwerk Oberspree beispielsweise war das seit Ende der 70er Jahre ein Arbeitertheater. Getragen von jungen Arbeitern, Lehrlingen, Oberschülern und Angestellten. Anknüpfend an die Arbeitertheaterbewegung der 20er Jahre.

1980 stellte dieses Ensemble mit den Mitteln des Theaters die politische Frage nach einer selbstbewußten Arbeiterdemokratie von unten. 1982 leistete es Widerstand gegen die Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen in Ost- und Westeuropa – der einzige Protest überhaupt auf einer Bühne der DDR gegen einen Atomkrieg. Die Resonanz dieses Antikriegsstücks beim Publikum war überwältigend, es folgte die MfS-gestützte Zerschlagung des Ensembles samt Amtsenthebung des Künstlerischen Leiters, der ich war. Staatssozialisten haben Andersdenkende eben kaum lieber als Staatsdemokraten. Nur: Die produktiven Impulse und Erfahrungen dieses oppositionellen Arbeitertheaters wären es wert gewesen, dargestellt zu werden. Der Autor exkommuniziert sie trotz Archivangebots aus dem Oppositionskanon.

Exkommunikationsbeispiel zwei: Eine nationalkonservative Präsentation der »Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR« im Kapitel »Ausreiseantragsteller und ihre Selbstorganisation«. Diese Oppositionsgruppe gewährte sowohl DDR-Bürgern als auch in der DDR lebenden Ausländern Beratung und rechtlichen Beistand in staatsbürgerschaftsrechtlichen Fragen. Die weltbürgerlich orientierten Gründungsmitglieder der Gruppe – Olaf Herfurth und ich – sind aus der Geschichte wegretuschiert.

Was geschah nach meiner Ausreise mit dieser Gruppe? Was sie an Masse gewann, verlor sie an politischer Energie, wie Jan Athmann in seiner vom Historiker Wolfgang Wippermann betreuten Magisterarbeit »›Wir bleiben hier‹ Die Auseinandersetzung innerhalb der neueren DDR-Oppositionsbewegung um die Ausreiser« feststellte: »Ausreise …, ohne sich für die alternativen politischen Ideen zu interessieren.« Zuletzt war sie nur noch eine an »nationalstaatlichen Werten orientierte« Formation von über 100 Antragstellern, besessen von der Idee eines Gruppensprungs über die Mauer: Entrollung eines Transparents mit dem Luxemburg-Zitat »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« auf der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 – vorherige Sicherstellung von BRD-Medienpräsenz – Verhaftung durch DDR-Sicherheitskräfte – Abschiebung gen Westen. Reiz-Reaktions-Mechanismen dieser Größenordnung, das wußte man, funktionieren. Clevere Nichtmitglieder wie Klier, Krawczyk und IM a. D. Templin mischten sich unter die Gruppe und versilberten ihren Freiheitssprung, indem sie ihn als politische »Zwangsausbürgerung« ausgaben, um im Westen als Bürgerrechtler mit Verfolgtenstatus starten zu können. Auch dies funktionierte.

Die von mir initiierte »Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR«, die ich strikt auf Dialog statt Konfrontation mit der Staatsmacht orientierte, ging nach Verwirklichung dieser Idee erwartungsgemäß kaputt. Einer wichtigen Bürgerrechtsarbeit in der DDR wurde schwerer Schaden zugefügt. Und keiner von denen, die diesen Niedergang betrieben, engagierte sich in der BRD später jemals für Arbeiterinteressen im Sinne Rosa Luxemburgs.

Statt Genesis und geistig-politische Degeneration der Gruppe wissenschaftlich zu analysieren, verschweigt der Autor erstere und verklärt letztere. Dabei stehen Athmanns Magisterarbeit sowie meine Studie »Zum gegenwärtigen Stand der Erforschung der oppositionellen ›Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR‹« im Berliner Matthias-Domaschk-Archiv.

Warum gibt es keine wahrheitsgetreue DDR-Aufarbeitung? Und warum dieser chronische Theoriemangel, den auch der an der Frankfurter Europa-Universität Viadrina lehrende Sozialwissenschaftler Jan Wielgohs in seiner Arbeit »Die oppositionellen Gruppen der achtziger Jahre als Thema politisch-soziologischer Forschung« beklagt? Wahrheitsgetreue Aufarbeitung kann es erst geben, wenn BRD und DDR gleichzeitig aufgearbeitet werden, denn beide Staaten entstanden gleichzeitig aus der militärischen Niederringung des Hitlerfaschismus. Republikanische Staatsverfassung auf der einen und kollektive Daseinssicherung für alle Gesellschaftsmitglieder auf der anderen Seite sind die beiden gleichberechtigten Pole eines jahrzehntelangen Widerstreits gewesen, der nun der Erklärung harrt. Zweite Bedingung: Der Aufarbeitungsprozeß muß internationalisiert werden, um endlich kreative Distanz herzustellen. Daran sind deutsche Aufarbeiter bisher gescheitert.

Thomas Klein
Frieden und Gerechtigkeit!
Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre

Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam,
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2007,
548 Seiten,

59,90 Euro

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe. Erstveröffentlicht wurde sein Artikel in der Printausgabe der JUNGEN WELT vom 3.1.08, virtuell unter http://www.jungewelt.de/2008/01-03/038.php