Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte

von
G. W. Plechanow

01/08

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I

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre veröffentlichte der nunmehr verstorbene Kablitz [1] einen Aufsatz Verstand und Gefühl als Faktoren des Fortschritts, in dem er, unter Berufung auf Spencer, zu beweisen suchte, daß in der Vorwärtsbewegung der Menschheit die Hauptrolle dem Gefühl gehöre, während der Verstand eine zweitrangige und zudem völlig untergeordnete Rolle spiele. Gegen Kablitz wandte sich ein »ehrwürdiger Soziologe« [2], der hohnvoll seine Verwunderung über eine Theorie ausdrückte, die den Verstand »auf den Hinterhof« verwies. Der »ehrwürdige Soziologe« hatte natürlich recht, als er den Verstand in Schutz nahm. Er hätte jedoch noch viel mehr recht gehabt, wenn er, ohne auf das Wesen der von Kablitz angeschnittenen Frage einzugehen, gezeigt hätte, wie sehr dessen Fragestellung selbst unmöglich und unstatthaft war. In der Tat, die Theorie der »Faktoren« ist schon an und für sich unbegründet, da sie willkürlich verschiedene Seiten des gesellschaftlichen Lebens aussondert und sie hypostasiert, indem sie sie in Kräfte besonderer Art verwandelt, die von verschiedenen Seiten her und mit ungleichem Erfolg den gesellschaftlichen Menschen auf dem Wege des Fortschritts führen. Noch unbegründeter ist aber diese Theorie in der Gestalt, wie wir sie bei Kablitz finden, der nicht einmal diese oder jene Seiten der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, sondern die verschiedenen Gebiete des individuellen Bewußtseins zu besonderen soziologischen Hypostasen erhob. Das sind wahrhaftig Herkulessäulen der Abstraktion: weiter geht es nicht, denn weiter beginnt schon das groteske Reich ganz augenscheinlicher Absurdität. Darauf eben hätte der »ehrwürdige Soziologe« die Aufmerksamkeit von Kablitz und seiner Leser lenken sollen. Hätte der »ehrwürdige Soziologe« festgestellt, in welche Irrgänge der Abstraktion Kablitz durch sein Bestreben, den herrschenden »Faktor« in der Geschichte aufzuspüren, geführt wurde, so hätte er unversehens vielleicht auch selbst etwas für die Kritik der Theorie der Faktoren geleistet. Das wäre zu gleicher Zeit für uns alle sehr nützlich gewesen. Aber er erwies sich seiner Sendung nicht gewachsen. Er selbst vertrat den Standpunkt dieser Theorie und unterschied sich von Kablitz lediglich durch seinen Hang zum Eklektizismus, infolgedessen ihm alle »Faktoren« als gleich wichtig vorkamen. Die eklektischen Eigenschaften seines Verstandes kamen in der Folge besonders kraß zum Ausdruck in seinen Ausfällen gegen den dialektischen Materialismus, in dem er eine Lehre erblickte, die dem ökonomischen »Faktor« alle übrigen opfert und die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte für null und nichtig erklärt. Dem »ehrwürdigen Soziologen« kam es gar nicht in den Sinn, daß dem dialektischen Materialismus der Standpunkt der "Faktoren" fremd ist und daß man nur bei vollständiger Unfähigkeit, logisch zu denken, in ihm eine Rechtfertigung des sogenannten Quietismus erblicken kann. Es muß übrigens bemerkt werden, daß dieses Versehen des »ehrwürdigen Soziologen« nichts Originelles an sich hat: dieses Versehen ist vielen anderen unterlaufen, unterläuft vielen anderen und wird wahrscheinlich lange noch vielen, vielen anderen unterlaufen ...
 

Man begann, den Materialisten einen Hang zum Quietismus schon zu der Zeit vorzuwerfen, als sie noch keine dialektische Auffassung der Natur und der Geschichte ausgearbeitet hatten. Ohne uns in die »graue Vorzeit« zu vertiefen, wollen wir an den Streit zwischen dem bekannten englischen Gelehrten Priestley mit Price erinnern. Bei seiner Analyse der Priestleyschen Lehre wollte Price unter anderem beweisen, daß der Materialismus mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar sei und jede Selbsttätigkeit der Persönlichkeit ausschalte. In Antwort darauf berief sich Priestley auf die Lebenserfahrungen des Alltags. »Ich spreche nicht von mir selber, obgleich, auch ich natürlich nicht als das trägste aller Tiere bezeichnet werden darf (am not the most torpid and lifeless of all animals), aber ich frage euch, wo werdet ihr mehr Gedankenenergie, mehr Aktivität, mehr Kraft und Beharrlichkeit in der Verfolgung der wichtigsten Ziele finden, als unter den Anhängern der Lehre von der Notwendigkeit?« Priestley meinte damit die damalige religiöse demokratische Sekte der sogenannten christian necessarians. [3] Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich so aktiv war, wie ihr Anhänger Priestley glaubte. Aber das ist auch nicht von Belang. Absolut keinem Zweifel unterliegt der Umstand, daß die materialistische Auffassung des menschlichen Willens sich mit der energischsten Wirksamkeit in der Praxis ausgezeichnet verträgt. Lanson bemerkt, daß »alle Doktrinen, die an den menschlichen Willen die größten Anforderungen stellen, im Prinzip die Ohnmacht des Willens bejahten; sie verneinten die Freiheit und unterordneten die Welt dem Fatalismus«[4]. Lanson hat unrecht, wenn er glaubt, daß jede Verneinung der sogenannten Willensfreiheit zum Fatalismus führe; das hindere ihn aber nicht, eine im höchsten Grade interessante historische Tatsache festzustellen: die Geschichte zeigt in der Tat, daß sogar der Fatalismus nicht nur nicht in allen Fällen eine energische, auf die Praxis gerichtete Tätigkeit behindert sondern daß er Im Gegenteil in gewissen Epochen die psychologisch notwendige Grundlage dieser Tätigkeit war. Zum Beweis wollen wir auf die Puritaner verweisen, die durch ihre Tatkraft alle anderen Parteien im England des 17. Jahrhunderts in den Schatten gestellt haben, oder auf die Nachfolger Mohammeds. die in kurzer Zeit ein gewaltigem Territorium von Indien bis Spanien erobert haben. In einem starken Irrtum sind diejenigen befangen, die da meinen, daß wir uns nur von der Unvermeidlichkeit des Eintretens einer bestimmten Folge von Ereignissen zu überzeugen brauchen, damit bei uns jede psychologische Möglichkeit, für dieses Eintreten zu wirken oder ihm entgegenzuwirken, verschwinde [5].

Hier hängt alles davon ab, ob meine eigene Tätigkeit ein notwendiges Glied in der Kette der notwendigen Ereignisse bildet. Ist dem so, so habe ich um so weniger Schwankungen und handle um so entschlossener. Und das hat auch nichts Verwunderliches an sich: wenn wir sagen, daß die betreffende Persönlichkeit ihre Wirksamkeit als notwendiges Glied in der Kette der notwendigen Geschehnisse betrachtet, so heißt das unter anderem, daß das Fehlen von Willensfreiheit für sie gleichbedeutend ist mit einer völligen Unfähigkeit zur Inaktivität, und daß dieses Fehlen von Willensfreiheit sich im Bewußtsein dieser Persönlichkeit widerspiegelt als Unmöglichkeit, anders zu handeln, als sie handelt. Das ist eben der psychologische Zustand, der am besten ausgedrückt werden kann durch die berühmten Worte Luthers: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, der Zustand, dank dem die Menschen die unbeugsamste Energie an den Tag legen und die größten Heldentaten vollbringen. Diese Gemütsverfassung war einem Hamlet unbekannt: deshalb war er auch zu nichts anderem fähig, als zu lamentieren und zu reflektieren. Und darum hätte sich Hamlet niemals mit einer Philosophie abgefunden, deren Sinn darin besteht, daß Freiheit lediglich bewußt gewordene Notwendigkeit ist. Fichte sagt mit Recht: »Was man für eine Philosophie wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.«

II
 

Manche Leute haben bei uns Stammlers Bemerkung von dem angeblich unlösbaren Widerspruch ernst genommen, den eine der westeuropäischen sozialpolitischen Lehren enthalten soll. Wir meinen das bekannte Beispiel mit der Mondfinsternis. In Wirklichkeit ist das ein höchst absurdes Beispiel. Zu den Bedingungen, deren Zusammentreffen für eine Mondfinsternis nötig ist, gehört keineswegs die menschliche Tätigkeit und kann auch nicht gehören. und schon allein aus diesem Grunde könnte eine Partei zur Förderung der Mondfinsternis nur im Irrenhause entstehen. Aber selbst wenn die menschliche Tätigkeit auch zu den genannten Bedingungen gehörte, würde sich der Partei der Mondfinsternis keiner derjenigen anschließen, die zwar Lust hätten, die Mondfinsternis zu sehen, zugleich aber davon überzeugt wären, daß sie auch ohne ihre Mitwirkung unbedingt eintreten wird. In diesem Falle wäre ihr »Quietismus« nur die Enthaltung von überflüssigen, d.h. unnützen Handlungen und hätte mit dem wahren Quietismus nichts gemein. Um dem Beispiel mit der Mondfinsternis in dem von uns betrachteten Fall der obengenannten Partei die Sinnlosigkeit zu nehmen, müßte man es vollständig verändern. Man müßte sich vorstellen. daß der Mond mit Bewußtsein begabt sei und daß seine Stellung im Weltenraum, mit der das Eintreffen von Verfinsterungen verbunden ist, ihm als Produkt der Selbstbestimmung seines Willens erscheine und ihm nicht nur einen kolossalen Genuß bereite, sondern auch für seine Seelenruhe unbedingt nötig sei, so daß er stets leidenschaftlich bestrebt sei, diese Lage einzunehmen [6]. Hätte man sich das alles vorgestellt, so müßte man sich fragen: was würde der Mond empfinden, wenn er schließlich entdeckte, daß in Wirklichkeit nicht sein Wille und nicht seine »Ideale« seine Bewegung im Weltenraume bestimmen, sondern umgekehrt, daß sein Wille und seine »Ideale« durch seine Bewegung bestimmt sind. Laut Stammler müßte diese Entdeckung den Mond unbedingt bewegungsunfähig machen, falls er sich nicht mit Hilfe irgendeines logischen Widerspruches aus der Affäre zöge. Aber eine solche Voraussetzung ist absolut durch nichts begründet. Diese Entdeckung könnte einer der formalen Gründe für die schlechte Stimmung des Mondes, für sein moralisches Zerwürfnis mit sich selbet, für den Widerspruch zwischen seinen »Idealen« und der mechanischen Wirklichkeit sein. Da wir aber voraussetzen, daß der ganze »Seelenzustand des Mondes« überhaupt letzten Endes durch seine Bewegung bedingt ist, so müßte man in der Bewegung auch die Ursachen seines Seelenkonflikts suchen. Bei einer gewissenhaften Behandlung der Frage würde sich vielleicht herausstellen, daß der Mond dann über die Unfreiheit seines Willens trauert, wenn er sich in Erdferne befindet, während in Erdnähe der gleiche Umstand für den Mond eine neue formale Quelle moralischer Glückseligkeit und sittlicher Kraft bildet. Vielleicht würde sich auch das Gegenteil ergeben: vielleicht würde sich herausstellen, daß der Mond nicht in Erdnähe, sondern in Erdferne das Mittel sieht, die Freiheit mit der Notwendigkeit zu versöhnen. Wie dem aber auch sei, es ist unzweifelhaft, daß eine solche Aussöhnung durchaus möglich ist, daß das Bewußtsein der Notwendigkeit sich mit der energischsten Handlung in der Praxis ausgezeichnet verträgt. Jedenfalls war es bisher in der Geschichte so. Menschen, die die Willensfreiheit verneinten, übertrafen häufig alle ihre Zeitgenossen durch die Kraft ihres eigenen Willens und stellten an diesen die größten Anforderungen. Solcher Beispiele gibt es viele. Sie sind allgemein bekannt. Man kann sie nur dann vergessen,. so wie Stammler sie anscheinend vergißt, wenn man absichtlich die historische Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht sehen will. Dieses Nichtwollen ist zum Beispiel bei unseren Subjektivisten und manchen deutschen Philistern stark ausgeprägt. Aber die Philister und Subjektivisten sind keine Menschen, sondern einfache Gespenster, wie Bjelinski [7] sagen würde.
 

Betrachten wir jedoch etwas näher den Fall, wo die eigenen - vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen - Handlungen des Menschen für ihn durchweg den Anstrich der Notwendigkeit zu haben scheinen. Wir wissen bereits, daß in diesem Fall der Mensch - der sich so wie Mohammed, als Abgesandter Gottes, so wie Napoleon, als Auserwählten des unabwendbaren Schicksals, oder so wie manche Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts als Träger der von niemandem zu überwindenden Kraft der historischen Entwicklung betrachtet - eine fast elementare Willenskraft an den Tag legt und alle Hindernisse, die die großen und die kleinen Hamlets der verschiedenen Landkreise [8] auf seinem Weg aufrichten, wie Kartenhäuschen niederreißt [9]. Uns interessiert aber jetzt dieser Fall von einer anderen Seite, und zwar von folgender. Wenn das Bewußtsein von der Unfreiheit meines Willens sich mir lediglich in Form der völligen subjektiven und objektiven Unmöglichkeit, anders zu handeln, als ich handle, darstellt, und wenn meine jeweiligen Handlungen zugleich für mich die wünschenswertesten unter allen möglichen Handlungen sind, dann wird die Notwendigkeit in meinem Bewußtsein mit der Freiheit, und die Freiheit mit der Notwendigkeit identisch, und dann bin ich nur in dem Sinne nicht frei, daß ich diese Identität von Freiheit und Notwendigkeit nicht übertreten kann; die beiden einander nicht gegenüberstellen kann; mich durch die Notwendigkeit nicht beengt fühlen kann. Aber ein derartiges Fehlen von Freiheit ist zugleich die vollständigste Aeußerung der Freiheit.
 

Simmel sagt, daß Freiheit stets Freisein von etwas bedeute, und daß die Freiheit dort, wo man sie sich nicht als Gegensatz zur Gebundenheit denkt, keinen Sinn habe. Dem ist natürlich so. Aber auf Grund dieser kleinen ABC-Weisheit läßt sich der Satz nicht widerlegen, der eine der genialsten Entdeckungen des philosophischen Denkens aller Zeiten bildet, daß die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist. Simmels Definition ist allzu eng: sie bezieht sich nur auf die Freiheit von der äußeren Beschränkung. Solange nur von diesen Schranken die Rede ist, wäre eine Identifizierung von Freiheit und Notwendigkeit in höchstem Grade lächerlich: der Dieb ist nicht frei, Ihnen das Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, wenn Sie ihn daran hindern und er in dieser oder jener Weise Ihren Widerstand nicht überwindet. Doch außer diesem elementaren und oberflächlichen Begriff der Freiheit gibt es einen anderen unvergleichlich tieferen. Dieser Begriff existiert ganz und gar nicht für Menschen, die unfähig sind, philosophisch zu denken; Menschen aber, die zu diesem Denken fähig sind, gelangen zu diesem Begriff erst dann, wenn es ihnen gelingt, mit dem Dualismus fertig zu werden und einzusehen, daß zwischen dem Subjekt auf der einen und dem Objekt auf der anderen Seite gar nicht der Abgrund klafft, den die Dualisten voraussetzen.

Der russische Subjektivist stellt seine utopischen Ideale unserer kapitalistischen Wirklichkeit gegenüber und geht über diese Gegenüberstellung nicht hinaus. Die Subjektivisten sind im Sumpf des Dualismus steckengeblieben. Die Ideale der sogenannten russischen »Schüler« [10] sehen der kapitalistischen Wirklichkeit unvergleichlich weniger ähnlich als die Ideale der Subjektivisten. Aber ungeachtet dessen wußten die »Schüler« die Brücke zu finden, die von den Idealen zu der Wirklichkeit führt. Die »Schüler« erhoben sich zum Monismus. Ihrer Meinung nach wird der Kapitalismus durch den Gang seiner eigenen Entwicklung zu seiner eigenen Negation und zur Existenz ihrer - der russischen, und zwar nicht allein der russischen »Schüler« - Ideale führen. Das ist historische Notwendigkeit. Der »Schüler« dient als eines der Werkzeuge dieser Notwendigkeit und muß als solches dienen, sowohl kraft seiner gesellschaftlichen Lage als auch infolge seines durch diese Lage erzeugten geistigen und sittlichen Charakters. Das ist ebenfalls eine Seite der Notwendigkeit. Hat nun einmal seine gesellschaftliche Lage bei ihm gerade diesen und nicht einen anderen Charakter herausgebildet, so dient er nicht nur als Werkzeug der Notwendigkeit und muß nicht nur als solches dienen, sondern will auch leidenschaftlich dienen und muß es auch wollen. Das ist die eine Seite der Freiheit, und zwar der Freiheit, die aus der Notwendigkeit hervorgewachsen ist, d.h. richtiger gesagt - das ist die Freiheit, die mit der Notwendigkeit identisch geworden ist, das ist die Notwendigkeit, die zur Freiheit geworden ist [11]. Diese Freiheit ist ebenfalls Freiheit von gewisser Einschränkung; sie ist ebenfalls einer gewissen Gebundenheit entgegengesetzt: tiefe Definitionen widerlegen die oberflächlichen nicht, sondern ergänzen diese und nehmen sie in sich auf. Von welcher Einschränkung, von welcher Gebundenheit kann aber in diesem Fall die Rede sein? Das ist klar: von der moralischen Einschränkung, die die Tatkraft der Menschen bremst, die mit dem Dualismus noch nicht fertig geworden sind; von der Gebundenheit, an der Menschen kranken, die außerstande sind, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, der die Ideale von der Wirklichkeit trennt. Solange die Persönlichkeit diese Freiheit durch eine kühne Bemühung des philosophischen Denkens nicht erobert hat, gehört sie noch nicht ganz sich selbst und zahlt durch ihre eigenen moralischen Qualen einen schmählichen Tribut an die ihr entgegentretende äußere Notwendigkeit. Dafür aber wird diese Persönlichkeit zu neuem, vollem, ihr bis dahin unbekanntem Leben geboren werden, sobald sie nur das Joch dieser qualvollen und beschämenden Einschränkung abstreift, und ihre freie Tätigkeit wird als bewußter und freier Ausdruck der Notwendigkeit erscheinen [12]. Dann wird sie zur gewaltigen gesellschaftlichen Kraft und dann kann sie schon nichts mehr hindern und wird sie auch nichts mehr hindern,

Des Unrechts tückische Gewalten
Mit mächtigem Götterblitz zu spalten ...

III

Noch einmal: Die Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit einer gegebenen Erscheinung kann nur die Tatkraft des Menschen steigern, der mit dieser Erscheinung sympathisiert und sich selbst für eine der Kräfte hält, die sie hervorrufen. Legte ein solcher Mensch, in der Erkenntnis der Notwendigkeit, die Hände in den Schoß, so zeigt er dadurch nur, daß er die Rechenkunst schlecht beherrscht. In der Tat, angenommen, die Erscheinung A muß notwendig eintreten, sobald eine gegebene Summe von Bedingungen vorliegt. Sie haben mir bewiesen, daß diese Summe zum Teil schon vorliegt, zum Teil in der Zeit T eintreffen wird. Sobald ich - ein Mensch, der mit der Erscheinung A sympathisiert - mich davon überzeugt habe, rufe ich aus: »Wie ist das schön!« und lege mich auf die faule Haut, um so lange zu schlafen, bis der freudige Tag des von Ihnen vorausgesagten Ereignisses eintritt. Was ergibt sich daraus? Folgendes. Nach Ihrer Berechnung schloß die Summe, die notwendig ist, damit das Ereignis A eintritt, auch meine Tätigkeit in sich, die, angenommen, gleich a ist. Da ich aber der Schlafsucht verfallen bin, so wird im Zeitpunkt T die Summe der für den Eintritt des gegebenen Ereignisses günstigen Bedingungen nicht mehr S sein, sondern S - a, was ja den Stand der Dinge ändert. Vielleicht wird mein Platz von einem anderen eingenommen werden, der ebenfalls der Passivität nahe war, auf den aber das Beispiel meiner Apathie, die ihm geradezu empörend erschien, heilsam gewirkt hat. In diesem Falle wird die Kraft a durch die Kraft b ersetzt werden, und wenn a gleich b ist (a = b), so wird die Summe der den Eintritt von A fördernden Bedingungen gleich S bleiben, und die Erscheinung A wird zu demselben Zeitpunkt T dennoch eintreten.
 

Wenn aber meine Kraft nicht gleich Null gesetzt werden darf, wenn ich ein geschickter - und fähiger Arbeiter bin, und wenn niemand an meine Stelle getreten ist, dann werden wir nicht die volle Summe S haben, und die Erscheinung A wird später eintreten, als wir annehmen, oder nicht in der Vollständigkeit eintreten, wie wir sie erwartet haben, oder vielleicht gar nicht eintreten. Das ist sonnen- klar, und wenn ich das nicht verstehe, wenn ich glaube, daß S auch nach der Substitution meiner Person gleich S bleiben wird, so einzig und allein deshalb, weil ich nicht rechnen kann. Aber kann nur ich allein nicht rechnen? Sie, der Sie mir vorausgesagt haben, daß im Zeitpunkt T die Summe S unbedingt vorliegen wird, haben nicht vorausgesehen, daß ich mich sofort nach meiner Unterhaltung mit Ihnen schlafen legen werde; Sie waren überzeugt, daß ich bis zuletzt ein guter Arbeiter bleiben werde; Sie haben eine weniger zuverlässige Kraft für eine zuverlässigere gehalten. Folglich haben auch Sie schlecht gerechnet. Aber nehmen wir an, daß Sie sich in nichts geirrt, daß Sie alles berücksichtigt haben. Dann wird Ihre Berechnung folgendermaßen aussehen: Sie sagen, daß im Zeitpunkt T die Summe S vorliegen wird. In diese Summe der Bedingungen wird meine Ablösung als negative Größe eingehen; in sie wird aber auch, als positive Größe, die aufmunternde Wirkung eingehen, die Innerlich starke Menschen aus der Ueberzeugung gewinnen, daß ihre Bestrebungen und Ideale der subjektive Ausdruck der objektiven Notwendigkeit sind. In diesem Fall wird die Summe S tatsächlich in dem von Ihnen bezeichneten Zeitpunkt vorliegen, und die Erscheinung A wird sich vollziehen. Das scheint klar zu sein. Wenn das aber klar ist, warum hat mich der Gedanke, daß die Erscheinung A unvermeidlich ist, stutzig gemacht? Warum kam es mir so vor, als ob diese Unvermeidlichkeit mich zur Untätigkeit verdamme? Warum habe ich bei dieser Betrachtung die einfachsten Regeln der Arithmetik vergessen? Wahrscheinlich weil ich, infolge meiner Erziehung, ohnehin den größten Hang zur Untätigkeit hatte und meine Unterhaltung mit Ihnen den Tropfen abgab, der den Kelch dieses lobenswerten Hangs zum Ueberlaufen brachte. Das ist alles. Nur in diesem Sinne - im Sinne eines Anfasses zur Feststellung meiner moralischen Morschheit und Untauglichkeit - figurierte hier die Ansicht in die Notwendigkeit. Als Ursache dieser Morschheit ist diese Einsicht aber keineswegs zu betrachten: die Ursache liegt nicht in ihr, sondern in den Umständen meiner Erziehung. Also ... also ist die Arithmetik eine höchst schätzenswerte und nützliche Wissenschaft, deren Regeln nicht einmal die Herren Philosophen und sogar ganz besonders die Herren Philosophen nicht vergessen dürfen.
 

Wie aber wird die Einsicht in die Notwendigkeit der betreffenden Erscheinung auf den starken Menschen wirken, der mit ihr nicht sympathisiert und ihrem Eintritt entgegenarbeitet? Hier ändert sich die Sache ein wenig. Es ist wohl möglich, daß sie die Energie seines Widerstandes schwächt. Wenn sich aber die Gegner der gegebenen Erscheinung von ihrer Unvermeidlichkeit überzeugen? Wenn die sie begünstigenden Umstände sehr zahlreich und sehr stark werden? Die Einsicht ihrer Gegner in die Unvermeidlichkeit ihres Eintreffens und das Sinken der Energie dieser Gegner sind nur eine Aeußerung der Kraft der Bedingungen, die für diese Erscheinung günstig sind. Diese Aeußerungen gehören ihrerseits zu den günstigen Bedingungen.
 

Die Energie des Widerstandes wird jedoch nicht bei allen ihren Gegnern sinken; bei einigen wird sie infolge der Einsicht in ihre Notwendigkeit nur wachsen und sich in eine Energie der Verzweiflung verwandeln. Die Geschichte im allgemeinen, und die Geschichte Rußlands insbesondere, bietet gar manches lehrreiche Beispiel der Energie dieser Art. Wir hoffen, daß der Leser sich ihrer ohne unsere Hilfe erinnern wird.

Hier unterbricht uns Herr Karejew, der zwar unsere Ansichten über Freiheit und Notwendigkeit natürlich nicht teilt und zudem unsere Vorliebe für die »Extreme« der starken Naturen nicht billigt, aber dennoch in den Spalten unserer Zeitschrift [13] mit Genugtuung dem Gedanken begegnet, daß die Persönlichkeit eine große gesellschaftliche Kraft sein kann. Der ehrwürdige Professor ruft freudig aus: »Das habe ich stets gesagt.« Und das stimmt auch. Herr Karejew und alle Subjektivisten räumten stets der Persönlichkeit eine große Rolle in der Geschichte ein. Und es gab eine Zeit, wo dies ihnen große Sympathien bei der fortgeschrittenen Jugend einbrachte, die nach edlem Wirken für die Allgemeinheit strebte und natürlicherweise geneigt war, die Bedeutung der persönlichen Initiative hoch einzuschätzen. Aber die Subjektivisten verstanden es eigentlich niemals, die Frage der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte richtig zu beantworten, ja sie auch nur richtig zu formulieren. Sie stellten die »Tätigkeit kritisch denkender Persönlichkeiten« dem Einfluß der Gesetze der gesellschaftlichen historischen Bewegung entgegen und schufen auf diese Weise gewissermaßen eine neue Abart der Theorie der Faktoren: die kritisch denkenden Persönlichkeiten bildeten den einen Faktor der genannten Bewegung, als ihr andere Faktor dienten ihre eigenen Gesetze. Das Ergebnis war eine völlige Sinnlosigkeit, mit der man sich nur so lange zufrieden gehen konnte, als die Aufmerksamkeit der aktiven »Persönlichkeiten« auf praktische Tagesaktualitäten konzentriert war, als sie daher keine Zeit hatten, sich mit philosophischen Problemen zu beschäftigen. Aber seitdem die in den achtziger Jahren eingetretene Stille denjenigen, die fähig waren, zu denken, ungewollte Muße für philosophische Spekulationen gewährte, begann die Lehre der Subjektivisten in allen Nähten zu platzen oder gar ganz auseinanderzugehen, ähnlich wie der berühmte Dienstmantel des Akaki Akakiewitsch [14]. Da half alles Flicken nichts, und die denkenden Menschen begannen. einer nach dem anderen, vom Subjektivismus als einer offenkundig absolut unzulänglichen Lehre abzurücken. Aber wie es immer in solchen Fällen zu geschehen pflegt, hat die Reaktion auf den Subjektivismus einige seiner Gegner zu dem entgegengesetzten Extrem geführt. Wenn manche Subjektivisten, aus dem Bestreben heraus, der »Persönlichkeit« eine möglichst große Rolle in der Geschichte einzuräumen, die historische Entwicklung der Menschheit nicht als gesetzmäßigen Prozeß ansprechen wollten, so waren einige ihrer neuesten Gegner, aus dem Bestreben heraus, den gesetzmäßigen Charakter dieser Bewegung möglichst stark hervorzuheben, scheinbar bereit zu vergessen, daß die Geschichte von Menschen gemacht wird und daß deshalb die Tätigkeit der Persönlichkeiten nicht ohne Bedeutung für sie sein kann. Sie setzten die Persönlichkeit zur quantité négligeable [15] herab. Theoretisch ist dieses Extrem ebenso unverzeihlich wie dasjenige, zu dem die rabiatesten Subjektivisten gelangt sind. Es ist ebenso unbegründet, die These der Antithese zu opfern, wie die Antithese der These zuliebe zu vergessen. Der richtige Standpunkt wird erst dann gefunden, wenn wir es verstehen, die ihnen innewohnenden Momente der Wahrheit in der Synthese zu vereinigen [16].

IV

Diese Aufgabe interessiert uns schon seit langem, und seit langem schon hatten wir Lust, den Leser aufzufordern, sie mit uns gemeinsam in Angriff zu nehmen. Aber gewisse Befürchtungen hielten uns davon zurück: wir dachten, unsere Leser hätten diese Frage vielleicht schon bei sich entschieden, und so käme unsere Aufforderung zu spät. Gegenwärtig haben wir diese Befürchtungen nicht mehr. Die deutschen Historiker haben sie uns genommen. Wir sagen das in allem Ernst. Die Sache ist nämlich die, daß in der letzten Zeit unter den deutschen Historikern eine ziemlich bewegte Diskussion über die großen Männer in der Geschichte stattgefunden hat. Die einen neigten dazu, in der politischen Tätigkeit dieser Männer die hauptsächliche und schier einzige Triebfeder der historischen Entwicklung zu sehen, die anderen aber behaupteten, daß eine solche Auffassung einseitig sei und daß die Geschichtswissenschaft nicht nur die Tätigkeit der großen Männer und nicht nur die politische Geschichte im Auge behalten müsse, sondern das »Ganze des gesellschaftlichen Lebens«
 

Als einer der Vertreter dieser letzteren Richtung ist Karl Lamprecht aufgetreten, der Verfasser der Deutschen Geschichte, die von Herrn P. Nikolajew ins Russische übersetzt worden ist. Die Gegner warfen Lamprecht »Kollektivismus« und Materialismus vor, er wurde sogar - horrible dictu [17] - mit den »sozialdemokratischen Atheisten« in eine Reihe gestellt, wie er sich am Schluß der Diskussion ausdrückte. Als wir seine Anschauungen kennenlernten, sahen wir, daß die Vorwürfe, die gegen den armen Gelehrten erhoben wurden, völlig unbegründet waren. Gleichzeitig haben wir uns davon überzeugt, daß die heutigen deutschen Historiker außerstande sind, die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zu entscheiden. Nunmehr hielten wir uns für berechtigt anzunehmen, daß diese Frage auch für manche russischen Leser ungelöst geblieben ist, und daß auch jetzt noch über sie manches zu sagen wäre, was nicht ganz ohne theoretisches und praktisches Interesse ist.
 

Lamprecht hat sich eine ganze Sammlung (wie er sich ausdrückt: eine artige Sammlung) von Zeugnissen hervorragender Staatsmänner angelegt über das Verhältnis ihrer eigenen Tätigkeit zu dem historischen Milieu, in dem sich diese vollzog; in seiner Polemik hat er sich einstweilen mit der Berufung auf gewisse Reden und Aeußerungen Bismarcks begnügt. Er führt folgende Worte an, die de eiserne Kanzler am 16. April 1869 im Norddeutschen Reichstag sagte: »Wir können die Geschichte der Vergangenheit weder ignorieren, noch können wir, meine Herren, die Zukunft machen; und das ist ein Mißverständnis, vor dem ich auch hier warnen möchte, daß wir uns nicht einbilden, wir können den Lauf der Zeit dadurch beschleunigen, daß wir unsere Uhren vorstellen. Mein Einfluß auf die Ereignisse, die mich getragen haben, wird zwar wesentlich überschätzt, aber doch wird mir gewiß keiner zumuten, Geschichte zu machen; das, meine Herren, könnte ich selbst in Gemeinschaft mit Ihnen nicht, eine Gemeinschaft, in der wir doch so stark sind, daß wir einer Welt in Waffen trotzen könnten, aber die Geschichte können wir nicht machen, sondern nur abwarten, daß sie sich vollzieht. Wir können das Reifen der Früchte nicht dadurch beschleunigen, daß wir eine Lampe darunter halten, und wenn wir nach unreifen Früchten schlagen, so werden wir nur ihr Wachstum hindern und sie verderben.« Sich auf das Zeugnis Jollys berufend, führt Lamprecht Bismarcks Bemerkungen an, die er wiederholt während des Krieges zwischen Frankreich und Preußen machte. Ihr allgemeiner Sinn ist wiederum der: »große politische Änderungen ließen sich nicht machen, man müsse den natürlichen Lauf der Dinge beachten und sich darauf beschränken, das Gereifte zu sichern«. Lamprecht sieht darin eine tiefe und vollkommene Wahrheit. Seiner Meinung nach kann der moderne Geschichtsschreiber gar nicht anders denken, wenn er es nur versteht, in die Tiefe der Ereignisse zu blicken und sein Gesichtsfeld nicht auf eine allzu kurze Zeitspanne zu beschränken. Hätte Bismarck etwa Deutschland zur Naturalwirtschaft zurückführen können? Das wäre für ihn selbst damals unmöglich gewesen, als ei sich auf dem Gipfel seiner Macht befand. Die allgemeinen historischen Bedingungen sind stärker als die stärksten Persönlichkeiten. Der allgemeine Charakter seiner Epoche ist für den großen Mann die »empirisch gegebene Notwendigkeit«.

So argumentiert Lamprecht, der seine Auffassung als universalistisch bezeichnet. Es ist nicht schwer, die schwache Seite der »universalistischen« Auffassung wahrzunehmen. Die angeführten Aeußerungen Bismarcks sind als psychologisches Dokument sehr interessant. Man braucht mit der Tätigkeit des früheren deutschen Kanzlers nicht zu sympathisieren, aber man kann nicht sagen, daß sie unbedeutend war, daß Bismarck sich durch »Quietismus« auszeichnete. Von ihm hat ja Lassalle gesagt: »Die Diener der Reaktion sind keine Schönredner, aber gebe Gott, daß der Fortschritt mehr solcher Diener habe.« Und dieser Mann, der zuweilen eine geradezu eiserne Energie an den Tag legte, hielt sich für vollkommen ohnmächtig vor dem natürlichen Gang der Dinge und betrachtete sich selber offenbar als einfaches Werkzeug der historischen Entwicklung: das zeigt nur noch einmal, daß man die Erscheinungen im Lichte der Notwendigkeit sehen und zugleich ein sehr energischer Mann sein kann. Aber nur in dieser Hinsicht sind auch Bismarcks Ansichten von Interesse; als Antwort auf die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte können sie jedoch nicht gelten. Laut Bismarck machen sich die Geschehnisse von selbst, wir aber können uns das sichern, was durch sie vorbereitet wird. Jeder Akt der »Sicherung« ist jedoch ebenfalls ein historisches Geschehnis: wodurch unterscheiden sich denn diese Geschehnisse von denen, die sich von selbst machen? In Wirklichkeit ist beinahe jedes historische Geschehen gleichzeitig sowohl die »Sicherung« der bereits reif gewordenen Früchte der vorhergegangenen Entwicklung für irgend jemand als auch ein Glied in der Kette der Ereignisse, die die Früchte der Zukunft vorbereiten. Wie kann man da die Akte der »Sicherung« dem natürlichen Gang der Dinge entgegenstellen? Bismarck wollte offenbar sagen, daß die in der Geschichte handelnden Personen und Personengruppen niemals allmächtig waren und es auch nie sein werden. Das unterliegt, natürlich nicht dem geringsten Zweifel. Aber wir möchten dennoch wissen, wovon ihre natürlich bei weitem nicht allmächtige Kraft abhängt; unter welchen Umständen sie zu- und unter welchen sie abnimmt. Diese Fragen beantwortet weder Bismarck noch der ihn zitierende gelehrte Verteidiger der »universalistischen« Geschichtsauffassung.

Allerdings trifft man bei Lamprecht auch deutlichere Zitate an [18]. Er führt zum Beispiel folgende Worte von Monod, einem der prominentesten Vertreter der modernen Geschichtswissenschaft Frankreichs, an: »Man hat sich in der Geschichte zu sehr daran gewöhnt, sich ganz besonders mit den glänzenden, überraschenden und ephemeren Aeußerungen der menschlichen Tätigkeit, mit den großen Ereignissen und großen Männern zu beschäftigen, anstatt sich auf die großen und langsamen Bewegungen der ökonomischen Bedingungen und sozialen Einrichtungen zu stützen, die den wahrhaft interessanten und unvergänglichen Teil der menschlichen Entwicklung bilden, den Teil, der mit einer gewissen Bestimmtheit analysiert und bis zu einem gewissen Grade auf Gesetze zurückgeführt werden kann. Die wirklich bedeutenden Ereignisse und Persönlichkeiten sind gerade als Anzeichen und Symbole der verschiedenen Momente der gesamten Entwicklung bedeutend. Aber die meisten Ereignisse, die man als historisch bezeichnet, verhalten sich zur wirklichen Geschichte so, wie sich zu der tiefen und beständigen Bewegung von Ebbe und Flut die Wellen verhalten, die auf der Meeresoberfläche entstehen, einen Augenblick lang im leuchtenden Feuer des Lichtes funkeln, dann am sandigen Ufer zerschellen und nichts hinter sich zurücklassen.« Lamprecht erklärt sich bereit, jedes dieser Worte Monods zu unterschreiben. Bekanntlich lieben es die deutschen Gelehrten nicht, den französischen zuzustimmen, ebensowenig wie die französischen den deutschen. Deshalb hat der belgische Historiker Pirenne in der Revue Historique mit besonderer Genugtuung diese Uebereinstimmung der historischen Auffassungen Monods mit denen Lamprechts hervorgehoben. »Diese Übereinstimmung ist sehr bezeichnend«, erklärte er. »Sie beweist offenbar, daß die Zukunft der neuen historischen Richtung gehört.«

V

Wir teilen Pirennes angenehme Hoffnungen nicht. Die Zukunft kann nicht unklaren und unbestimmten Auffassungen gehören, und eben derart sind die Auffassungen Monods und insbesondere Lamprechts. Begrüßenswert ist natürlich eine Richtung, die als Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft das Studium der gesellschaftlichen Einrichtungen und ökonomischen Bedingungen erklärt. Wenn diese Richtung in dieser Wissenschaft endgültig Fuß faßt, wird sie weit vorankommen. Aber erstens irrt Pirenne, wenn er diese Richtung für neu hält. Sie entstand in der Geschichtswissenschaft bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Guizot, Mignet, Augustin Thierry und späterhin Tocquevile und andere waren ihre glänzenden und konsequenten Vertreter. Monods und Lamprechts Auffassungen sind lediglich ein schwacher Abklatsch eines alten, aber sehr bemerkenswerten Originals. Zweitens: so tief die Auffassungen Guizots, Mignets und anderer französischer Historiker für ihre Zeit auch waren, so ist vieles in ihnen ungeklärt geblieben. Sie enthalten keine genaue und vollständige Antwort auf die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in. der Geschichte. Die. historische Wissenschaft muß aber tatsächlich diese Frage lösen, wenn es ihren Vertretern gegeben sein soll, sich von der einseitigen Auffassung dieses Gegenstandes zu befreien. Die Zukunft gehört der Schule, die unter anderem die beste Lösung auch dieser Frage geben wird.

Die Auffassungen Guizots, Mignets und anderer Historiker dieser Richtung waren eine Reaktion auf die historischen Auffassungen des 18. Jahrhunderts, bilden deren Antithese. Im 18. Jahrhundert führten die Menschen, die sich mit der Philosophie der Geschichte beschäftigten, alles auf die bewußte Tätigkeit der Persönlichkeiten zurück. Es gab freilich auch damals Ausnahmen von der allgemeinen Regel: so war das philosophisch-historische Gesichtsfeld von Vico, Montesquieu und Herder viel weiter. Wir sprechen aber nicht von Ausnahmen; die überwiegende Mehrheit der Denker des 18. Jahrhundert hatte von der Geschichte die Auffassung, von der wir eben sprachen. In dieser Hinsicht ist es recht interessant, die historischen Werke, sagen wir Mablys, heute noch einmal zu lesen. Laut Mably hätte Minos ganz allein das sozial-politische Leben und die Sitten der Kreter geschaffen, und Lykurg hätte denselben Dienst Sparta geleistet. Wenn die Spartaner materielle Reichtümer verachteten so haben sie das eben Lykurg zu verdanken, der »sozusagen in die Tiefe der Herzen seiner Mitbürger hinabstieg und dort den Hang zum Reichtum im Keim unterdrückte« (descendit pour ainsi dire jusque dans le fonds du cœur des citoyens etc.) [19]. Und wenn die Spartaner später den ihnen vom weisen Lykurg gewiesenen Weg verließen, so hatte Lysander daran schuld, der die davon überzeugte, daß »die neuen Zeiten und neuen Umstände von ihnen neue Verhaltungsmaßregeln und eine neue Politik verlangen« [20]. Die Untersuchungen, die unter einem solchen Gesichtswinkel abgefaßt waren, hatten mit Wissenschaft sehr wenig gemein und wurden wie Predigten allein der aus ihnen hervorgehenden moralischen »Lehren« zuliebe geschrieben. Gegen diese Auffassungen wandten sich dann auch die französischen Historiker der Restauration. Nach den erschütternden Ereignissen am Ausgang des 18. Jahrhunderts war es schon absolut unmöglich zu denken, daß die Geschichte das Werk mehr oder weniger hervorragender, mehr oder weniger edler und aufgeklärter Persönlichkeiten sei, die nach eigenem Gutdünken der unaufgeklärten, aber gehorsamen Masse diese oder jene Gefühle und Begriffe einflößen. Eine solche Geschichtsphilosophie empörte außerdem den plebejischen Stolz der Theoretiker der Bourgeoisie. Hier kamen dieselben Gefühle zum Vorschein, die schon im 18. Jahrhundert bei der Entstehung des bürgerlichen Dramas in Erscheinung getreten waren. In seinem Kampf gegen die alten historischen Auffassungen bediente sieh übrigens Thierry derselben Argumente, die von Beaumarchais und anderen gegen diese alte Aesthetik angeführt wurden [21]. Schließlich hatten die Stürme, die Frankreich kurz vorher erlebt hatte, deutlich gezeigt, daß der Gang der historischen Ereignisse bei weitem nicht allein durch die bewußten Handlungen der Menschen bestimmt wird; schon allein dieser Umstand mußte auf den Gedanken bringen, daß diese Ereignisse sich unter dem Einfluß irgendeiner verborgenen Notwendigkeit vollziehen, die - ähnlich wie die Elementargewalten der Natur - blind, aber nach bestimmten unabwendbaren Gesetzen wirkt. Höchst bemerkenswert - obwohl bisher, soweit uns bekannt ist, von niemandem hervorgehoben - ist die Tatsache, daß die neue Auffassung der Geschichte als eines gesetzmäßigen Prozesses am konsequentesten von den französischen Historikern der Epoche der Restauration und gerade in den Werken niedergelegt wurde, die sich mit der französischen Revolution befassen. Dazu gehören, unter anderem, auch die Werke von Mignet. Chateaubriand bezeichnete die neue historische Schule als fatalistisch. Die Aufgaben formulierend, vor die sie den Forscher stellte, schrieb er: »Dieses System verlangt, daß der Historiker über die grausamsten Brutalitäten ohne Empörung berichte, über die höchsten Tugenden ohne Liebe spreche und mit seinem eisigen Blick im Leben der Gesellschaft nur die Aeußerung unabwendbarer Gesetze sehe, kraft deren jede Erscheinung sich gerade so vollzieht, wie sie sich unvermeidlich vollziehen mußte.« [22] Das ist natürlich falsch. Die neue Schule verlangt vom Historiker keineswegs Leidenschaftslosigkeit. Augustin Thierry hat sogar direkt erklärt, daß politische Leidenschaften, die den Verstand des Forschers schärfen, als mächtiges Mittel zur Entdeckung der Wahrheit dienen können [23]. Und es genügt, auch nur flüchtig die historischen Werke von Guizot, Thierry oder Mignet kennenzulernen, um zu sehen, daß sie sehr heiß mit der Bourgeoisie sympathisierten, sowohl in ihrem Kampfe gegen die weltliche und geistliche Aristokratie, als auch in ihrem Bestreben, die Forderungen des aufkommenden Proletariats zu unterdrücken. Unbestreitbar ist aber folgendes: die neue historische Schule entstand in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, d.h. zu einer Zeit, wo die Aristokratie bereits von der Bourgeoisie besiegt war, obwohl sie sich noch bemühte, einige ihrer alten Vorrechte wiederherzustellen. Das stolze Bewußtsein des Sieges ihrer Klasse zeigte sich in allen Betrachtungen der Historiker der neuen Schule. Da sich die Bourgeoisie aber niemals durch ritterliche Gefühlsfeinheit auszeichnete, so ließ sich mitunter in den Betrachtungen ihrer gelehrten Vertreter eine grausame Einstellung zu den Besiegten vernehmen. »Le plus fort absorbe le plus faible«, sagt Guizot in einer seiner polemischen Broschüren, »et il est de droit«. (»Der Stärkere verschlingt den Schwächeren, und er hat ein Recht dazu.«) Nicht weniger grausam ist sein Verhältnis zur Arbeiterklasse. Diese Grausamkeit, die zeitweise die Form ruhiger Leidenschaftslosigkeit annimmt, hat auch Chateaubriand irregeführt. Außerdem war es damals nicht ganz klar, was unter Gesetzmäßigkeit der historischen Bewegung zu verstehen sei. Die neue Schule konnte endlich gerade deswegen als fatalistisch erscheinen, weil sie, bestrebt, sich fest auf den Standpunkt der Gesetzmäßigkeit zu stellen, sich wenig mit den großen historischen Persönlichkeiten befaßte [24]. Damit konnten sich Leute, die in den historischen Ideen des 18. Jahrhunderts erzogen wurden, kaum abfinden. Von allen Seiten hagelte Einwände gegen die neuen Historiker, und damals entstand der Streit, der, wie wir gesehen haben, auch bis auf den heutigen Tag noch nicht zu Ende ist.

Im Januar 1826 schrieb Sainte-Beuve im Globe aus Anlaß des Erscheinens des fünften und des sechsten Bandes der Geschichte der französischen Revolution von Mignet: »In jedem gegebenen Augenblick vermag der Mensch durch einen plötzlichen Entschluß seines Willens in den Gang der Geschehnisse eine neue, unerwartete und veränderliche Kraft einzuführen, die fähig ist, ihm eine andere Richtung zu geben, die selbst aber infolge ihrer Veränderlichkeit sich nicht messen läßt.« Man soll nicht glauben, daß Sainte-Beuve annahm, die »plötzlichen Entschlüsse« des menschlichen Willens träten ohne jede Ursache auf. Nein, das wäre viel zu naiv. Er behauptete lediglich, daß die geistigen und moralischen Eigenschaften des Menschen, der eine mehr oder minder wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt, daß seine Talente, Kenntnisse, seine Entschlossenheit oder Unentschlossenheit, seine Tapferkeit oder Feigheit usw. nicht ohne sichtbaren Einfluß auf den Gang und Ausgang der Geschehnisse bleiben können daß diese Eigenschaften sich indes nicht allein aus den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Volkes erklären, sondern sich stets und in hohem Grade unter der Wirkung dessen bilden, was man als Zufälligkeiten des Privatlebens bezeichnen könnte. Wir wollen einige Beispiele anführen, um diesen, wie es übrigens scheint, ohnehin klaren Gedanken klarzulegen.

Im österreichischen Erbfolgekriege erfochten die französischen Truppen einige glänzende Siege, und Frankreich konnte allem Anschein nach von Österreich die Überlassung eines ziemlich großen Gebiets des heutigen Belgien erzwingen; Ludwig XV. forderte aber diese Gebietsabtretungen nicht, da er, seinen Worten nach, als König, und nicht als Kaufmann Krieg führte, und der Aachener Friede brachte den Franzosen nichts ein. Hätte aber Ludwig XV. einen anderen Charakter gehabt, so würde vielleicht das Territorium Fränkreichs einen Zuwachs erfahren haben, so daß der Gang seiner ökonomischen und politischen Entwicklung ein etwas anderer geworden wäre.

Den Siebenjährigen Krieg führte Frankreich bekanntlich schon im Bunde mit Österreich. Man sagt, daß diesem Bündnis unter starker Mitwirkung der Madame Pompadour geschlossen wurde, die sich dadurch sehr geschmeichelt fühlte, daß die stolze Maria Theresia sie in einem an sie gerichteten Brief ihre Base oder ihre liebe Freundin (bien bonne amie) genannt hatte. Man könnte daher sagen: hätte Ludwig XV. strengere Sitten gehabt oder wäre er weniger dem Einfluß von Favoritinnen zugänglich gewesen, so hätte Madame Pompadour nicht diesen Einfluß auf den Gang der Ereignisse gewonnen, und sie hätten eine andere Wendung genommen.

Weiter. Der Siebenjährige Krieg verlief für Frankreich unglücklich: seine Generale erlitten einige höchst schmähliche Niederlagen. Sie benahmen sich überhaupt mehr als sonderbar. Richelieu beschäftigte sich mit Plünderungen, während Soubise und Broglie sich ständig gegenseitig störten. Broglie griff zum Beispiel den Gegner bei Philinghausen an, Soubise hörte die Kanonenschüsse, kam aber seinem Kameraden nicht zu Hilfe - wie es ausgemacht war und was er zweifellos hätte tun müssen -, und so sah sich Broglie zum Rückzug gezwungen [25]. Die Gönnerin dieses höchst unbegabten Soubise war dieselbe Madame Pompadour. Und man kann wiederum sagen: wäre Ludwig XV. weniger sinnlich veranlagt gewesen, oder hätte seine Favoritin sich nicht in die Politik eingemischt, so hätten die Ereignisse einen für Frankreich weniger ungünstigen Verlauf genommen.

Die französischen Historiker behaupten, daß Frankreich überhaupt nicht auf dem europäischen Kontinent hätte Krieg führen, sondern eher alle seine Bemühungen auf See konzentrieren sollen, um seine Kolonien gegen Englands Anschläge zu behaupten. Wenn Frankreich anders gehandelt hat, so sei daran wiederum die unvermeidliche Madame Pompadour schuld, die »ihrer lieben Freundin« Maria Theresia gefällig sein wollte. Infolge des Siebenjährigen Krieges verlor Frankreich seine besten Kolonien, was zweifellos die Entwicklung seiner ökonomischen Lage stark beeinflußt hat. Die weibliche Eitelkeit tritt hier in der Rolle eines einflußreichen »Faktors« der ökonomischen Entwicklung vor uns.

Bedarf es noch anderer Beispiele? Wir wollen noch ein, vielleicht das auffallendste, Beispiel anführen. Während dieses selben Siebenjährigen Krieges, im August 1761, vereinigten sich die österreichischen Truppen in Schlesien mit den russischen und umzingelten Friedrich bei Striegau. Friedrichs Lage war verzweifelt, aber die Verbündeten zögerten mit der Offensive, und der General Buturlin, der 20 Tage lang vor dem Feinde gestanden hatte, räumte Schlesien und ließ zur Unterstützung des österreichischen Generals Laudon nur einen Teil seiner Kräfte zurück. Laudon nahm dann Schweidnitz ein, in dessen Nähe Friedrich stand, aber dieser Erfolg war von keiner großen Bedeutung. Wie aber, wenn Buturlin einen entschlosseneren Charakter besessen hätte? wenn die Verbündeten Friedrich angegriffen hätten, ohne ihm Zeit zu lassen, sich in seinem Lager zu verschanzen? Es ist möglich, daß sie ihn aufs Haupt geschlagen hätten und er gezwungen gewesen wäre, sich allen Forderungen der Sieger zu unterwerfen. Und das geschah knapp einige Monate, bevor ein neuer Zufall, der Tod der Kaiserin Elisabeth, mit einem Schlag die Lage der Dinge stark in einem für Friedrich günstigen Sinne änderte. Es fragt sich, was geschehen wäre, wenn Buturlin mehr Entschlußkraft besessen oder wenn ein Mann wie Suworow seinen Posten bekleidet hätte?

Die Auffassung der »Fatalisten« unter den Historikern analysierend, brachte Sainte-Beuve auch noch ein anderes Argument vor, das ebenfalls zu berücksichtigen ist. In dem von uns zitierten Artikel über Mignets Geschichte der französischen Revolution suchte er den Nachweis zu führen, daß der Gang und der Ausgang der französischen Revolution nicht nur durch die allgemeinen Ursachen bedingt waren, die sie hervorgerufen hatten, und nicht nur durch die Leidenschaften, die sie ihrerseits auslöste, sondern auch durch eine Unmenge geringfügiger Erscheinungen, die sich dem Auge des Forschers entziehen und selbst gar nicht zu den eigentlich sogenannten gesellschaftlichen Erscheinungen gehören. »Während diese« (durch die gesellschaftlichen Erscheinungen hervorgerufenen) »Leidenschaften am Werk waren«, schrieb er, »waren die physischen und physiologischen Kräfte der Natur ebenfalls nicht untätig: der Stein folgte nach wie vor der Gravitation; das Blut hörte nicht auf, in den Adern zu zirkulieren. Hätte sich denn der Verlauf der Ereignisse nicht geändert, wenn, sagen wir, Mirabeau nicht am hitzigen Fieber gestorben Wäre; wenn ein zufällig heruntergefallener Ziegelstein Robespierre erschlagen hätte, oder er einem Schlaganfall erlegen wäre; wenn eine Kugel Bonaparte niedergestreckt hätte? Werden Sie etwa den Mut haben, zu behaupten, daß der Ausgang der Ereignisse derselbe gewesen wäre? Bei einer genügend großen Anzahl von Zufälligkeiten, ähnlich den von mir vorausgesetzten, hätte der Ausgang vollkommen entgegengesetzt dem sein können, der Ihrer Meinung nach unvermeidlich war. Es ist aber mein gutes Recht, solche Zufälligkeiten vorauszusetzen, denn sie werden weder durch die allgemeinen Ursachen der Revolution, noch durch die von den allgemeinen Ursachen erzeugten Leidenschaften ausgeschlossen.« Er führt ferner die bekannte Bemerkung an, daß die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Nase der Kleopatra etwas kürzer gewesen wäre, und gibt zum Abschluß zu, es ließe sich zugunsten der Auffassung Mignets sehr viel sagen, und weist noch einmal darauf hin, worin der Irrtum dieses Autors bestehe. Mignet schreibe allein der Wirkung der allgemeinen Ursachen diejenigen Resultate zu, deren Eintreffen durch eine Unmenge anderer, geringfügiger, dunkler und unfaßbarer Ursachen gefördert wurde; sein strenger Verstand sträube sich gewissermaßen dagegen, die Existenz dessen anzuerkennen, worin er keine Ordnung und Gesetzmäßigkeit sehe.

VI

Sind nun die Einwände Sainte-Beuves begründet? Es hat den Anschein, daß sie einen gewissen Teil Wahrheit enthalten. Aber welchen eigentlich? Um das festzustellen, wollen wir zuerst den Gedanken betrachten, daß der Mensch durch »plötzliche Entschlüsse seines Willens« in den Gang der Geschehnisse eine neue Kraft einzuführen vermag, die fähig ist, ihn wesentlich zu verändern. Wir haben einige Beispiele angeführt, die, wie uns scheint, diesen Gedanken gut erläutern. Denken wir uns in diese Beispiele hinein.

Es ist allbekannt, daß das Kriegswesen während der Regierung Ludwigs XV. in Frankreich immer mehr verfiel. Henri Martin bemerkt, daß im Siebenjährigen Kriege die französischen Truppen, hinter denen stets eine Menge Dirnen, Händler und Diener herzogen, und die dreimal soviel Trainpferde als Reitpferde hatten, eher an die Horden des Darius und Xerxes erinnerten als an die Armeen von Purenne und Gustav Adolf. [26] Archenholz erzählt in seiner Geschichte dieses Krieges, daß die französischen Offiziere, die zur Wache eingeteilt waren, häufig die ihnen anvertrauten Posten verließen, um irgendwo in der Nachbarschaft tanzen zu gehen, und den Befehlen des Kommandos nur dann gehorchten, wenn sie es für nötig und bequem hielten. Dieser klägliche Stand des Militärwesens wurde durch den Niedergang des Adels bedingt, der jedoch nach wie vor alle hohen Aemter in der Armee einnahm, sowie durch die allgemeine Zerrüttung des ganzen »alten Regimes«, das schnell seinem Verfall entgegenging. Allein diese allgemeinen Ursachen hätten vollkommen genügt, um dem Siebenjährigen Krieg eine für Frankreich ungünstige Wendung zu geben. Aber unzweifelhaft ist auch, daß die Unfähigkeit solcher Generale wie Soubise für die französische Armee die durch die allgemeinen Ursachen bedingten Aussichten auf Mißerfolg noch erheblich steigerte. Da sich aber Soubise dank der Madame Pompadour hielt, so wird man zugeben müssen, daß die eitle Marquise einer der »Faktoren« war, die im Siebenjährigen Krieg die füt Frankreich ungünstige Wirkung der allgemeinen Ursachen auf die Lage der Dinge bedeutend verstärkten.

Die Marquise de Pompadour war nicht durch ihre eigene Macht stark, sondern durch die Macht des Königs, der sich ihrem Willen unterwarf. Kann man etwa sagen, daß der Charakter Ludwigs XV. gerade derart war, wie er nach dem allgemeinen Entwicklungsgang der gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich unbedingt hätte sein müssen? Nein, bei demselben Gang der Entwicklung hätte seinen Platz ein König innehaben können, der eine andere Einstellung zu den Frauen hatte. Sainte-Beuve würde sagen, daß dazu die Wirkung von dunklen und unfaßbaren physiologischen Ursachen genügt hätte. Und er hätte recht. Wenn dem aber so ist, so übten also diese dunklen physiologischen Ursachen, die den Gang und Ausgang des Siebenjährigen Krieges beeinflußt hatten, dadurch auch einen Einfluß auf die weitere Entwicklung Frankreichs aus, die eine andere gewesen wäre, wenn der Siebenjährige Krieg Frankreich nicht um den größten Teil seiner Kolonien gebracht hätte. Es fragt sich nun: widerspricht diese Schlußfolgerung nicht dem Begriff der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung?

Nein, nicht im geringsten. So unzweifelhaft in den genannten Fällen die Wirkung der persönlichen Besonderheiten auch sein mag, nicht minder zweifelhaft ist auch, daß diese Wirkung nur unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen eintreten konnte. Nach der Schlacht bei Roßbach waren die Franzosen über Soubises Gönnerin schrecklich ungehalten. Sie bekam täglich eine Menge anonymer Briefe voller Drohungen und Beleidigungen. Das regte die Frau Pompadour sehr auf; sie begann, an Schlaflosigkeit zu leiden [27]. Aber sie fuhr dennoch fort, Soubise zu unterstützen. In einem ihrer Briefe an ihn aus dem Jahre 1762 macht sie die Bemerkung, daß er die auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht gerechtfertigt habe, und fügt dann hinzu: »Doch seien Sie unbesorgt, ich werde Ihre Interessen wahrnehmen und werde versuchen, Sie mit dem König auszusöhnen.« [28] Wie man sieht, machte sie der öffentlichen Meinung keine Zugeständnisse. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil die damalige französische Gesellschaft nicht über die Möglichkeit verfügte, sie zu Zugeständnissen zu zwingen. Und warum war die damalige französische Gesellschaft dazu nicht imstande? Sie wurde daran durch ihre Organisation behindert, die ihrerseits von den Wechselbeziehungen der damaligen gesellschaftlichen Kräfte in Frankreich abhing. Aus den Wechselbeziehungen dieser Kräfte ist also in letzter Instanz der Umstand zu erklären, daß die Charaktereigenschaften Ludwigs XV. und die Launen seiner Favoritinnen einen so traurigen Einfluß auf die Geschicke Frankreichs ausüben konnten. Hätte nicht der König eine Schwäche für das weibliche Geschlecht gehabt, sondern irgendein königlicher Koch oder Stallmeister, so wäre ja dieser Schwäche keinerlei historische Bedeutung zugekommen. Es ist klar, daß hier nicht die Schwäche ausschlaggebend ist, sondern die gesellschaftliche Stellung der Person, die an ihr krankt. Der Leser wird einsehen, daß diese Betrachtungen auch auf alle anderen oben angeführten Beispiele angewandt werden können. Man braucht in diesen Betrachtungen nur das zu ändern, was veränderlich ist, zum Beispiel, anstatt Frankreich Rußland zu setzen, anstatt Soubise Buturlin usw. Wir wollen darum diese Betrachtungen nicht wiederholen.

Es ergibt sich, daß die Persönlichkeiten kraft der gegebenen Besonderheiten ihres Charakters die Geschicke der Gesellschaft beeinflussen können. Mitunter ist dieser Einfluß sogar recht beträchtlich, aber sowohl die Möglichkeit einer solchen Beeinflussung selbst als auch ihr Ausmaß werden durch die Organisation der Gesellschaft, durch das Wechselverhältnis ihrer Kräfte bestimmt. Die Charaktereigenschaften der Persönlichkeit sind nur dann, nur dort und nur insofern ein »Faktor« der gesellschaftlichen Entwicklung, wann, wo und inwiefern die gesellschaftlichen Beziehungen ihnen erlauben, es zu sein.

Man könnte uns entgegnen, daß das Ausmaß des persönlichen Einflusses auch von den Talenten der Persönlichkeit abhängt. Wir werden dem zustimmen. Die Persönlichkeit kann aber nur dann ihre Talente offenbaren, wenn sie die dazu notwendige Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Wie kam es, daß das Schicksal Frankreichs in den Händen eines Menschen liegen konnte, dem jede Fähigkeit und jede Lust zum Dienst an der Gesellschaft abging? Weil die gesellschaftliche Organisation Frankreichs so beschaffen war. Diese Organisation bestimmt zu jeder gegebenen Zeit die Rolle und folglich auch die gesellschaftliche Bedeutung, die talentierten oder talentlosen Persönlichkeiten zufallen können.

Wenn aber die Rolle der Persönlichkeit durch die Organisation der Gesellschaft bestimmt wird, wie kann dann ihr durch diese Rolle bedingter gesellschaftlicher Einfluß dem Begriff der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung widersprechen? Der gesellschaftliche Einfluß widerspricht auch diesem Begriff nicht, sondern dient vielmehr klarer als viele andere zu seiner Illustration.

Hier muß aber folgendes bemerkt werden. Die durch die Organisation der Gesellschaft bedingte Möglichkeit des gesellschaftlichen Einflusses der Persönlichkeiten öffnet Tür und Tor dem Einfluß von sogenannten Zufälligkeiten auf die historischen Geschicke der Völker. Ludwigs XV. Sinnlichkeit war die notwendige Folge des Zustandes seines Organismus. In bezug auf den allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs war aber dieser Zustand etwas Zufälliges. Indes ist er, wie wir schon gesagt haben, nicht ohne Einfluß auf das weitere Schicksal Frankreichs geblieben und ist selber in die Zahl der Ursachen eingegangen, die dieses Schicksal bedingt haben. Mirabeaus Tod wurde natürlich durch ganz gesetzmäßige pathologische Prozesse verursacht. Die Notwendigkeit dieser Prozesse entsprang aber keineswegs dem allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs; sondern gewissen privaten Besonderheiten des Organismus des berühmten Redners und jenen physischen Bedingungen, unter denen er sich angesteckt hatte. In bezug auf den allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs sind diese Besonderheiten und diese Bedingungen zufällig. Indes hat Mirabeaus Tod den weiteren Verlauf der Revolution beeinflußt und gehört zu den Ursachen, die diesen Verlauf bedingten.

Noch auffallender ist die Wirkung zufälliger Ursachen in dem oben angeführten Beispiel Friedrichs II., der nur dank, der Unentschlossenheit Buturlins einer höchst schwierigen Situation entronnen war. Buturlins Amtseinsetzung konnte sogar im Verhältnis zum allgemeinen Entwicklungsgang Rußlands, in dem von uns festgelegten Sinne dieses Wortes, zufällig sein; zu der allgemeinen Entwicklung Preußens stand er allerdings in gar keinem Verhältnis. Indes ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß Friedrich dank Buturlins Unentschlossenheit einer verzweifelten Lage entronnen ist; Hätte an der Stelle von Buturlin Suworow gestanden, so hätte sich die Geschichte Preußens vielleicht anders gestaltet. Demnach hängt mitunter das Schicksal der Staaten von Zufälligkeiten ab, die man als Zufälligkeiten zweiten Grades bezeichnen kann. »In allem Endlichen ist ein Element des Zufälligen«, sagt Hegel. In der Wissenschaft haben wir es nur mit dem »Endlichen« zu tun; deshalb kann man sagen, daß in allen Prozessen, die von der Wissenschaft erforscht werden, ein Element des Zufälligen ist. Schließt das etwa die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Erscheinungen aus? Mitnichten. Das Zufällige ist etwas Relatives. Es tritt nur im Schnittpunkt notwendiger Prozesse auf. Das Auftauchen der Europäer in Amerika war für die Bewohner Mexikos und Perus etwas Zufälliges in dem Sinne, daß es sie nicht aus der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Länder ergab. Nicht zufällig war aber die Vorliebe für die Seeschiffahrt, von der die Westeuropäer am Ausgang des Mittelalters erfaßt wurden; nicht zufällig war der Umstand, daß die Kraft der Europäer den Widerstand der Eingeborenen leicht überwand. Nicht zufällig waren auch die Folgen der Eroberung Mexikos und Perus durch die Europäer; diese Folgen bildeten letzten Endes die Resultate zweier Kräfte: der ökonomischen Lage der eroberten Länder einerseits, und der ökonomischen Lage der Eroberer anderseits. Diese Kräfte können aber, ebenso wie ihre Resultate, durchaus Gegenstand einer streng wissenschaftlichen Untersuchung sein.

Die Zufälligkeiten des Siebenjährigen Krieges übten einen starken Einfluß auf die weitere Geschichte Preußens aus. Aber ihr Einfluß wäre ein ganz anderer gewesen, wenn sie Preußen auf einer anderen Entwicklungsstufe angetroffen hätten. Die Folgen der Zufälligkeiten waren auch hier durch die Resultante zweier Kräfte bestimmt: der sozialen und politischen Lage Preußens einerseits, und der sozialen und politischen Lage der europäischen Länder, von denen Preußen beeinflußt wurde, anderseits. Folglich hindert das Zufällige auch hier keineswegs, die Erscheinungen wissenschaftlich zu erforschen.

Wir wissen nun, daß Persönlichkeiten häufig einen starken Einfluß auf das Schicksal der Gesellschaft ausüben, daß aber dieser Einfluß durch ihre innere Verfassung und ihr Verhältnis zu anderen Gesellschaften bestimmt wird. Dadurch ist aber die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nicht erschöpft. Wir müssen diese Frage noch von einer anderen Seite anfassen.

Sainte-Beuve war der Ansicht, daß beim Vorhandensein einer genügenden Anzahl geringfügiger und dunkler Ursachen der von ihm genannten Art die französische Revolution einen Ausgang hätte haben können, der dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzt wäre. Das ist ein großer Irrtum. Welche wunderlichen Verflechtungen die geringen physiologischen und psychologischen Ursachen auch hätten eingehen mögen, sie hätten doch keinesfalls die großen gesellschaftlichen Nöte beseitigt, die die französische Revolution hervorgerufen haben; und solange diese Nöte unbefriedigt geblieben wären, wäre die revolutionäre Bewegung in Frankreich nicht zum Stillstand gekommen. Damit der Ausgang dieser Bewegung dem tatsächlich eingetretenen hätte entgegengesetzt sein können, hätte man diese Bedürfnisse durch andere, ihnen entgegengesetzte, ersetzen müssen; aber das hätten natürlich keinerlei Kombinationen von geringfügigen Ursachen zustande bringen können.

Die Ursachen der französischen Revolution lagen in den Besonderheiten der gesellschaftlichen Beziehungen, die von Sainte-Beuve vorausgesetzten geringfügigen Ursachen konnten aber nur in den individuellen Besonderheiten der einzelnen Personen wurzeln. Die Endursache der gesellschaftlichen Beziehungen liegt im Stand der Produktivkräfte. Dieser hängt von den individuellen Besonderheiten der einzelnen Personen höchstens in dem Sinne ab, daß die einzelnen Personen mehr oder minder begabt sind, technische Vervollkommnungen, Entdeckungen und Erfindungen zu machen. Sainte-Beuve hatte nicht diese Besonderheiten im Auge. Alle möglichen anderen Besonderheiten gewähren aber den Einzelpersonen keinen unmittelbaren Einfluß auf den Stand der Produktivkräfte und folglich auch nicht auf die gesellschaftlichen Beziehungen, durch die sie bedingt werden, d.h. auf die ökonomischen Beziehungen. Welches auch die Besonderheiten der gegebenen Persönlichkeit sein mögen, sie kann die gegebenen ökonomischen Beziehungen nicht beseitigen, sobald diese dem gegebenen Stand der Produktivkräfte entsprechen. Aber die individuellen Besonderheiten der Persönlichkeit machen sie mehr oder weniger tauglich, die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die auf Grund der gegebenen ökonomischen Beziehungen entstehen, zu befriedigen oder dieser Befriedigung entgegenzuarbeiten. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts war das dringendste gesellschaftliche Bedürfnis Frankreichs, die veralteten politischen Einrichtungen durch andere zu ersetzen, die seiner neuen ökonomischen Struktur mehr entsprachen. Die angesehensten und nutzbringendsten Politiker jener Zeit waren namentlich diejenigen, die mehr als alle anderen befähigt waren, in der Richtung der Befriedigung dieser dringenden Bedürfnisse zu wirken. Angenommen, solche Männer waren Mirabeau, Robespierre und Bonaparte. Was wäre geschehen, wenn ein vorzeitiger Tod Mirabeau nicht von der politischen Arena entfernt hätte? Die Partei der konstitutionellen Monarchie hätte ihre bedeutende Macht längere Zeit behalten; ihr Widerstand gegen die Republikaner wäre daher energischer gewesen. Aber nichts weiter. Kein Mirabeau konnte damals den Sieg der Republikaner verhindern. Mirabeaus Kraft beruhte ganz und gar auf der Sympathie und dem Vertrauen des Volkes zu ihm, das Volk aber strebte die Republik an, denn der Hof wirkte durch seine hartnäckige Verteidigung des alten Regimes auf das Volk aufreizend. Hätte sich das Volk nur davon überzeugt, daß seine republikanischen Bestrebungen bei Mirabeau keine Sympathie finden, so hätte es selber die Sympathien für Mirabeau verloren, und dann hätte der große Redner fast jeden Einfluß eingebüßt und wäre daraufhin wahrscheinlich als Opfer dieser selben Bewegung gefallen, die aufzuhalten er vergebens versucht hätte. Ungefähr dasselbe läßt sich auch von Robespierre sagen. Angenommen, daß er in seiner Partei eine absolut unersetzbare Kraft darstellte. Er war aber jedenfalls nicht ihre einzige Kraft. Wäre er von einem zufällig herabgefallenen Ziegelstein, sagen. wir, im Januar 1793 erschlagen worden, so hätte irgendein anderer seinen Platz eingenommen, und hätte dieser andere auch in jeder Hinsicht tiefer gestanden als er selbst, so hätten die Ereignisse doch dieselbe Richtung genommen, die sie unter Robespierre genommen haben. So wären zum Beispiel die Girondisten auch in diesem Fall sicherlich nicht um die Niederlage herumgekommen; es ist aber möglich, daß Robespierres Partei etwas früher die Macht verloren hätte, so daß wir jetzt nicht von der Reaktion des Thermidor sprechen würden, sondern von der des Floréal, Prairial oder Messidor. Andere werden vielleicht sagen, daß Robespierre durch seinen unbeugsamen Terrorismus den Sturz seiner Partei nicht aufgehalten, sondern beschleunigt hat. Wir wollen diese Annahme hier nicht näher untersuchen, sondern sie hinnehmen, als sei sie durchaus begründet. In diesem Fall wird es notwendig sein vorauszusetzen, daß der Sturz der Robespierre-Partei nicht im Thermidor erfolgt wäre, sondern im Laufe des Monats Fructidor, Vendémiaire oder Brumaire. Kurzum, er wäre vielleicht früher, vielleicht aber auch später erfolgt, aber er wäre dennoch unbedingt erfolgt, denn die Volksschicht, auf die sich diese Partei stützte, war für eine dauerhafte Herrschaft keineswegs vorbereitet. Von Resultaten, »entgegengesetzt« denen, die unter der energischen Mitwirkung Robespierres eintraten, könnte jedenfalls nicht die Rede sein.

Sie hätten auch dann nicht eintreten können, wenn, sagen wir, eine Kugel Napoleon in der Schlacht bei Arcole niedergestreckt hätte. Das, was er im italienischen Feldzug und in den anderen Feldzfigen vollbracht hat, hätten andere Generale vollbracht. Sie hätten wahrscheinlich nicht solche Talente an den Tag gelegt wie er und hätten nicht solche glänzenden Siege errungen. Die französische Republik wäre aber dennoch aus ihren damaligen Kriegen als Siegerin hervorgegangen, denn ihre Soldaten waren unvergleichlich besser als alle anderen europäischen Soldaten. Was den 18. Brumaire und seinen Einfluß auf das innere Leben Frankreichs betrifft, so wären dem Wesen nach der allgemeine Gang und Ausgang der Ereignisse wahrscheinlich dieselben gewesen wie unter Napoleon. Die Republik siechte, durch die Niederlage vom 9. Thermidor tödlich getroffen, langsam dahin. Das Direktorium war nicht imstande, die Ordnung wiederherzustellen, die die Bourgeoisie nunmehr sehnlichst herbeiwünschte, nachdem sie sich von der Herrschaft der höheren Stände befreit hatte. Zur Wiederherstellung der Ordnung bedurfte es eines »guten Degens«, wie sich Sieyès ausdrückte. Anfangs glaubte man, die Rolle des wohltätigen Degens wurde General Jourdan spielen; als er aber bei Novi fiel, nannte man Moreau, Macdonald, Bernadotte.[29]. Von Bonaparte begann man erst später zu reden, und wäre er ebenso wie Jourdan gefallen, so würde man sich seiner überhaupt nicht erinnern und hätte irgendeinell anderen Degen« auf den Schild erhoben. Selbstverständlich mußte ein Mann, der durch die Ereignisse zum Rang eines Diktators erhöht wurde, seinerseits unermüdlich zur Macht drängen und alle anderen, die ihm im Wege standen, energisch beiseiteschieben und an die Wand drücken. Bonaparte besaß eine eiserne Energie und verschonte nichts, um seine Ziele zu erreichen. Aber außer ihm gab es damals recht viele energische, talentierte und ehrgeizige Egoisten. Der Platz, den es ihm einzunehmen gelang, wäre sicherlich nicht unbesetzt geblieben. Angenommen, irgendein anderer General, der diesen Platz erobert hätte, wäre friedfertiger gewesen als Napoleon; angenommen, er hätte sich nicht ganz Europa zum Feinde gemacht und wäre daher nicht auf der Insel St. Helena, sondern in den Tuilerien gestorben. Dann wären die Bourbonen überhaupt nicht nach Frankreich zurückgekehrt; für sie wäre ein solcher Ausgang natürlich »entgegengesetzt« demjenigen, der in Wirklichkeit eingetreten ist. In bezug auf das innere Leben Frankreichs wäre er aber von dem wirklichen Ergebnis wenig verschieden. Wäre einmal die Ordnung durch den »guten Degen« wiederhergestellt und die Herrschaft der Bourgeoisie durch ihn gesichert worden, so hätte die Bourgeoisie ihn mitsamt seinen Kasernengewohnheiten und seiner Despotie bald satt bekommen. Es hätte eine liberale Bewegung eingesetzt, ähnlich der, die unter der Restauration stattfand, der Kampf wäre nach und nach entbrannt, und da sich »gute Degen« nicht durch Nachgiebigkeit auszeichnen, so hätte der tugendhafte Louis Philippe den Thron seiner zärtlich geliebten Verwandten vielleicht nicht im Jahre 1830, sondern im Jahre 1820 oder 1825 bestiegen. Alle derartigen Veränderungen im Gang der Ereignisse hätten das weitere politische und dadurch auch das ökonomische Leben Europas teilweise beeinflussen können. Der endgültige Ausgang der revolutionären Bewegung wäre aber dennoch dem tatsächlich eingetretenen Ausgang nicht »entgegengesetzt«. Einflußreiche Persönlichkeiten können dank den Besonderheiten ihres Verstandes und Charakters das individuelle Gepräge der Geschehnisse und einige ihrer besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allgemeine Richtung nicht ändern, die durch andere Kräfte bestimmt wird.

VII

Außerdem ist noch folgendes zu bemerken. Wenn wir über die Rolle der großen Persönlichkeiten in der Geschichte reden, werden wir fast immer das Opfer einer gewissen optischen Täuschung. Es wäre von Nutzen, den Leser auf diese hinzuweisen.

Als Napoleon in der Rolle des »guten Degens« auftrat, der die gesellschaftliche Ordnung rettete, hielt er dadurch von dieser Rolle alle anderen Generale fern, von denen manche diese Rolle vielleicht ebensogut oder fast ebensogut wie er hätten spielen können. War einmal das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem energischen militärischen Herrscher befriedigt, so versperrte die gesellschaftliche Organisation allen anderen militärischen Talenten den Weg zum Posten des militärischen Herrschers. Die Kraft der gesellschaftlichen Organisation war zu einer Kraft geworden, die das Hervortreten anderer Talente dieser Art nicht begünstigte. Dadurch entsteht auch die optische Täuschung, von der wir sprachen. Die persönliche Kraft Napoleons erscheint uns in äußerst vergrößerter Gestalt, da wir ihr die ganze gesellschaftliche Kraft zuschreiben, von der sie vorgeschoben und gestützt wurde. Sie erscheint uns als etwas ganz Exklusives, denn andere Kräfte, die ihr glichen, sind nicht aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergegangen. Und wenn man uns sagt: was wäre, wenn es keinen Napoleon gegeben hätte, so gerät unsere Phantasie in Verwirrung, und es scheint uns, daß ohne ihn die ganze gesellschaftliche Bewegung, auf der seine Kraft und sein Einfluß beruhen, überhaupt nicht hätte zustande kommen können.

In der Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit kommt es unvergleichlich seltener vor, daß der Erfolg der einen Persönlichkeit dem einer anderen hinderlich wird. Aber auch da sind wir von der genannten optischen Täuschung nicht frei. Wenn die gegebene Lage der Gesellschaft ihre geistigen Wortführer vor bestimmte Aufgaben stellt, nehmen diese die Aufmerksamkeit hervorragender Köpfe so lange in Anspruch, bis es ihnen gelungen ist, sie zu lösen. Ist ihnen das einmal gelungen, so richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand. Durch seine Lösung der Aufgabe lenkt das gegebene Talent A die Aufmerksamkeit des Talentes B von dieser, bereits gelösten Aufgabe auf eine andere. Und wenn man Sie fragt: was wäre, wenn A gestorben wäre, ohne die Aufgabe X gelöst zu haben, so stellen wir uns vor, daß der Faden der geistigen Entwicklung der Gesellschaft gerissen wäre. Wir vergessen, daß im Falle des Todes von A ein B oder C oder D die Lösung der Aufgabe hätte in Angriff nehmen können, und daß so der Faden der geistigen Entwicklung, ungeachtet des vorzeitigen Todes von A, nicht abgerissen wäre.

Dazu, daß jemand, der ein Talent bestimmter Art besitzt, dank diesem Talent einen starken Einfluß auf den Gang der Ereignisse gewinne, ist die Erfüllung zweier Bedingungen notwendig. Erstens muß sein Talent ihn mehr als alle anderen den gesellschaftlichen Bedürfnissen dieser Epoche entsprechen lassen: hätte Napoleon anstatt seines militärischen Genies das musikalische Genie Beethovens besessen, so wäre er natürlich nicht Kaiser geworden. Zweitens darf die bestehende gesellschaftliche Ordnung nicht der Persönlichkeit den Weg versperren, die die gegebene, gerade in der gegebenen Zeit notwendige und nützliche Besonderheit besitzt. Wenn das alte Regime sich in Frankreich weitere siebzig Jahre gehalten hätte, wäre dieser selbe Napoleon als wenig bekannter General oder als Oberst Buonaparte gestorben [30]. Im Jahre 1789 waren Davout, Desaix, Marmont und Macdonald - Unterleutnants; Bernadotte - Feldtwebel, Hoche, Marceau, Lefebvre, Pichegru, Ney, Masséna, Murat, Soult - Unteroffiziere; Augereau - Fechtmeister; Lannes - Färber; Gouvion-Saint-Cyr - Schauspieler; Jourdan - Hausierer; Bessières - Friseur; Brune - Setzer; Joubert und Junot - Studenten der juristischen Fakultät; Kleber - Architekt; Mortier hatte bis zur Revolution überhaupt nicht gedient.[31].

Hätte das alte Regime bis auf den heutigen Tag fortbestanden, dann wäre es jetzt niemandem in den Sinn gekommen, daß am Ausgang des vorigen Jahrhunderts einige Schauspieler, Setzer, Friseure, Färber, Juristen, Hausierer und Fechtmeister latente militärische Talente waren. [32]

Stendhal bemerkt, daß ein Mensch, der gleichzeitig mit Tizian, d.h. im Jahre 1477, geboren worden wäre, 40 Jahre zusammen mit Raffael und Leonardo da Vinci hätte leben können, von denen der erste 1520 und der zweite 1519 gestorben ist, daß er viele Jahre mit Correggio hätte verbringen können, der 1534 gestorben ist, und mit Michelangelo, der bis 1563 lebte, daß er höchstens vierunddreißig Jahre alt gewesen wäre, als Giorgione starb, daß er mit Tintoretto, Bassano, Veronese, Giulio Romano und Andrea del Sarto hätte bekannt sein können; daß er mit einem Worte der Zeitgenosse aller großen Maler gewesen wäre, mit Ausnahme derjenigen der Bologneser Schule, die ein Jahrhundert später auftrat [33].Ebenso kann man sagen, daß ein Mensch, der in demselben Jahre wie Wouwerman geboren wäre, fast alle großen Maler Hollands persönlich gekannt hätte [34], und daß ein Altersgenosse Shakespeares gleichzeitig mit einer ganzen Reihe bedeutender Dramatiker gelebt hätte [35].

Man hat schon längst bemerkt, daß Talente überall und immer dann auftreten, wo und wann gesellschaftliche Bedingungen bestehen, die für ihre Entwicklung günstig sind. Das bedeutet, daß jedes Talent, das sich in der Wirklichkeit offenbart hat, d.h. jedes Talent, das zur gesellschaftlichen Kraft geworden ist, ein Resultat der gesellschaftlichen Beziehungen ist. Wenn dem aber so ist, so ist es begreiflich, warum talentvolle Menschen, wie gesagt, nur das individuelle Gepräge, nicht aber die allgemeine Richtung der Geschehnisse ändern können: Sie selber existieren nur dank dieser Richtung; wäre diese Richtung nicht da, so hätten sie niemals die Schwelle überschritten, die die Möglichkeit von der Wirklichkeit trennt.
 

Es versteht sich von selbst, daß es Talente und Talente gibt. »Wenn ein neuer Schritt in der Entwicklung der Zivilisation ein neues Kunstgenre ins Leben ruft«, sagt mit Recht Taine, »dann tauchen Dutzende von Talenten auf, die den gesellschaftlichen Gedanken bloß zur Hälfte ausdrücken und sich um ein oder zwei Genies gruppieren, die ihn in Vollkommenheit zum Ausdruck bringen.« [36] Hätten irgendwelche mechanische oder physiologische Ursachen, die mit dem allgemeinen Gang der sozialpolitischen und geistigen Entwicklung Italiens nicht zusammenhängen, Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci schon in ihrer Kindheit getötet, so wäre die italienische Kunst weniger vollkommen, die allgemeine Richtung ihrer Entwicklung wäre aber in der Renaissance dieselbe geblieben. Raffael, Leonardo da Vinci und Michelangelo haben diese Richtung nicht geschaffen: sie haben sie lediglich am besten zum Ausdruck gebracht. Allerdings, um den genialen Menschen bildet sich gewöhnlich eine ganze Schule, wobei seine Schüler bemüht sind, sich sogar seine kleinsten Kunstgriffe zu eigen zu machen; die Lücke, die infolge eines vorzeitigen Todes von Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci in der italienischen Kunst der Renaissance entstanden wäre, hätte daher einen starken Einfluß auf viele nebensächliche Besonderheiten dieser Kunst in ihrer weiteren Entwicklung ausgeübt. Aber auch diese Geschichte hätte sich dem Wesen nach nicht geändert, falls nicht aus irgendwelchen allgemeinen Ursachen irgendeine wesentliche Aenderung im allgemeinen Gang der geistigen Entwicklung Italiens eingetreten wäre.

Es ist jedoch bekannt, daß quantitative Unterschiede schließlich in qualitative umschlagen. Das trifft überall zu; folglich trifft das auch in der Geschichte zu. Die gegebene Kunstrichtung kann gänzlich ohne einen einigermaßen bedeutenden Ausdruck bleiben, wenn eine ungünstige Verkettung von Umständen einen nach dem anderen einige talentvolle Menschen vernichtet, die diese Richtung hätten zum Ausdruck bringen können. Der vorzeitige Untergang dieser Personen wird aber nur in dem Fall den künstlerischen Ausdruck dieser Richtung hemmen, wenn sie nicht tief genug ist, um neue Talente hervorzubringen. Da aber die Tiefe jeder gegebenen Richtung in Literatur und Kunst bestimmt wird durch ihre Bedeutung für die Klasse oder die Schicht, deren Geschmacksrichtung sie zum Ausdruck bringt, und durch die gesellschaftliche Rolle dieser Klasse oder Schicht, so hängt auch hier letzten Endes alles vom Gang der gesellschaftlichen Entwicklung und vom Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte ab.

VIII

Also: Die persönlichen Besonderheiten der führenden Personen bestimmen das individuelle Gepräge der historischen Ereignisse, und das Element des Zufälligen, in dem von uns genannten Sinne, spielt stets eine gewisse Rolle im Verlauf dieser Ereignisse, deren Richtung in letzter Instanz bestimmt wird durch die sogenannten allgemeinen Ursachen, d.h. in Wirklichkeit durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die gegenseitigen Beziehungen der Menschen im gesellschaftlich-ökonomischen Prozeß der Produktion. Die zufälligen Erscheinungen und die persönlichen Besonderheiten der berühmten Männer springen bedeutend mehr ins Auge als die tiefliegenden allgemeinen Ursachen. Das 18. Jahrhundert machte sich wenig Gedanken über diese allgemeinen Ursachen und erklärte die Geschichte aus den bewußten Handlungen und den »Leidenschaften« der historischen Persönlichkeiten. Die Philosophen dieses Jahrhunderts behaupteten, daß die Geschichte unter dem Einfluß der geringfügigsten Ursachen ganz andere Wege hätte einschlagen können, - so zum Beispiel infolge des Umstands, daß im Kopfe irgendeines Herrschers irgendein Atom« umherzuirren begonnen hätte (ein Argument, das wiederholt im Système de la Nature [37] angeführt wird).

Die Verfechter der neuen Richtung in der historischen Wissenschaft bemühen sich, den Nachweis zu erbringen, daß die Geschichte, ungeachtet aller »Atome«, anders als sie verlaufen ist auch nicht hätte verlaufen können. Aus dem Bestreben heraus, die Wirkung der allgemeinen Ursachen möglichst gut hervorzuheben, ließen sie die Bedeutung der persönlichen Besonderheiten der historischen Persönlichkeiten außer acht. Nach ihnen sah es so aus, als würden sich die historischen Geschehnisse nicht um Haaresbreite geändert haben, wenn an Stelle der einen Personen andere, mehr oder weniger fähige, getreten wären [38]. Sobald wir aber eine solche Voraussetzung zulassen, müssen wir auch folgerichtig zugeben, daß das persönliche Element in der Geschichte absolut keine Bedeutung hat und daß alles in der Geschichte auf die Wirkung der allgemeinen Ursachen, der allgemeinen Gesetze der historischen Bewegung hinausläuft. Das war ein extremer Standpunkt, der für das in der entgegengesetzten Auffassung steckende Körnchen Wahrheit überhaupt keinen Platz übrigließ. Aber gerade deshalb behielt die entgegengesetzte Auffassung eine gewisse Existenzberechtigung bei. Der Zusammenprall dieser beiden Auffassungen nahm die Form einer Antinomie an, deren erstes Glied die allgemeinen Gesetze, das zweite aber die Tätigkeit der Persönlichkeiten darstellte. Vom zweiten Glied der Antinomie aus gesehen, war die Geschichte eine einfache Verkettung von Zufälligkeiten; vom ersten Glied aus gesehen, hatte es den Anschein, als ob selbst die individuellen Züge der historischen Geschehnisse durch die Einwirkung der allgemeinen Ursachen bedingt wären. Wenn aber die individuellen Züge der Ereignisse durch den Einfluß der allgemeinen Ursachen bedingt sind und von den persönlichen Eigenschaften der historischen Persönlichkeiten nicht abhängen, so werden diese Züge durch allgemeine Ursachen bedingt und können nicht verändert werden, so sehr sich auch diese Persönlichkeiten verändern mögen. Die Theorie nimmt auf diese Weise einen fatalistischen Charakter an.

Dieser Umstand war der Aufmerksamkeit ihrer Gegner nicht entgangen. Sainte-Beuve verglich die historischen Auffassungen Mignets mit denen Bossuets. Bossuet war der Meinung, daß die Kraft, durch die sich die historischen Geschehnisse vollziehen, von oben komme, daß die Geschehnisse als Ausdruck des göttlichen Willens dienen. Mignet suchte diese Kraft in den menschlichen Leidenschaften, die in den historischen Geschehnissen mit der Unerbittlichkeit und Unabwendbarkeit der Naturgewalten zum Durchbruch kommen. Sie beide betrachteten aber die Geschichte als Kette solcher Ereignisse, die unter keinen Umständen hätten anders sein können. Sie beide sind Fatalisten. In dieser Hinsicht steht der Philosoph dem Geistlichen nahe (le philosophe se rapproche du prêtre).

Dieser Vorwurf blieb begründet, solange die Lehre von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen den Einfluß der persönlichen Besonderheiten der historischen hervorragenden Persönlichkeiten auf die Ereignisse gleich Null setzte. Und dieser Vorwurf mußte einen um so stärkeren Eindruck machen, als die Historiker der neuen Schule, ähnlich wie die Historiker und Philosophen dem 18. Jahrhunderts, die menschliche Natur für die höchste Instanz hielten, aus der alle allgemeinen Ursachen der historischen Entwicklung entsprangen und der diese sich unterordneten. Da die französische Revolution gezeigt hat, daß die historischen Geschehnisse nicht allein durch die bewußten Handlungen der Menschen bedingt werden, so haben Mignet, Guizot und andere Gelehrte derselben Richtung die Wirkung der Leidenschaften, die sich häufig jeder Kontrolle des Bewußtseins entledigen, in den Vordergrund geschoben. Wenn aber die Leidenschaften die letzte und allgemeinste Ursache der historischen Geschehnisse bilden, warum hat dann Sainte-Beuve unrecht, wenn er behauptet, daß die französische Revolution einen dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzten Ausgang hätte haben können, wenn sich Persönlichkeiten gefunden hätten, die imstande gewesen wären, dem französischen Volke Leidenschaften einzuflößen, die denen, von denen es bewegt war, entgegengesetzt waren? Mignet würde sagen: weil infolge der Eigenschaften der menschlichen Natur selbst andere Leidenschaften die damaligen Franzosen nicht hätten in Wallung bringen können. Das wäre in einem gewissen Sinne wahr. Aber diese Wahrheit hätte einen starken fatalistischen Beigeschmack, da sie dem Satz gleichkäme, daß die Geschichte der Menschheit in all ihren Einzelheiten durch die allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur vorausbestimmt sei. Der Fatalismus wäre hier gleichsam ein Ergebnis des Verschwindens des Individuellen im Allgemeinen. Übrigens ist der Fatalismus auch immer das Resultat eines solchen Verschwindens. Man sagt: »Wenn alle gesellschaftlichen Erscheinungen notwendig sind, so kann unsere Tätigkeit überhaupt keine Bedeutung haben.« Das ist eine unrichtige Formulierung eines richtigen Gedankens. Man muß sagen: wenn alles vermittels des Allgemeinen geschieht, so hat das Einzelne, haben darunter auch meine Bemühungen, keine Bedeutung. Diese Schlußfolgerung ist richtig, nur wird sie falsch aufgewandt. Sie verliert ihren Sinn in Anwendung auf die moderne materialistische Geschichtsauffassung, die auch für das Einzelne Platz übrigläßt. In Anwendung auf die Auffassungen der französischen Historiker der Restaurationszeit war sie aber begründet.

Man kann heute die menschliche Natur schon nicht mehr als die letzte und allgemeinste Ursache der historischen Bewegung betrachten: wenn die menschliche Natur unveränderlich ist, so kann sie den höchst veränderlichen Gang der Geschichte nicht erklären; wenn sie sich aber verändert, so werden offenbar ihre Veränderungen selbst durch die historische Bewegung bedingt. Heute muß als letzte und allgemeinste Ursache der geschichtlichen Bewegung der Menschheit die Entwicklung der Produktivkräfte anerkannt werden, durch die die aufeinanderfolgenden Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bedingt werden. Neben dieser allgemeinen Ursache wirken besondere Ursachen, d.h. die geschichtliche Situation, in der sich die Entwicklung der Produktivkräfte bei dem gegebenen Volk vollzieht und die selbst in letzter Instanz durch die Entwicklung dieser selben Kräfte bei den anderen Völkern, d.h. durch diese selbe allgemeine Ursache erzeugt ist.

Schließlich wird der Einfluß der besonderen Ursachen durch die Wirkung einzelner Ursachen ergänzt, d.h. persönlicher Besonderheiten der gesellschaftlich tätigen Persönlichkeiten und anderer »Zufälligkeiten«, dank deren die Geschehnisse endlich ihr individuelles Gepräge erhalten. Die Einzelursachen können keine grundlegenden Veränderungen in der Wirkung der allgemeinen und besonderen Ursachen erzeugen, durch die überdies die Richtung und die Grenzen des Einflusses der Einzelursachen bedingt werden. Es ist aber dennoch unzweifelhaft, daß die Geschichte ein anderes Gepräge hätte, wenn die auf sie wirkenden Einzelursachen durch andere Ursachen derselben Art ersetzt worden wären.

Monod und Lamprecht halten bis jetzt am Standpunkt der menschlichen Natur fest. Lamprecht erklärte kategorisch und wiederholt, daß die soziale Geistesverfassung seiner Meinung nach die Grundursache der historischen Erscheinungen bilde. Das ist ein großer Irrtum. und infolge dieses Irrtums kann der an sich sehr lobenswerte Wunsch, die ganze Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens zu berücksichtigen, bloß zu einem inhaltlosen, wenn auch aufgeblasenen Eklektizismus oder - bei den konsequenteren Forschern - zu den Kablitzschen Betrachtungen über die relative Bedeutung des Verstandes und des Gefühls führen.

Doch kehren wir zu unserem Gegenstand zurück. Ein großer Mann ist nicht dadurch groß, daß seine persönlichen Besonderheiten den großen geschichtlichen Geschehnissen ein individuelles Gepräge verleihen, sondern dadurch, daß er Besonderheiten besitzt, die ihn am fähigsten machen, den großen gesellschaftlichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter dem Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen entstanden sind. In seinem bekannten Werk über die Helden nennt Carlyle die großen Männer Beginner. Das ist eine sehr gelungene Bezeichnung. Der große Mann ist eben ein Beginner, denn er blickt weiter als die anderen und will stärker als die anderen. Er löst die wissenschaftlichen Aufgaben, die der vorhergegangene Verlauf der geistigen Entwicklung der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt hat; er weist die neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse auf, die durch die vorhergegangene Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen erzeugt worden sind; er ergreift die Initiative zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Er ist ein Held. Held nicht in dem Sinne etwa, daß er den natürlichen Gang der Dinge aufhalten oder ändern könnte, sondern in dem Sinne, daß seine Tätigkeit der bewußte und freie Ausdruck dieses notwendigen und unbewußten Ganges ist. Darin liegt seine ganze Bedeutung, darin seine ganze Kraft. Das ist aber eine gewaltige Bedeutung, eine ungeheure Kraft.

Bismarck meinte, daß wir Geschichte nicht machen können, sondern abwarten müßten, bis sie gemacht ist. Von wem wird aber die Geschichte gemacht? Sie wird von dem gesellschaftlichen Menschen gemacht, der ihr einziger »Faktor« ist. Der gesellschaftliche Mensch selbst schafft seine, d. h. die gesellschaftlichen Beziehungen. Wenn er aber in der gegebenen Zeit gerade diese und nicht andere Beziehungen schafft, so geschieht das natürlich nicht ohne Ursache; das wird bedingt durch den Zustand seiner Produktivkräfte. Kein noch so großer Mann kann der Gesellschaft Beziehungen aufzwingen, die dem Zustand dieser nicht mehr entsprechen oder noch nicht entsprechen. In diesem Sinne kann er in der Tat nicht Geschichte machen, und in diesem Fall würde er vergebens den Zeiger seiner Uhr vorstellen: er würde den Lauf der Zeit nicht beschleunigen und auch nicht umkehren. Darin hat Lamprecht vollkommen recht: selbst auf dem Gipfel seiner Macht hätte Bismarck Deutschland nicht zur Naturalwirtschaft zurückführen können.

Die gesellschaftlichen Beziehungen haben ihre eigene Logik: solange die Menschen unter den gegebenen gegenseitigen Beziehungen leben, werden sie unbedingt gerade so und nicht anders fühlen, denken und handeln. Auch gegen diese Logik würde die gesellschaftlich tätige Persönlichkeit vergebens ankämpfen: der natürliche Gang der Dinge (d.h. diese selbe Logik der gesellschaftlichen Beziehungen) würde alle seine Bemühungen null und nichtig machen. Wenn ich aber weiß, in welcher Richtung sich dank den gegebenen Veränderungen im ökonomischen Produktionsprozeß der Gesellschaft die gesellschaftlichen Beziehungen verändern, so weiß ich ebenfalls, in welcher Richtung sich auch die soziale Geistesverfassung verändern wird, so habe ich folglich die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Die soziale Geistesverfassung beeinflussen, heißt die geschichtlichen Geschehnisse beeinflussen. In gewissem Sinne kann ich also doch Geschichte machen, und ich brauche nicht zu warten, bis sie »gemacht ist«.

Monod nimmt an, daß die für die Geschichte wichtigen Ereignisse und Persönlichkeiten lediglich als Anzeichen und Symbole der Entwicklung der Einrichtungen und ökonomischen Bedingungen wichtig seien. Das ist ein richtiger, wenn auch sehr ungenau ausgedrückter Gedanke, aber gerade weil dieser Gedanke richtig ist, gibt es keinen Grund, die Tätigkeit der großen Persönlichkeiten der »langsamen Bewegung« der genannten Bedingungen und Einrichtungen entgegenzustellen. Die mehr oder minder langsame Veränderung der ökonomischen Bedingungen« stellt periodisch die Gesellschaft vor die Notwendigkeit, mehr oder minder schnell diese ihre Einrichtungen umzugestalten. Diese Umgestaltung geschieht niemals »von selbst«; sie erfordert stets die Einmischung der Menschen, denen auf diese Weise große gesellschaftliche Aufgaben erwachsen. Als große Männer bezeichnet man eben diejenigen, die mehr als die anderen zu deren Lösung beitragen. Eine Aufgabe lösen, bedeutet aber nicht, bloß ein »Symbol« und ein »Anzeichen« dafür zu sein, daß sie gelöst ist.

Uns deucht, daß Monod seine Gegenüberstellung hauptsächlich deshalb gemacht hat, weil er sich vorn angenehmen Wörtchen langsam hat hinreißen lassen. Dieses Wörtchen ist bei vielen heutigen Evolutionisten beliebt. Psychologisch ist diese Vorliebe begreiflich: sie entsteht notwendigerweise im wohlmeinenden Milieu der Mäßigkeit und Akkuratesse ... Logisch hält sie aber, wie Hegel gezeigt hat, keiner Kritik stand.

Nicht vor den »Beginnern« allein, nicht allein vor den »großen« Männern liegt ein breites Feld der Tätigkeit offen. Dieses Feld steht allen offen, die Augen haben, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz, um ihre Nächsten zu lieben. Der Begriff groß ist ein relativer Begriff. Im sittlichen Sinne ist jeder groß, der, um mit den Evangelisten zu reden, »sein Leben lässet für seine Freunde«.



Anmerkungen:
 

1. Kablitz: Pseudonym: Jusow (1848-1893) - russischer Publizist und Politiker der Volkstümlerrichtung.

2. Gemeint ist N. Michailowski (1842-1904), der bekannte Ideologe der Volkstümlerrichtung und Vertreter der sogenannten subjektiven Methode in der Soziologie.

3. Den Franzosen des 17. Jahrhunderts hätte eine solche Kombination von Materialismus und religiöser Dogmatik mehr verwundert In England kam sie niemandem sonderbar vor. Priestley selbst war ein sehr religiöser Mann. Jedes Land hat seine Sitten.

4. Siehe russ. Uebersetzung seiner Geschichte der französischen Literatur, Bd.I, S.511.

5. Nach der Lehre Calvins sind bekanntlich alle Handlungen der Menschen von Gott vorausbestimmt. Praedesinationem vocamur aeternum Dei decretum, quo apud so constitutum habuit, quid de unoquoque homine fieri valet. [Als Vorherbestimmung bezeichnen wir das von Gott von Urewigkeit verordnet, durch das er selbst bestimmt hat, was mit jedem Menschen geschehen soll. - Der Red.] (Institutio, lib.III, cap.5.) Dieser Lehre infolge erwählt Gott einige seiner Diener zur Befreiung der zu Unrecht unterdrückten Völker. Ein solcher Diener war Moses, der Befreier des Volkes Israel. Es geht aus allem hervor, daß such Cromwell mich für ein solches Werkzeug Gottes hielt; er bezeichnete stets, wahrscheinlich Infolge dieser vollkommen aufrichtigen Ueberzeugung, seine Handlungen als Frucht des göttlichen Willens. Alle seine Handlungen hatten für ihn von vorne herein den Anstrich der Notwendigkeit. Das hat ihn nicht nur nicht gehindert, von Sieg zu Sieg zu streben, sondern hat seinem Streben unbeugsam. Kraft verlieben.

6. »C’est comme si l’aiguille aimantée prenait plaisir de se tourner vers le nord car elle croirait tourner indépendamment de quelque autre cause, ne s’apercevant pas des mouvements insensibles da la matière magnétique.« [Es ist, als ob die Magnetnadel Vergnügen hätte, sich gegen Norden zu bewegen, da sie glaubt, ihre Bewegung sei von jeder anderen Ursache unabhängig, und die nicht wahrnehmbaren Bewegungen des magnetischen Stoffes nicht merkt.« - Der Red.] Leibniz, Théodicée, Lausanne, MDCCIX, S.598.

7. Bjelinski (1811-1848) - berühmter russischer Kritiker und Publizist.

8. Anspielung auf die Novelle von Turgenjew, Hamlet des Schtschigrowschen Landkreises.

9. Wir wollen noch ein Beispiel anführen, das anschaulich zeigt, wie stark Menschen dieser Kategorie fühlen. Renée, Herzogin von Ferrara (aus dem Hause Ludwigs XII.), spricht in einem Brief an ihren Lehrer Calvin über sich selbst: »Nein, ich habe nicht vergessen, was Ihr mir geschrieben habt: daß David einen tödlichen Haß gegen die Feinde Gottes hegte; und ich selber werde niemals anders handeln, denn wüßte ich, daß mein königlicher Vater, meine königliche Mutter und mein verstorbener Herr Gemahl (feu monsieur mon man) sowie alle meine Kinder von Gott verdammt wären, so würde ich mich in tödlichem Haß von ihnen abwenden und würde wünschen, daß sie in die Hölle fahren« usw. Welch furchtbare, allzerstörende Energie vermochten die Menschen zu entwickeln, die von solchen Gefühlen beseelt waren! Aber gerade diese Menschen leugneten die Freiheit des Willens.

10. »Schüler« nannten sich aus Zensurgründen die russischen Marxisten in der russischen legalen Literatur am Ausgang des vorigen Jahrhunderts; die Namen Marx und Engels, die Worte Marxismus, Sozialismus, Revolution usw. wurden vermieden.

11. »Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur Ihre noch innere Identität manifestiert wird.« Hegel, Wissenschaft der Logik, Nürnberg 1816, Teil II, S.281.

12. Derselbe alte Hegel sagt ausgezeichnet an einer anderen Stelle: »Die Freiheit ist dies, Nichts zu wollen als sich.« Werke, Bd.12.

13. Gemeint ist die Zeitschrift Nautschnoje Obosrenje (»Wissenschaftliche Rundschau«), in der diese Schrift 1898 zum erstenmal - unter dem Pseudonym A. Kirsanow - erschienen ist.

14. Held der Erzählung Gogols "Der Mantel".

15. Größe, die man vernachlässigen kann.

16. Im Streben zur Synthese hat uns derselbe Herr Karejew überholt. Leider ist er aber über die Erkenntnis der Wahrheit nicht hinausgekommen, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht.

17. Es ist schrecklich zu sagen.

18. Ohne die anderen philosophisch-historischen Aufsätze von Lamprecht zu streifen, hatten wir seinen Artikel Der Ausgang des geschichtswissenschaftlichen Kampfes Im Auge und werden auch weiterhin diesen Artikel im Auge haben. (Die Zukunft, Nr.41. 1897.)

19. Siehe Oeuvres complètes de l’abbé de Mably, London 1783, 3. Band, S.3, 14-22, 24 und 192.

20. Ebenda, S.10.

21. Vgl. den ersten der Briefe über die Geschichte Frankreichs mit dem Essai sur 1e genre dramatique sérieux im ersten Band der Oeuvres complètes von Beaumarchais.

22. Oeuvres complètes de Chateaubriand, Paris 1840, VII, S.58. Wir empfehlen auch die darauffolgende Seite der Aufmerksamkeit des Lesers; man könnte glauben, Herr Nik. Michailowskl hätte sie geschrieben.

23. Siehe Considérations sur l’histoire de France, Beilage zu Recits des temps Mérovingiens, Paris 1840, S.72.

24. In einem Aufsatz, der der 3. Auflage der Geschichte der französischen Revolution von Mignet gewidmet ist, hat Sainte-Beuve das Verhältnis dieseu Historikers zu den Persönlichkeiten folgendermaßen charakterisiert: »A la vue des vastes et profundes émotions populaires qu’il avait à d’écrire, au spectacle de l’impuissance et du néant ou tombent les plus sublimes génies, les vertus les plus saintes, alors que les masses se soulèvent, il s’est pris de pitié pour les individus, n’a vu en eux pris isolément que faiblesse et ne leur a reconnu d’action efficace, que dans leur union avec la multitude.« [»Angesichts der großen und tiefen Volkswallungen, die er zu beschreiben hatte, beim Anblick der Ohnmacht und der Niedrigkeit, der die erhabensten Geister, die heiligsten Tugenden anheimfallen, sobald die Massen sich erheben, empfand er Mitleid mit den Einzelpersonen. sah in ihnen - einzeln genommen - nichts als Schwäche und erkannte ihnen nur in ihrer Vereinigung mit der Menge wirksame Aktionsfähigkeit zu.« - Der Übersetzer]

25. Andere behaupten übrigens, daß die Schuld nicht Soubise, sondern Broglie trifft, der auf seinen Kameraden nicht warten wollte, da er mit ihm den Ruhm des Sieges nicht teilen wollte. Für uns Ist das ohne Belang, da die Sache dadurch nicht geändert wird.

26. Histoire da France, 4. Auflage, Bd.XV, p.520-521.

27. Siehe Mémoires de madame du Haliffet, Paris 1824, S.181.

28. Siehe Lettres de la marquise de Pompadour, London 1772, Bd.I.

29. La vie en France sous le premier Empire, par le vicomte du Broc, Paris 1895, S.35-36ff.

30. Vielleicht wäre Napoleon nach Rußland gegangen, wohin er ganz wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution reisen wollte. Hier hätte er sich wahrscheinlich in den Schlachten gegen die Türken oder gegen die kaukasischen Bergvölker ausgezeichnet, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß dieser arme, aber begabte Offizier unter günstigen Verhältnissen zum Beherrscher der Welt hätte werden können.

31. Siehe Histoire de France, par V. Duruy, Paris 1893, Bd.II, S.524-523,

32. Unter Ludwig XV. vermochte es nur ein einziger Vertreter des dritten Standes, Chevert, bis zum Generalleutnant zu bringen. Unter Ludwig XVI. war die militärische Laufbahn Leuten dieses Standes noch mehr erschwert. Siehe Rambaud, Histoire da la civilisation française, 6. auflage, Bd.II, S.226.

33. Histoire de la Peinture en Italie, Paris 1899, p.23-25.

34. Im Jahre 1608 wurden Terborch, Brouwer und Rembrandt geboren; im Jahre 1610 - Adriaen van Ostade und Ferdinand Bol; 1615 - van der Helst und Gerard Dou; 1620 - Wouwerman: 1621 - Weenix, Everdingen und Pynacker; 1624 - Berghem 1626 - Paul Potter; 1626 - Jan Steen; 1630 - Ruisdael und Metsu; 1637 - van der Heyden; 1686 - Hobbema; 1639 - Adriaen van de Velde.

35. »Shakespeare, Beaumont, Fletcher, Jonson, Webster, Massinger, Ford, Middleton und Heywood, die zu derselben Zeit oder einer nach dem anderen auftraten, bilden die neue Generation, die infolge ihrer günstigen Lage auf dem Boden zur glänzenden Blüte gelangte, der durch die Bemühungen der vorhergehenden Generation vorbereitet worden war.« Taine, Histoire de la littérature anglaise, Paris 1868, Bd.I, S.468.

36. Ebenda, S.5.

37. System der Natur - das Hauptwerk des Philosophen Holbach (1723-1789), der zur Plejade der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts gehört.
 

38. D.h., so sah es aus, sobald sie Betrachtungen über die Gesetzmäßigkeit der historischen Geschehnisse anzustellen begannen. Wenn aber einige von ihnen diese Geschehnisse einfach beschrieben, so maßen sie dem persönlichen Element zuweilen sogar eine übertriebene Bedeutung bei. Uns aber interessieren jetzt nicht ihre Schilderungen, sondern ihre Betrachtungen.

Editorische Anmerkungen

Plechanow, G. W.
Über Die Rolle Der Persönlichkeit in Der Geschichte
Berlin Verlag Neuer Weg 1945

Zuerst veröffentlicht 1898 in der Zeitschrift Nautschnoje Obosrenije unter dem Pseudonym A. Kirsanow.

OCR-Scan Red trend.

Lenin kann als Schüler Plechanows betrachtet werden, denn 1893 zog er nach nach Sankt Petersburg studierte dort - bereits beeinflußt von der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie - die Auffassungen des G. W. Plechanow über Dialektik  und Materialismus. Später begegnete er ihm persönlich in der Schweiz und vereinbarte mit ihm die Herausgabe der  ISKRA 1900/01. Nach der Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands 1903 unterstützte Plechanow die Menschewiki. 1917 nach Russland zurückgekehrt, wandte er sich gegen Lenins Kurs einer revolutionären Machtergreifung. Lenin hat immer die Schriften Plechanows gegen dessen späteren Reformismus verteidigt.