IIn der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
veröffentlichte der nunmehr verstorbene Kablitz [1] einen
Aufsatz Verstand und Gefühl als Faktoren des Fortschritts, in
dem er, unter Berufung auf Spencer, zu beweisen suchte, daß in
der Vorwärtsbewegung der Menschheit die Hauptrolle dem Gefühl
gehöre, während der Verstand eine zweitrangige und zudem völlig
untergeordnete Rolle spiele. Gegen Kablitz wandte sich ein
»ehrwürdiger Soziologe« [2], der hohnvoll seine Verwunderung
über eine Theorie ausdrückte, die den Verstand »auf den
Hinterhof« verwies. Der »ehrwürdige Soziologe« hatte natürlich
recht, als er den Verstand in Schutz nahm. Er hätte jedoch noch
viel mehr recht gehabt, wenn er, ohne auf das Wesen der von
Kablitz angeschnittenen Frage einzugehen, gezeigt hätte, wie
sehr dessen Fragestellung selbst unmöglich und unstatthaft war.
In der Tat, die Theorie der »Faktoren« ist schon an und für sich
unbegründet, da sie willkürlich verschiedene Seiten des
gesellschaftlichen Lebens aussondert und sie hypostasiert, indem
sie sie in Kräfte besonderer Art verwandelt, die von
verschiedenen Seiten her und mit ungleichem Erfolg den
gesellschaftlichen Menschen auf dem Wege des Fortschritts
führen. Noch unbegründeter ist aber diese Theorie in der
Gestalt, wie wir sie bei Kablitz finden, der nicht einmal diese
oder jene Seiten der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen,
sondern die verschiedenen Gebiete des individuellen Bewußtseins
zu besonderen soziologischen Hypostasen erhob. Das sind
wahrhaftig Herkulessäulen der Abstraktion: weiter geht es nicht,
denn weiter beginnt schon das groteske Reich ganz
augenscheinlicher Absurdität. Darauf eben hätte der »ehrwürdige
Soziologe« die Aufmerksamkeit von Kablitz und seiner Leser
lenken sollen. Hätte der »ehrwürdige Soziologe« festgestellt, in
welche Irrgänge der Abstraktion Kablitz durch sein Bestreben,
den herrschenden »Faktor« in der Geschichte aufzuspüren, geführt
wurde, so hätte er unversehens vielleicht auch selbst etwas für
die Kritik der Theorie der Faktoren geleistet. Das wäre zu
gleicher Zeit für uns alle sehr nützlich gewesen. Aber er erwies
sich seiner Sendung nicht gewachsen. Er selbst vertrat den
Standpunkt dieser Theorie und unterschied sich von Kablitz
lediglich durch seinen Hang zum Eklektizismus, infolgedessen ihm
alle »Faktoren« als gleich wichtig vorkamen. Die eklektischen
Eigenschaften seines Verstandes kamen in der Folge besonders
kraß zum Ausdruck in seinen Ausfällen gegen den dialektischen
Materialismus, in dem er eine Lehre erblickte, die dem
ökonomischen »Faktor« alle übrigen opfert und die Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte für null und nichtig erklärt.
Dem »ehrwürdigen Soziologen« kam es gar nicht in den Sinn, daß
dem dialektischen Materialismus der Standpunkt der "Faktoren"
fremd ist und daß man nur bei vollständiger Unfähigkeit, logisch
zu denken, in ihm eine Rechtfertigung des sogenannten Quietismus
erblicken kann. Es muß übrigens bemerkt werden, daß dieses
Versehen des »ehrwürdigen Soziologen« nichts Originelles an sich
hat: dieses Versehen ist vielen anderen unterlaufen, unterläuft
vielen anderen und wird wahrscheinlich lange noch vielen, vielen
anderen unterlaufen ...
Man begann, den Materialisten einen Hang zum Quietismus schon
zu der Zeit vorzuwerfen, als sie noch keine dialektische
Auffassung der Natur und der Geschichte ausgearbeitet hatten.
Ohne uns in die »graue Vorzeit« zu vertiefen, wollen wir an den
Streit zwischen dem bekannten englischen Gelehrten Priestley mit
Price erinnern. Bei seiner Analyse der Priestleyschen Lehre
wollte Price unter anderem beweisen, daß der Materialismus mit
dem Begriff der Freiheit unvereinbar sei und jede
Selbsttätigkeit der Persönlichkeit ausschalte. In Antwort darauf
berief sich Priestley auf die Lebenserfahrungen des Alltags.
»Ich spreche nicht von mir selber, obgleich, auch ich natürlich
nicht als das trägste aller Tiere bezeichnet werden darf (am not
the most torpid and lifeless of all animals), aber ich frage
euch, wo werdet ihr mehr Gedankenenergie, mehr Aktivität, mehr
Kraft und Beharrlichkeit in der Verfolgung der wichtigsten Ziele
finden, als unter den Anhängern der Lehre von der
Notwendigkeit?« Priestley meinte damit die damalige religiöse
demokratische Sekte der sogenannten christian necessarians. [3]
Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich so aktiv war, wie ihr
Anhänger Priestley glaubte. Aber das ist auch nicht von Belang.
Absolut keinem Zweifel unterliegt der Umstand, daß die
materialistische Auffassung des menschlichen Willens sich mit
der energischsten Wirksamkeit in der Praxis ausgezeichnet
verträgt. Lanson bemerkt, daß »alle Doktrinen, die an den
menschlichen Willen die größten Anforderungen stellen, im
Prinzip die Ohnmacht des Willens bejahten; sie verneinten die
Freiheit und unterordneten die Welt dem Fatalismus«[4]. Lanson
hat unrecht, wenn er glaubt, daß jede Verneinung der sogenannten
Willensfreiheit zum Fatalismus führe; das hindere ihn aber
nicht, eine im höchsten Grade interessante historische Tatsache
festzustellen: die Geschichte zeigt in der Tat, daß sogar der
Fatalismus nicht nur nicht in allen Fällen eine energische, auf
die Praxis gerichtete Tätigkeit behindert sondern daß er Im
Gegenteil in gewissen Epochen die psychologisch notwendige
Grundlage dieser Tätigkeit war. Zum Beweis wollen wir auf die
Puritaner verweisen, die durch ihre Tatkraft alle anderen
Parteien im England des 17. Jahrhunderts in den Schatten
gestellt haben, oder auf die Nachfolger Mohammeds. die in kurzer
Zeit ein gewaltigem Territorium von Indien bis Spanien erobert
haben. In einem starken Irrtum sind diejenigen befangen, die da
meinen, daß wir uns nur von der Unvermeidlichkeit des Eintretens
einer bestimmten Folge von Ereignissen zu überzeugen brauchen,
damit bei uns jede psychologische Möglichkeit, für dieses
Eintreten zu wirken oder ihm entgegenzuwirken, verschwinde [5].
Hier hängt alles davon ab, ob meine eigene Tätigkeit ein
notwendiges Glied in der Kette der notwendigen Ereignisse
bildet. Ist dem so, so habe ich um so weniger Schwankungen und
handle um so entschlossener. Und das hat auch nichts
Verwunderliches an sich: wenn wir sagen, daß die betreffende
Persönlichkeit ihre Wirksamkeit als notwendiges Glied in der
Kette der notwendigen Geschehnisse betrachtet, so heißt das
unter anderem, daß das Fehlen von Willensfreiheit für sie
gleichbedeutend ist mit einer völligen Unfähigkeit zur
Inaktivität, und daß dieses Fehlen von Willensfreiheit sich im
Bewußtsein dieser Persönlichkeit widerspiegelt als
Unmöglichkeit, anders zu handeln, als sie handelt. Das ist eben
der psychologische Zustand, der am besten ausgedrückt werden
kann durch die berühmten Worte Luthers: »Hier stehe ich, ich
kann nicht anders«, der Zustand, dank dem die Menschen die
unbeugsamste Energie an den Tag legen und die größten
Heldentaten vollbringen. Diese Gemütsverfassung war einem Hamlet
unbekannt: deshalb war er auch zu nichts anderem fähig, als zu
lamentieren und zu reflektieren. Und darum hätte sich Hamlet
niemals mit einer Philosophie abgefunden, deren Sinn darin
besteht, daß Freiheit lediglich bewußt gewordene Notwendigkeit
ist. Fichte sagt mit Recht: »Was man für eine Philosophie wählt,
hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.«
II
Manche Leute haben bei uns Stammlers Bemerkung von dem
angeblich unlösbaren Widerspruch ernst genommen, den eine der
westeuropäischen sozialpolitischen Lehren enthalten soll. Wir
meinen das bekannte Beispiel mit der Mondfinsternis. In
Wirklichkeit ist das ein höchst absurdes Beispiel. Zu den
Bedingungen, deren Zusammentreffen für eine Mondfinsternis nötig
ist, gehört keineswegs die menschliche Tätigkeit und kann auch
nicht gehören. und schon allein aus diesem Grunde könnte eine
Partei zur Förderung der Mondfinsternis nur im Irrenhause
entstehen. Aber selbst wenn die menschliche Tätigkeit auch zu
den genannten Bedingungen gehörte, würde sich der Partei der
Mondfinsternis keiner derjenigen anschließen, die zwar Lust
hätten, die Mondfinsternis zu sehen, zugleich aber davon
überzeugt wären, daß sie auch ohne ihre Mitwirkung unbedingt
eintreten wird. In diesem Falle wäre ihr »Quietismus« nur die
Enthaltung von überflüssigen, d.h. unnützen Handlungen und hätte
mit dem wahren Quietismus nichts gemein. Um dem Beispiel mit der
Mondfinsternis in dem von uns betrachteten Fall der
obengenannten Partei die Sinnlosigkeit zu nehmen, müßte man es
vollständig verändern. Man müßte sich vorstellen. daß der Mond
mit Bewußtsein begabt sei und daß seine Stellung im Weltenraum,
mit der das Eintreffen von Verfinsterungen verbunden ist, ihm
als Produkt der Selbstbestimmung seines Willens erscheine und
ihm nicht nur einen kolossalen Genuß bereite, sondern auch für
seine Seelenruhe unbedingt nötig sei, so daß er stets
leidenschaftlich bestrebt sei, diese Lage einzunehmen [6]. Hätte
man sich das alles vorgestellt, so müßte man sich fragen: was
würde der Mond empfinden, wenn er schließlich entdeckte, daß in
Wirklichkeit nicht sein Wille und nicht seine »Ideale« seine
Bewegung im Weltenraume bestimmen, sondern umgekehrt, daß sein
Wille und seine »Ideale« durch seine Bewegung bestimmt sind.
Laut Stammler müßte diese Entdeckung den Mond unbedingt
bewegungsunfähig machen, falls er sich nicht mit Hilfe
irgendeines logischen Widerspruches aus der Affäre zöge. Aber
eine solche Voraussetzung ist absolut durch nichts begründet.
Diese Entdeckung könnte einer der formalen Gründe für die
schlechte Stimmung des Mondes, für sein moralisches Zerwürfnis
mit sich selbet, für den Widerspruch zwischen seinen »Idealen«
und der mechanischen Wirklichkeit sein. Da wir aber
voraussetzen, daß der ganze »Seelenzustand des Mondes« überhaupt
letzten Endes durch seine Bewegung bedingt ist, so müßte man in
der Bewegung auch die Ursachen seines Seelenkonflikts suchen.
Bei einer gewissenhaften Behandlung der Frage würde sich
vielleicht herausstellen, daß der Mond dann über die Unfreiheit
seines Willens trauert, wenn er sich in Erdferne befindet,
während in Erdnähe der gleiche Umstand für den Mond eine neue
formale Quelle moralischer Glückseligkeit und sittlicher Kraft
bildet. Vielleicht würde sich auch das Gegenteil ergeben:
vielleicht würde sich herausstellen, daß der Mond nicht in
Erdnähe, sondern in Erdferne das Mittel sieht, die Freiheit mit
der Notwendigkeit zu versöhnen. Wie dem aber auch sei, es ist
unzweifelhaft, daß eine solche Aussöhnung durchaus möglich ist,
daß das Bewußtsein der Notwendigkeit sich mit der energischsten
Handlung in der Praxis ausgezeichnet verträgt. Jedenfalls war es
bisher in der Geschichte so. Menschen, die die Willensfreiheit
verneinten, übertrafen häufig alle ihre Zeitgenossen durch die
Kraft ihres eigenen Willens und stellten an diesen die größten
Anforderungen. Solcher Beispiele gibt es viele. Sie sind
allgemein bekannt. Man kann sie nur dann vergessen,. so wie
Stammler sie anscheinend vergißt, wenn man absichtlich die
historische Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht sehen will.
Dieses Nichtwollen ist zum Beispiel bei unseren Subjektivisten
und manchen deutschen Philistern stark ausgeprägt. Aber die
Philister und Subjektivisten sind keine Menschen, sondern
einfache Gespenster, wie Bjelinski [7] sagen würde.
Betrachten wir jedoch etwas näher den Fall, wo die eigenen -
vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen - Handlungen des
Menschen für ihn durchweg den Anstrich der Notwendigkeit zu
haben scheinen. Wir wissen bereits, daß in diesem Fall der
Mensch - der sich so wie Mohammed, als Abgesandter Gottes, so
wie Napoleon, als Auserwählten des unabwendbaren Schicksals,
oder so wie manche Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts als
Träger der von niemandem zu überwindenden Kraft der historischen
Entwicklung betrachtet - eine fast elementare Willenskraft an
den Tag legt und alle Hindernisse, die die großen und die
kleinen Hamlets der verschiedenen Landkreise [8] auf seinem Weg
aufrichten, wie Kartenhäuschen niederreißt [9]. Uns interessiert
aber jetzt dieser Fall von einer anderen Seite, und zwar von
folgender. Wenn das Bewußtsein von der Unfreiheit meines Willens
sich mir lediglich in Form der völligen subjektiven und
objektiven Unmöglichkeit, anders zu handeln, als ich handle,
darstellt, und wenn meine jeweiligen Handlungen zugleich für
mich die wünschenswertesten unter allen möglichen Handlungen
sind, dann wird die Notwendigkeit in meinem Bewußtsein mit der
Freiheit, und die Freiheit mit der Notwendigkeit identisch, und
dann bin ich nur in dem Sinne nicht frei, daß ich diese
Identität von Freiheit und Notwendigkeit nicht übertreten kann;
die beiden einander nicht gegenüberstellen kann; mich durch die
Notwendigkeit nicht beengt fühlen kann. Aber ein derartiges
Fehlen von Freiheit ist zugleich die vollständigste Aeußerung
der Freiheit.
Simmel sagt, daß Freiheit stets Freisein von etwas bedeute,
und daß die Freiheit dort, wo man sie sich nicht als Gegensatz
zur Gebundenheit denkt, keinen Sinn habe. Dem ist natürlich so.
Aber auf Grund dieser kleinen ABC-Weisheit läßt sich der Satz
nicht widerlegen, der eine der genialsten Entdeckungen des
philosophischen Denkens aller Zeiten bildet, daß die Freiheit
die Einsicht in die Notwendigkeit ist. Simmels Definition ist
allzu eng: sie bezieht sich nur auf die Freiheit von der äußeren
Beschränkung. Solange nur von diesen Schranken die Rede ist,
wäre eine Identifizierung von Freiheit und Notwendigkeit in
höchstem Grade lächerlich: der Dieb ist nicht frei, Ihnen das
Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, wenn Sie ihn daran hindern
und er in dieser oder jener Weise Ihren Widerstand nicht
überwindet. Doch außer diesem elementaren und oberflächlichen
Begriff der Freiheit gibt es einen anderen unvergleichlich
tieferen. Dieser Begriff existiert ganz und gar nicht für
Menschen, die unfähig sind, philosophisch zu denken; Menschen
aber, die zu diesem Denken fähig sind, gelangen zu diesem
Begriff erst dann, wenn es ihnen gelingt, mit dem Dualismus
fertig zu werden und einzusehen, daß zwischen dem Subjekt auf
der einen und dem Objekt auf der anderen Seite gar nicht der
Abgrund klafft, den die Dualisten voraussetzen.
Der russische Subjektivist stellt seine utopischen Ideale
unserer kapitalistischen Wirklichkeit gegenüber und geht über
diese Gegenüberstellung nicht hinaus. Die Subjektivisten sind im
Sumpf des Dualismus steckengeblieben. Die Ideale der sogenannten
russischen »Schüler« [10] sehen der kapitalistischen
Wirklichkeit unvergleichlich weniger ähnlich als die Ideale der
Subjektivisten. Aber ungeachtet dessen wußten die »Schüler« die
Brücke zu finden, die von den Idealen zu der Wirklichkeit führt.
Die »Schüler« erhoben sich zum Monismus. Ihrer Meinung nach wird
der Kapitalismus durch den Gang seiner eigenen Entwicklung zu
seiner eigenen Negation und zur Existenz ihrer - der russischen,
und zwar nicht allein der russischen »Schüler« - Ideale führen.
Das ist historische Notwendigkeit. Der »Schüler« dient als eines
der Werkzeuge dieser Notwendigkeit und muß als solches dienen,
sowohl kraft seiner gesellschaftlichen Lage als auch infolge
seines durch diese Lage erzeugten geistigen und sittlichen
Charakters. Das ist ebenfalls eine Seite der Notwendigkeit. Hat
nun einmal seine gesellschaftliche Lage bei ihm gerade diesen
und nicht einen anderen Charakter herausgebildet, so dient er
nicht nur als Werkzeug der Notwendigkeit und muß nicht nur als
solches dienen, sondern will auch leidenschaftlich dienen und
muß es auch wollen. Das ist die eine Seite der Freiheit, und
zwar der Freiheit, die aus der Notwendigkeit hervorgewachsen
ist, d.h. richtiger gesagt - das ist die Freiheit, die mit der
Notwendigkeit identisch geworden ist, das ist die Notwendigkeit,
die zur Freiheit geworden ist [11]. Diese Freiheit ist ebenfalls
Freiheit von gewisser Einschränkung; sie ist ebenfalls einer
gewissen Gebundenheit entgegengesetzt: tiefe Definitionen
widerlegen die oberflächlichen nicht, sondern ergänzen diese und
nehmen sie in sich auf. Von welcher Einschränkung, von welcher
Gebundenheit kann aber in diesem Fall die Rede sein? Das ist
klar: von der moralischen Einschränkung, die die Tatkraft der
Menschen bremst, die mit dem Dualismus noch nicht fertig
geworden sind; von der Gebundenheit, an der Menschen kranken,
die außerstande sind, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen,
der die Ideale von der Wirklichkeit trennt. Solange die
Persönlichkeit diese Freiheit durch eine kühne Bemühung des
philosophischen Denkens nicht erobert hat, gehört sie noch nicht
ganz sich selbst und zahlt durch ihre eigenen moralischen Qualen
einen schmählichen Tribut an die ihr entgegentretende äußere
Notwendigkeit. Dafür aber wird diese Persönlichkeit zu neuem,
vollem, ihr bis dahin unbekanntem Leben geboren werden, sobald
sie nur das Joch dieser qualvollen und beschämenden
Einschränkung abstreift, und ihre freie Tätigkeit wird als
bewußter und freier Ausdruck der Notwendigkeit erscheinen [12].
Dann wird sie zur gewaltigen gesellschaftlichen Kraft und dann
kann sie schon nichts mehr hindern und wird sie auch nichts mehr
hindern,
Des Unrechts tückische Gewalten
Mit mächtigem Götterblitz zu spalten ...
III
Noch einmal: Die Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit einer
gegebenen Erscheinung kann nur die Tatkraft des Menschen
steigern, der mit dieser Erscheinung sympathisiert und sich
selbst für eine der Kräfte hält, die sie hervorrufen. Legte ein
solcher Mensch, in der Erkenntnis der Notwendigkeit, die Hände
in den Schoß, so zeigt er dadurch nur, daß er die Rechenkunst
schlecht beherrscht. In der Tat, angenommen, die Erscheinung A
muß notwendig eintreten, sobald eine gegebene Summe von
Bedingungen vorliegt. Sie haben mir bewiesen, daß diese Summe
zum Teil schon vorliegt, zum Teil in der Zeit T eintreffen wird.
Sobald ich - ein Mensch, der mit der Erscheinung A sympathisiert
- mich davon überzeugt habe, rufe ich aus: »Wie ist das schön!«
und lege mich auf die faule Haut, um so lange zu schlafen, bis
der freudige Tag des von Ihnen vorausgesagten Ereignisses
eintritt. Was ergibt sich daraus? Folgendes. Nach Ihrer
Berechnung schloß die Summe, die notwendig ist, damit das
Ereignis A eintritt, auch meine Tätigkeit in sich, die,
angenommen, gleich a ist. Da ich aber der Schlafsucht verfallen
bin, so wird im Zeitpunkt T die Summe der für den Eintritt des
gegebenen Ereignisses günstigen Bedingungen nicht mehr S sein,
sondern S - a, was ja den Stand der Dinge ändert. Vielleicht
wird mein Platz von einem anderen eingenommen werden, der
ebenfalls der Passivität nahe war, auf den aber das Beispiel
meiner Apathie, die ihm geradezu empörend erschien, heilsam
gewirkt hat. In diesem Falle wird die Kraft a durch die Kraft b
ersetzt werden, und wenn a gleich b ist (a = b), so wird die
Summe der den Eintritt von A fördernden Bedingungen gleich S
bleiben, und die Erscheinung A wird zu demselben Zeitpunkt T
dennoch eintreten.
Wenn aber meine Kraft nicht gleich Null gesetzt werden darf,
wenn ich ein geschickter - und fähiger Arbeiter bin, und wenn
niemand an meine Stelle getreten ist, dann werden wir nicht die
volle Summe S haben, und die Erscheinung A wird später
eintreten, als wir annehmen, oder nicht in der Vollständigkeit
eintreten, wie wir sie erwartet haben, oder vielleicht gar nicht
eintreten. Das ist sonnen- klar, und wenn ich das nicht
verstehe, wenn ich glaube, daß S auch nach der Substitution
meiner Person gleich S bleiben wird, so einzig und allein
deshalb, weil ich nicht rechnen kann. Aber kann nur ich allein
nicht rechnen? Sie, der Sie mir vorausgesagt haben, daß im
Zeitpunkt T die Summe S unbedingt vorliegen wird, haben nicht
vorausgesehen, daß ich mich sofort nach meiner Unterhaltung mit
Ihnen schlafen legen werde; Sie waren überzeugt, daß ich bis
zuletzt ein guter Arbeiter bleiben werde; Sie haben eine weniger
zuverlässige Kraft für eine zuverlässigere gehalten. Folglich
haben auch Sie schlecht gerechnet. Aber nehmen wir an, daß Sie
sich in nichts geirrt, daß Sie alles berücksichtigt haben. Dann
wird Ihre Berechnung folgendermaßen aussehen: Sie sagen, daß im
Zeitpunkt T die Summe S vorliegen wird. In diese Summe der
Bedingungen wird meine Ablösung als negative Größe eingehen; in
sie wird aber auch, als positive Größe, die aufmunternde Wirkung
eingehen, die Innerlich starke Menschen aus der Ueberzeugung
gewinnen, daß ihre Bestrebungen und Ideale der subjektive
Ausdruck der objektiven Notwendigkeit sind. In diesem Fall wird
die Summe S tatsächlich in dem von Ihnen bezeichneten Zeitpunkt
vorliegen, und die Erscheinung A wird sich vollziehen. Das
scheint klar zu sein. Wenn das aber klar ist, warum hat mich der
Gedanke, daß die Erscheinung A unvermeidlich ist, stutzig
gemacht? Warum kam es mir so vor, als ob diese Unvermeidlichkeit
mich zur Untätigkeit verdamme? Warum habe ich bei dieser
Betrachtung die einfachsten Regeln der Arithmetik vergessen?
Wahrscheinlich weil ich, infolge meiner Erziehung, ohnehin den
größten Hang zur Untätigkeit hatte und meine Unterhaltung mit
Ihnen den Tropfen abgab, der den Kelch dieses lobenswerten Hangs
zum Ueberlaufen brachte. Das ist alles. Nur in diesem Sinne - im
Sinne eines Anfasses zur Feststellung meiner moralischen
Morschheit und Untauglichkeit - figurierte hier die Ansicht in
die Notwendigkeit. Als Ursache dieser Morschheit ist diese
Einsicht aber keineswegs zu betrachten: die Ursache liegt nicht
in ihr, sondern in den Umständen meiner Erziehung. Also ... also
ist die Arithmetik eine höchst schätzenswerte und nützliche
Wissenschaft, deren Regeln nicht einmal die Herren Philosophen
und sogar ganz besonders die Herren Philosophen nicht vergessen
dürfen.
Wie aber wird die Einsicht in die Notwendigkeit der
betreffenden Erscheinung auf den starken Menschen wirken, der
mit ihr nicht sympathisiert und ihrem Eintritt entgegenarbeitet?
Hier ändert sich die Sache ein wenig. Es ist wohl möglich, daß
sie die Energie seines Widerstandes schwächt. Wenn sich aber die
Gegner der gegebenen Erscheinung von ihrer Unvermeidlichkeit
überzeugen? Wenn die sie begünstigenden Umstände sehr zahlreich
und sehr stark werden? Die Einsicht ihrer Gegner in die
Unvermeidlichkeit ihres Eintreffens und das Sinken der Energie
dieser Gegner sind nur eine Aeußerung der Kraft der Bedingungen,
die für diese Erscheinung günstig sind. Diese Aeußerungen
gehören ihrerseits zu den günstigen Bedingungen.
Die Energie des Widerstandes wird jedoch nicht bei allen
ihren Gegnern sinken; bei einigen wird sie infolge der Einsicht
in ihre Notwendigkeit nur wachsen und sich in eine Energie der
Verzweiflung verwandeln. Die Geschichte im allgemeinen, und die
Geschichte Rußlands insbesondere, bietet gar manches lehrreiche
Beispiel der Energie dieser Art. Wir hoffen, daß der Leser sich
ihrer ohne unsere Hilfe erinnern wird.
Hier unterbricht uns Herr Karejew, der zwar unsere Ansichten
über Freiheit und Notwendigkeit natürlich nicht teilt und zudem
unsere Vorliebe für die »Extreme« der starken Naturen nicht
billigt, aber dennoch in den Spalten unserer Zeitschrift [13]
mit Genugtuung dem Gedanken begegnet, daß die Persönlichkeit
eine große gesellschaftliche Kraft sein kann. Der ehrwürdige
Professor ruft freudig aus: »Das habe ich stets gesagt.« Und das
stimmt auch. Herr Karejew und alle Subjektivisten räumten stets
der Persönlichkeit eine große Rolle in der Geschichte ein. Und
es gab eine Zeit, wo dies ihnen große Sympathien bei der
fortgeschrittenen Jugend einbrachte, die nach edlem Wirken für
die Allgemeinheit strebte und natürlicherweise geneigt war, die
Bedeutung der persönlichen Initiative hoch einzuschätzen. Aber
die Subjektivisten verstanden es eigentlich niemals, die Frage
der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte richtig zu
beantworten, ja sie auch nur richtig zu formulieren. Sie
stellten die »Tätigkeit kritisch denkender Persönlichkeiten« dem
Einfluß der Gesetze der gesellschaftlichen historischen Bewegung
entgegen und schufen auf diese Weise gewissermaßen eine neue
Abart der Theorie der Faktoren: die kritisch denkenden
Persönlichkeiten bildeten den einen Faktor der genannten
Bewegung, als ihr andere Faktor dienten ihre eigenen Gesetze.
Das Ergebnis war eine völlige Sinnlosigkeit, mit der man sich
nur so lange zufrieden gehen konnte, als die Aufmerksamkeit der
aktiven »Persönlichkeiten« auf praktische Tagesaktualitäten
konzentriert war, als sie daher keine Zeit hatten, sich mit
philosophischen Problemen zu beschäftigen. Aber seitdem die in
den achtziger Jahren eingetretene Stille denjenigen, die fähig
waren, zu denken, ungewollte Muße für philosophische
Spekulationen gewährte, begann die Lehre der Subjektivisten in
allen Nähten zu platzen oder gar ganz auseinanderzugehen,
ähnlich wie der berühmte Dienstmantel des Akaki Akakiewitsch
[14]. Da half alles Flicken nichts, und die denkenden Menschen
begannen. einer nach dem anderen, vom Subjektivismus als einer
offenkundig absolut unzulänglichen Lehre abzurücken. Aber wie es
immer in solchen Fällen zu geschehen pflegt, hat die Reaktion
auf den Subjektivismus einige seiner Gegner zu dem
entgegengesetzten Extrem geführt. Wenn manche Subjektivisten,
aus dem Bestreben heraus, der »Persönlichkeit« eine möglichst
große Rolle in der Geschichte einzuräumen, die historische
Entwicklung der Menschheit nicht als gesetzmäßigen Prozeß
ansprechen wollten, so waren einige ihrer neuesten Gegner, aus
dem Bestreben heraus, den gesetzmäßigen Charakter dieser
Bewegung möglichst stark hervorzuheben, scheinbar bereit zu
vergessen, daß die Geschichte von Menschen gemacht wird und daß
deshalb die Tätigkeit der Persönlichkeiten nicht ohne Bedeutung
für sie sein kann. Sie setzten die Persönlichkeit zur quantité
négligeable [15] herab. Theoretisch ist dieses Extrem
ebenso unverzeihlich wie dasjenige, zu dem die rabiatesten
Subjektivisten gelangt sind. Es ist ebenso unbegründet, die
These der Antithese zu opfern, wie die Antithese der These
zuliebe zu vergessen. Der richtige Standpunkt wird erst dann
gefunden, wenn wir es verstehen, die ihnen innewohnenden Momente
der Wahrheit in der Synthese zu vereinigen [16].
IV
Diese Aufgabe interessiert uns schon seit langem, und seit
langem schon hatten wir Lust, den Leser aufzufordern, sie mit
uns gemeinsam in Angriff zu nehmen. Aber gewisse Befürchtungen
hielten uns davon zurück: wir dachten, unsere Leser hätten diese
Frage vielleicht schon bei sich entschieden, und so käme unsere
Aufforderung zu spät. Gegenwärtig haben wir diese Befürchtungen
nicht mehr. Die deutschen Historiker haben sie uns genommen. Wir
sagen das in allem Ernst. Die Sache ist nämlich die, daß in der
letzten Zeit unter den deutschen Historikern eine ziemlich
bewegte Diskussion über die großen Männer in der Geschichte
stattgefunden hat. Die einen neigten dazu, in der politischen
Tätigkeit dieser Männer die hauptsächliche und schier einzige
Triebfeder der historischen Entwicklung zu sehen, die anderen
aber behaupteten, daß eine solche Auffassung einseitig sei und
daß die Geschichtswissenschaft nicht nur die Tätigkeit der
großen Männer und nicht nur die politische Geschichte im Auge
behalten müsse, sondern das »Ganze des gesellschaftlichen
Lebens«
Als einer der Vertreter dieser letzteren Richtung ist Karl
Lamprecht aufgetreten, der Verfasser der Deutschen Geschichte,
die von Herrn P. Nikolajew ins Russische übersetzt worden ist.
Die Gegner warfen Lamprecht »Kollektivismus« und Materialismus
vor, er wurde sogar - horrible dictu [17] - mit den
»sozialdemokratischen Atheisten« in eine Reihe gestellt, wie er
sich am Schluß der Diskussion ausdrückte. Als wir seine
Anschauungen kennenlernten, sahen wir, daß die Vorwürfe, die
gegen den armen Gelehrten erhoben wurden, völlig unbegründet
waren. Gleichzeitig haben wir uns davon überzeugt, daß die
heutigen deutschen Historiker außerstande sind, die Frage nach
der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zu entscheiden.
Nunmehr hielten wir uns für berechtigt anzunehmen, daß diese
Frage auch für manche russischen Leser ungelöst geblieben ist,
und daß auch jetzt noch über sie manches zu sagen wäre, was
nicht ganz ohne theoretisches und praktisches Interesse ist.
Lamprecht hat sich eine ganze Sammlung (wie er sich
ausdrückt: eine artige Sammlung) von Zeugnissen hervorragender
Staatsmänner angelegt über das Verhältnis ihrer eigenen
Tätigkeit zu dem historischen Milieu, in dem sich diese vollzog;
in seiner Polemik hat er sich einstweilen mit der Berufung auf
gewisse Reden und Aeußerungen Bismarcks begnügt. Er führt
folgende Worte an, die de eiserne Kanzler am 16. April 1869 im
Norddeutschen Reichstag sagte: »Wir können die Geschichte der
Vergangenheit weder ignorieren, noch können wir, meine Herren,
die Zukunft machen; und das ist ein Mißverständnis, vor dem ich
auch hier warnen möchte, daß wir uns nicht einbilden, wir können
den Lauf der Zeit dadurch beschleunigen, daß wir unsere Uhren
vorstellen. Mein Einfluß auf die Ereignisse, die mich getragen
haben, wird zwar wesentlich überschätzt, aber doch wird mir
gewiß keiner zumuten, Geschichte zu machen; das, meine Herren,
könnte ich selbst in Gemeinschaft mit Ihnen nicht, eine
Gemeinschaft, in der wir doch so stark sind, daß wir einer Welt
in Waffen trotzen könnten, aber die Geschichte können wir nicht
machen, sondern nur abwarten, daß sie sich vollzieht. Wir können
das Reifen der Früchte nicht dadurch beschleunigen, daß wir eine
Lampe darunter halten, und wenn wir nach unreifen Früchten
schlagen, so werden wir nur ihr Wachstum hindern und sie
verderben.« Sich auf das Zeugnis Jollys berufend, führt
Lamprecht Bismarcks Bemerkungen an, die er wiederholt während
des Krieges zwischen Frankreich und Preußen machte. Ihr
allgemeiner Sinn ist wiederum der: »große politische Änderungen
ließen sich nicht machen, man müsse den natürlichen Lauf der
Dinge beachten und sich darauf beschränken, das Gereifte zu
sichern«. Lamprecht sieht darin eine tiefe und vollkommene
Wahrheit. Seiner Meinung nach kann der moderne
Geschichtsschreiber gar nicht anders denken, wenn er es nur
versteht, in die Tiefe der Ereignisse zu blicken und sein
Gesichtsfeld nicht auf eine allzu kurze Zeitspanne zu
beschränken. Hätte Bismarck etwa Deutschland zur
Naturalwirtschaft zurückführen können? Das wäre für ihn selbst
damals unmöglich gewesen, als ei sich auf dem Gipfel seiner
Macht befand. Die allgemeinen historischen Bedingungen sind
stärker als die stärksten Persönlichkeiten. Der allgemeine
Charakter seiner Epoche ist für den großen Mann die »empirisch
gegebene Notwendigkeit«.
So argumentiert Lamprecht, der seine Auffassung als
universalistisch bezeichnet. Es ist nicht schwer, die schwache
Seite der »universalistischen« Auffassung wahrzunehmen. Die
angeführten Aeußerungen Bismarcks sind als psychologisches
Dokument sehr interessant. Man braucht mit der Tätigkeit des
früheren deutschen Kanzlers nicht zu sympathisieren, aber man
kann nicht sagen, daß sie unbedeutend war, daß Bismarck sich
durch »Quietismus« auszeichnete. Von ihm hat ja Lassalle gesagt:
»Die Diener der Reaktion sind keine Schönredner, aber gebe Gott,
daß der Fortschritt mehr solcher Diener habe.« Und dieser Mann,
der zuweilen eine geradezu eiserne Energie an den Tag legte,
hielt sich für vollkommen ohnmächtig vor dem natürlichen Gang
der Dinge und betrachtete sich selber offenbar als einfaches
Werkzeug der historischen Entwicklung: das zeigt nur noch
einmal, daß man die Erscheinungen im Lichte der Notwendigkeit
sehen und zugleich ein sehr energischer Mann sein kann. Aber nur
in dieser Hinsicht sind auch Bismarcks Ansichten von Interesse;
als Antwort auf die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in
der Geschichte können sie jedoch nicht gelten. Laut Bismarck
machen sich die Geschehnisse von selbst, wir aber können uns das
sichern, was durch sie vorbereitet wird. Jeder Akt der
»Sicherung« ist jedoch ebenfalls ein historisches Geschehnis:
wodurch unterscheiden sich denn diese Geschehnisse von denen,
die sich von selbst machen? In Wirklichkeit ist beinahe jedes
historische Geschehen gleichzeitig sowohl die »Sicherung« der
bereits reif gewordenen Früchte der vorhergegangenen Entwicklung
für irgend jemand als auch ein Glied in der Kette der
Ereignisse, die die Früchte der Zukunft vorbereiten. Wie kann
man da die Akte der »Sicherung« dem natürlichen Gang der Dinge
entgegenstellen? Bismarck wollte offenbar sagen, daß die in der
Geschichte handelnden Personen und Personengruppen niemals
allmächtig waren und es auch nie sein werden. Das unterliegt,
natürlich nicht dem geringsten Zweifel. Aber wir möchten dennoch
wissen, wovon ihre natürlich bei weitem nicht allmächtige Kraft
abhängt; unter welchen Umständen sie zu- und unter welchen sie
abnimmt. Diese Fragen beantwortet weder Bismarck noch der ihn
zitierende gelehrte Verteidiger der »universalistischen«
Geschichtsauffassung.
Allerdings trifft man bei Lamprecht auch deutlichere Zitate
an [18]. Er führt zum Beispiel folgende Worte von Monod, einem
der prominentesten Vertreter der modernen Geschichtswissenschaft
Frankreichs, an: »Man hat sich in der Geschichte zu sehr daran
gewöhnt, sich ganz besonders mit den glänzenden, überraschenden
und ephemeren Aeußerungen der menschlichen Tätigkeit, mit den
großen Ereignissen und großen Männern zu beschäftigen, anstatt
sich auf die großen und langsamen Bewegungen der ökonomischen
Bedingungen und sozialen Einrichtungen zu stützen, die den
wahrhaft interessanten und unvergänglichen Teil der menschlichen
Entwicklung bilden, den Teil, der mit einer gewissen
Bestimmtheit analysiert und bis zu einem gewissen Grade auf
Gesetze zurückgeführt werden kann. Die wirklich bedeutenden
Ereignisse und Persönlichkeiten sind gerade als Anzeichen und
Symbole der verschiedenen Momente der gesamten Entwicklung
bedeutend. Aber die meisten Ereignisse, die man als historisch
bezeichnet, verhalten sich zur wirklichen Geschichte so, wie
sich zu der tiefen und beständigen Bewegung von Ebbe und Flut
die Wellen verhalten, die auf der Meeresoberfläche entstehen,
einen Augenblick lang im leuchtenden Feuer des Lichtes funkeln,
dann am sandigen Ufer zerschellen und nichts hinter sich
zurücklassen.« Lamprecht erklärt sich bereit, jedes dieser Worte
Monods zu unterschreiben. Bekanntlich lieben es die deutschen
Gelehrten nicht, den französischen zuzustimmen, ebensowenig wie
die französischen den deutschen. Deshalb hat der belgische
Historiker Pirenne in der Revue Historique mit besonderer
Genugtuung diese Uebereinstimmung der historischen Auffassungen
Monods mit denen Lamprechts hervorgehoben. »Diese
Übereinstimmung ist sehr bezeichnend«, erklärte er. »Sie beweist
offenbar, daß die Zukunft der neuen historischen Richtung
gehört.«
V
Wir teilen Pirennes angenehme Hoffnungen nicht. Die Zukunft
kann nicht unklaren und unbestimmten Auffassungen gehören, und
eben derart sind die Auffassungen Monods und insbesondere
Lamprechts. Begrüßenswert ist natürlich eine Richtung, die als
Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft das Studium der
gesellschaftlichen Einrichtungen und ökonomischen Bedingungen
erklärt. Wenn diese Richtung in dieser Wissenschaft endgültig
Fuß faßt, wird sie weit vorankommen. Aber erstens irrt Pirenne,
wenn er diese Richtung für neu hält. Sie entstand in der
Geschichtswissenschaft bereits in den zwanziger Jahren des 19.
Jahrhunderts. Guizot, Mignet, Augustin Thierry und späterhin
Tocquevile und andere waren ihre glänzenden und konsequenten
Vertreter. Monods und Lamprechts Auffassungen sind lediglich ein
schwacher Abklatsch eines alten, aber sehr bemerkenswerten
Originals. Zweitens: so tief die Auffassungen Guizots, Mignets
und anderer französischer Historiker für ihre Zeit auch waren,
so ist vieles in ihnen ungeklärt geblieben. Sie enthalten keine
genaue und vollständige Antwort auf die Frage nach der Rolle der
Persönlichkeit in. der Geschichte. Die. historische Wissenschaft
muß aber tatsächlich diese Frage lösen, wenn es ihren Vertretern
gegeben sein soll, sich von der einseitigen Auffassung dieses
Gegenstandes zu befreien. Die Zukunft gehört der Schule, die
unter anderem die beste Lösung auch dieser Frage geben wird.
Die Auffassungen
Guizots, Mignets und anderer Historiker dieser Richtung waren
eine Reaktion auf die historischen Auffassungen des 18.
Jahrhunderts, bilden deren Antithese. Im 18. Jahrhundert führten
die Menschen, die sich mit der Philosophie der Geschichte
beschäftigten, alles auf die bewußte Tätigkeit der
Persönlichkeiten zurück. Es gab freilich auch damals Ausnahmen
von der allgemeinen Regel: so war das philosophisch-historische
Gesichtsfeld von Vico, Montesquieu und Herder viel weiter. Wir
sprechen aber nicht von Ausnahmen; die überwiegende Mehrheit der
Denker des 18. Jahrhundert hatte von der Geschichte die
Auffassung, von der wir eben sprachen. In dieser Hinsicht ist es
recht interessant, die historischen Werke, sagen wir Mablys,
heute noch einmal zu lesen. Laut Mably hätte Minos ganz allein
das sozial-politische Leben und die Sitten der Kreter
geschaffen, und Lykurg hätte denselben Dienst Sparta geleistet.
Wenn die Spartaner materielle Reichtümer verachteten so haben
sie das eben Lykurg zu verdanken, der »sozusagen in die Tiefe
der Herzen seiner Mitbürger hinabstieg und dort den Hang zum
Reichtum im Keim unterdrückte« (descendit pour ainsi dire jusque
dans le fonds du cœur des citoyens etc.) [19]. Und wenn die
Spartaner später den ihnen vom weisen Lykurg gewiesenen Weg
verließen, so hatte Lysander daran schuld, der die davon
überzeugte, daß »die neuen Zeiten und neuen Umstände von ihnen
neue Verhaltungsmaßregeln und eine neue Politik verlangen« [20].
Die Untersuchungen, die unter einem solchen Gesichtswinkel
abgefaßt waren, hatten mit Wissenschaft sehr wenig gemein und
wurden wie Predigten allein der aus ihnen hervorgehenden
moralischen »Lehren« zuliebe geschrieben. Gegen diese
Auffassungen wandten sich dann auch die französischen Historiker
der Restauration. Nach den erschütternden Ereignissen am Ausgang
des 18. Jahrhunderts war es schon absolut unmöglich zu denken,
daß die Geschichte das Werk mehr oder weniger hervorragender,
mehr oder weniger edler und aufgeklärter Persönlichkeiten sei,
die nach eigenem Gutdünken der unaufgeklärten, aber gehorsamen
Masse diese oder jene Gefühle und Begriffe einflößen. Eine
solche Geschichtsphilosophie empörte außerdem den plebejischen
Stolz der Theoretiker der Bourgeoisie. Hier kamen dieselben
Gefühle zum Vorschein, die schon im 18. Jahrhundert bei der
Entstehung des bürgerlichen Dramas in Erscheinung getreten
waren. In seinem Kampf gegen die alten historischen Auffassungen
bediente sieh übrigens Thierry derselben Argumente, die von
Beaumarchais und anderen gegen diese alte Aesthetik angeführt
wurden [21]. Schließlich hatten die Stürme, die
Frankreich kurz vorher erlebt hatte, deutlich gezeigt,
daß der Gang der historischen Ereignisse bei weitem nicht allein
durch die bewußten Handlungen der Menschen bestimmt wird; schon
allein dieser Umstand mußte auf den Gedanken bringen, daß diese
Ereignisse sich unter dem Einfluß irgendeiner verborgenen
Notwendigkeit vollziehen, die - ähnlich wie die
Elementargewalten der Natur - blind, aber nach bestimmten
unabwendbaren Gesetzen wirkt. Höchst bemerkenswert - obwohl
bisher, soweit uns bekannt ist, von niemandem hervorgehoben -
ist die Tatsache, daß die neue Auffassung der Geschichte als
eines gesetzmäßigen Prozesses am konsequentesten von den
französischen Historikern der Epoche der Restauration und gerade
in den Werken niedergelegt wurde, die sich mit der französischen
Revolution befassen. Dazu gehören, unter anderem, auch die Werke
von Mignet. Chateaubriand bezeichnete die neue historische
Schule als fatalistisch. Die Aufgaben formulierend, vor die sie
den Forscher stellte, schrieb er: »Dieses System verlangt, daß
der Historiker über die grausamsten Brutalitäten ohne Empörung
berichte, über die höchsten Tugenden ohne Liebe spreche und mit
seinem eisigen Blick im Leben der Gesellschaft nur die Aeußerung
unabwendbarer Gesetze sehe, kraft deren jede Erscheinung sich
gerade so vollzieht, wie sie sich unvermeidlich vollziehen mußte.«
[22] Das ist natürlich falsch. Die neue Schule verlangt vom
Historiker keineswegs Leidenschaftslosigkeit. Augustin Thierry
hat sogar direkt erklärt, daß politische Leidenschaften, die den
Verstand des Forschers schärfen, als mächtiges Mittel zur
Entdeckung der Wahrheit dienen können [23]. Und es genügt, auch
nur flüchtig die historischen Werke von Guizot, Thierry oder
Mignet kennenzulernen, um zu sehen, daß sie sehr heiß mit der
Bourgeoisie sympathisierten, sowohl in ihrem Kampfe gegen die
weltliche und geistliche Aristokratie, als auch in ihrem
Bestreben, die Forderungen des aufkommenden Proletariats zu
unterdrücken. Unbestreitbar ist aber folgendes: die neue
historische Schule entstand in den zwanziger Jahren des 19.
Jahrhunderts, d.h. zu einer Zeit, wo die Aristokratie bereits
von der Bourgeoisie besiegt war, obwohl sie sich noch bemühte,
einige ihrer alten Vorrechte wiederherzustellen. Das stolze
Bewußtsein des Sieges ihrer Klasse zeigte sich in allen
Betrachtungen der Historiker der neuen Schule. Da sich die
Bourgeoisie aber niemals durch ritterliche Gefühlsfeinheit
auszeichnete, so ließ sich mitunter in den Betrachtungen ihrer
gelehrten Vertreter eine grausame Einstellung zu den Besiegten
vernehmen. »Le plus fort absorbe le plus faible«, sagt Guizot in
einer seiner polemischen Broschüren, »et il est de droit«. (»Der
Stärkere verschlingt den Schwächeren, und er hat ein Recht
dazu.«) Nicht weniger grausam ist sein Verhältnis zur
Arbeiterklasse. Diese Grausamkeit, die zeitweise die Form
ruhiger Leidenschaftslosigkeit annimmt, hat auch Chateaubriand
irregeführt. Außerdem war es damals nicht ganz klar, was unter
Gesetzmäßigkeit der historischen Bewegung zu verstehen sei. Die
neue Schule konnte endlich gerade deswegen als fatalistisch
erscheinen, weil sie, bestrebt, sich fest auf den Standpunkt der
Gesetzmäßigkeit zu stellen, sich wenig mit den großen
historischen Persönlichkeiten befaßte [24]. Damit konnten sich
Leute, die in den historischen Ideen des 18. Jahrhunderts
erzogen wurden, kaum abfinden. Von allen Seiten hagelte Einwände
gegen die neuen Historiker, und damals entstand der Streit, der,
wie wir gesehen haben, auch bis auf den heutigen Tag noch nicht
zu Ende ist.
Im Januar 1826 schrieb Sainte-Beuve im Globe aus Anlaß des
Erscheinens des fünften und des sechsten Bandes der Geschichte
der französischen Revolution von Mignet: »In jedem gegebenen
Augenblick vermag der Mensch durch einen plötzlichen Entschluß
seines Willens in den Gang der Geschehnisse eine neue,
unerwartete und veränderliche Kraft einzuführen, die fähig ist,
ihm eine andere Richtung zu geben, die selbst aber infolge ihrer
Veränderlichkeit sich nicht messen läßt.« Man soll nicht
glauben, daß Sainte-Beuve annahm, die »plötzlichen Entschlüsse«
des menschlichen Willens träten ohne jede Ursache auf. Nein, das
wäre viel zu naiv. Er behauptete lediglich, daß die geistigen
und moralischen Eigenschaften des Menschen, der eine mehr oder
minder wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt, daß
seine Talente, Kenntnisse, seine Entschlossenheit oder
Unentschlossenheit, seine Tapferkeit oder Feigheit usw. nicht
ohne sichtbaren Einfluß auf den Gang und Ausgang der
Geschehnisse bleiben können daß diese Eigenschaften sich indes
nicht allein aus den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Volkes
erklären, sondern sich stets und in hohem Grade unter der
Wirkung dessen bilden, was man als Zufälligkeiten des
Privatlebens bezeichnen könnte. Wir wollen einige Beispiele
anführen, um diesen, wie es übrigens scheint, ohnehin klaren
Gedanken klarzulegen.
Im österreichischen Erbfolgekriege erfochten die
französischen Truppen einige glänzende Siege, und Frankreich
konnte allem Anschein nach von Österreich die Überlassung eines
ziemlich großen Gebiets des heutigen Belgien erzwingen; Ludwig
XV. forderte aber diese Gebietsabtretungen nicht, da er, seinen
Worten nach, als König, und nicht als Kaufmann Krieg führte, und
der Aachener Friede brachte den Franzosen nichts ein. Hätte aber
Ludwig XV. einen anderen Charakter gehabt, so würde vielleicht
das Territorium Fränkreichs einen Zuwachs erfahren haben, so daß
der Gang seiner ökonomischen und politischen Entwicklung ein
etwas anderer geworden wäre.
Den Siebenjährigen Krieg führte Frankreich bekanntlich schon
im Bunde mit Österreich. Man sagt, daß diesem Bündnis unter
starker Mitwirkung der Madame Pompadour geschlossen wurde, die
sich dadurch sehr geschmeichelt fühlte, daß die stolze Maria
Theresia sie in einem an sie gerichteten Brief ihre Base oder
ihre liebe Freundin (bien bonne amie) genannt hatte. Man könnte
daher sagen: hätte Ludwig XV. strengere Sitten gehabt oder wäre
er weniger dem Einfluß von Favoritinnen zugänglich gewesen, so
hätte Madame Pompadour nicht diesen Einfluß auf den Gang der
Ereignisse gewonnen, und sie hätten eine andere Wendung
genommen.
Weiter. Der Siebenjährige Krieg verlief für Frankreich
unglücklich: seine Generale erlitten einige höchst schmähliche
Niederlagen. Sie benahmen sich überhaupt mehr als sonderbar.
Richelieu beschäftigte sich mit Plünderungen, während Soubise
und Broglie sich ständig gegenseitig störten. Broglie griff zum
Beispiel den Gegner bei Philinghausen an, Soubise hörte die
Kanonenschüsse, kam aber seinem Kameraden nicht zu Hilfe - wie
es ausgemacht war und was er zweifellos hätte tun müssen -, und
so sah sich Broglie zum Rückzug gezwungen [25]. Die Gönnerin
dieses höchst unbegabten Soubise war dieselbe Madame Pompadour.
Und man kann wiederum sagen: wäre Ludwig XV. weniger sinnlich
veranlagt gewesen, oder hätte seine Favoritin sich nicht in die
Politik eingemischt, so hätten die Ereignisse einen für
Frankreich weniger ungünstigen Verlauf genommen.
Die französischen Historiker behaupten, daß Frankreich
überhaupt nicht auf dem europäischen Kontinent hätte Krieg
führen, sondern eher alle seine Bemühungen auf See konzentrieren
sollen, um seine Kolonien gegen Englands Anschläge zu behaupten.
Wenn Frankreich anders gehandelt hat, so sei daran wiederum die
unvermeidliche Madame Pompadour schuld, die »ihrer lieben
Freundin« Maria Theresia gefällig sein wollte. Infolge des
Siebenjährigen Krieges verlor Frankreich seine besten Kolonien,
was zweifellos die Entwicklung seiner ökonomischen Lage stark
beeinflußt hat. Die weibliche Eitelkeit tritt hier in der Rolle
eines einflußreichen »Faktors« der ökonomischen Entwicklung vor
uns.
Bedarf es noch anderer Beispiele? Wir wollen noch ein,
vielleicht das auffallendste, Beispiel anführen. Während dieses
selben Siebenjährigen Krieges, im August 1761, vereinigten sich
die österreichischen Truppen in Schlesien mit den russischen und
umzingelten Friedrich bei Striegau. Friedrichs Lage war
verzweifelt, aber die Verbündeten zögerten mit der Offensive,
und der General Buturlin, der 20 Tage lang vor dem Feinde
gestanden hatte, räumte Schlesien und ließ zur Unterstützung des
österreichischen Generals Laudon nur einen Teil seiner Kräfte
zurück. Laudon nahm dann Schweidnitz ein, in dessen Nähe
Friedrich stand, aber dieser Erfolg war von keiner großen
Bedeutung. Wie aber, wenn Buturlin einen entschlosseneren
Charakter besessen hätte? wenn die Verbündeten Friedrich
angegriffen hätten, ohne ihm Zeit zu lassen, sich in seinem
Lager zu verschanzen? Es ist möglich, daß sie ihn aufs Haupt
geschlagen hätten und er gezwungen gewesen wäre, sich allen
Forderungen der Sieger zu unterwerfen. Und das geschah knapp
einige Monate, bevor ein neuer Zufall, der Tod der Kaiserin
Elisabeth, mit einem Schlag die Lage der Dinge stark in einem
für Friedrich günstigen Sinne änderte. Es fragt sich, was
geschehen wäre, wenn Buturlin mehr Entschlußkraft besessen oder
wenn ein Mann wie Suworow seinen Posten bekleidet hätte?
Die Auffassung der »Fatalisten« unter den Historikern
analysierend, brachte Sainte-Beuve auch noch ein anderes
Argument vor, das ebenfalls zu berücksichtigen ist. In dem von
uns zitierten Artikel über Mignets Geschichte der französischen
Revolution suchte er den Nachweis zu führen, daß der Gang und
der Ausgang der französischen Revolution nicht nur durch die
allgemeinen Ursachen bedingt waren, die sie hervorgerufen
hatten, und nicht nur durch die Leidenschaften, die sie
ihrerseits auslöste, sondern auch durch eine Unmenge
geringfügiger Erscheinungen, die sich dem Auge des Forschers
entziehen und selbst gar nicht zu den eigentlich sogenannten
gesellschaftlichen Erscheinungen gehören. »Während diese« (durch
die gesellschaftlichen Erscheinungen hervorgerufenen)
»Leidenschaften am Werk waren«, schrieb er, »waren die
physischen und physiologischen Kräfte der Natur ebenfalls nicht
untätig: der Stein folgte nach wie vor der Gravitation; das Blut
hörte nicht auf, in den Adern zu zirkulieren. Hätte sich denn
der Verlauf der Ereignisse nicht geändert, wenn, sagen wir,
Mirabeau nicht am hitzigen Fieber gestorben Wäre; wenn ein
zufällig heruntergefallener Ziegelstein Robespierre erschlagen
hätte, oder er einem Schlaganfall erlegen wäre; wenn eine Kugel
Bonaparte niedergestreckt hätte? Werden Sie etwa den Mut haben,
zu behaupten, daß der Ausgang der Ereignisse derselbe gewesen
wäre? Bei einer genügend großen Anzahl von Zufälligkeiten,
ähnlich den von mir vorausgesetzten, hätte der Ausgang
vollkommen entgegengesetzt dem sein können, der Ihrer Meinung
nach unvermeidlich war. Es ist aber mein gutes Recht, solche
Zufälligkeiten vorauszusetzen, denn sie werden weder durch die
allgemeinen Ursachen der Revolution, noch durch die von den
allgemeinen Ursachen erzeugten Leidenschaften ausgeschlossen.«
Er führt ferner die bekannte Bemerkung an, daß die Geschichte
einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Nase der
Kleopatra etwas kürzer gewesen wäre, und gibt zum Abschluß zu,
es ließe sich zugunsten der Auffassung Mignets sehr viel sagen,
und weist noch einmal darauf hin, worin der Irrtum dieses Autors
bestehe. Mignet schreibe allein der Wirkung der allgemeinen
Ursachen diejenigen Resultate zu, deren Eintreffen durch eine
Unmenge anderer, geringfügiger, dunkler und unfaßbarer Ursachen
gefördert wurde; sein strenger Verstand sträube sich
gewissermaßen dagegen, die Existenz dessen anzuerkennen, worin
er keine Ordnung und Gesetzmäßigkeit sehe.
VI
Sind nun die Einwände Sainte-Beuves begründet? Es hat den
Anschein, daß sie einen gewissen Teil Wahrheit enthalten. Aber
welchen eigentlich? Um das festzustellen, wollen wir zuerst den
Gedanken betrachten, daß der Mensch durch »plötzliche
Entschlüsse seines Willens« in den Gang der Geschehnisse eine
neue Kraft einzuführen vermag, die fähig ist, ihn wesentlich zu
verändern. Wir haben einige Beispiele angeführt, die, wie uns
scheint, diesen Gedanken gut erläutern. Denken wir uns in diese
Beispiele hinein.
Es ist allbekannt, daß das Kriegswesen während der Regierung
Ludwigs XV. in Frankreich immer mehr verfiel. Henri Martin
bemerkt, daß im Siebenjährigen Kriege die französischen Truppen,
hinter denen stets eine Menge Dirnen, Händler und Diener
herzogen, und die dreimal soviel Trainpferde als Reitpferde
hatten, eher an die Horden des Darius und Xerxes erinnerten als
an die Armeen von Purenne und Gustav Adolf. [26] Archenholz
erzählt in seiner Geschichte dieses Krieges, daß die
französischen Offiziere, die zur Wache eingeteilt waren, häufig
die ihnen anvertrauten Posten verließen, um irgendwo in der
Nachbarschaft tanzen zu gehen, und den Befehlen des Kommandos
nur dann gehorchten, wenn sie es für nötig und bequem hielten.
Dieser klägliche Stand des Militärwesens wurde durch den
Niedergang des Adels bedingt, der jedoch nach wie vor alle hohen
Aemter in der Armee einnahm, sowie durch die allgemeine
Zerrüttung des ganzen »alten Regimes«, das schnell seinem
Verfall entgegenging. Allein diese allgemeinen Ursachen hätten
vollkommen genügt, um dem Siebenjährigen Krieg eine für
Frankreich ungünstige Wendung zu geben. Aber unzweifelhaft ist
auch, daß die Unfähigkeit solcher Generale wie Soubise für die
französische Armee die durch die allgemeinen Ursachen bedingten
Aussichten auf Mißerfolg noch erheblich steigerte. Da sich aber
Soubise dank der Madame Pompadour hielt, so wird man zugeben
müssen, daß die eitle Marquise einer der »Faktoren« war, die im
Siebenjährigen Krieg die füt Frankreich ungünstige Wirkung der
allgemeinen Ursachen auf die Lage der Dinge bedeutend
verstärkten.
Die Marquise de Pompadour war nicht durch ihre eigene Macht
stark, sondern durch die Macht des Königs, der sich ihrem Willen
unterwarf. Kann man etwa sagen, daß der Charakter Ludwigs XV.
gerade derart war, wie er nach dem allgemeinen Entwicklungsgang
der gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich unbedingt
hätte sein müssen? Nein, bei demselben Gang der Entwicklung
hätte seinen Platz ein König innehaben können, der eine andere
Einstellung zu den Frauen hatte. Sainte-Beuve würde sagen, daß
dazu die Wirkung von dunklen und unfaßbaren physiologischen
Ursachen genügt hätte. Und er hätte recht. Wenn dem aber so ist,
so übten also diese dunklen physiologischen Ursachen, die den
Gang und Ausgang des Siebenjährigen Krieges beeinflußt hatten,
dadurch auch einen Einfluß auf die weitere Entwicklung
Frankreichs aus, die eine andere gewesen wäre, wenn der
Siebenjährige Krieg Frankreich nicht um den größten Teil seiner
Kolonien gebracht hätte. Es fragt sich nun: widerspricht diese
Schlußfolgerung nicht dem Begriff der Gesetzmäßigkeit der
gesellschaftlichen Entwicklung?
Nein, nicht im geringsten. So unzweifelhaft in den genannten
Fällen die Wirkung der persönlichen Besonderheiten auch sein
mag, nicht minder zweifelhaft ist auch, daß diese Wirkung nur
unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen eintreten
konnte. Nach der Schlacht bei Roßbach waren die Franzosen über
Soubises Gönnerin schrecklich ungehalten. Sie bekam täglich eine
Menge anonymer Briefe voller Drohungen und Beleidigungen. Das
regte die Frau Pompadour sehr auf; sie begann, an
Schlaflosigkeit zu leiden [27]. Aber sie fuhr dennoch fort,
Soubise zu unterstützen. In einem ihrer Briefe an ihn aus dem
Jahre 1762 macht sie die Bemerkung, daß er die auf ihn gesetzten
Hoffnungen nicht gerechtfertigt habe, und fügt dann hinzu: »Doch
seien Sie unbesorgt, ich werde Ihre Interessen wahrnehmen und
werde versuchen, Sie mit dem König auszusöhnen.« [28] Wie man
sieht, machte sie der öffentlichen Meinung keine Zugeständnisse.
Warum nicht? Wahrscheinlich, weil die damalige französische
Gesellschaft nicht über die Möglichkeit verfügte, sie zu
Zugeständnissen zu zwingen. Und warum war die damalige
französische Gesellschaft dazu nicht imstande? Sie wurde daran
durch ihre Organisation behindert, die ihrerseits von den
Wechselbeziehungen der damaligen gesellschaftlichen Kräfte in
Frankreich abhing. Aus den Wechselbeziehungen dieser Kräfte ist
also in letzter Instanz der Umstand zu erklären, daß die
Charaktereigenschaften Ludwigs XV. und die Launen seiner
Favoritinnen einen so traurigen Einfluß auf die Geschicke
Frankreichs ausüben konnten. Hätte nicht der König eine Schwäche
für das weibliche Geschlecht gehabt, sondern irgendein
königlicher Koch oder Stallmeister, so wäre ja dieser Schwäche
keinerlei historische Bedeutung zugekommen. Es ist klar, daß
hier nicht die Schwäche ausschlaggebend ist, sondern die
gesellschaftliche Stellung der Person, die an ihr krankt. Der
Leser wird einsehen, daß diese Betrachtungen auch auf alle
anderen oben angeführten Beispiele angewandt werden können. Man
braucht in diesen Betrachtungen nur das zu ändern, was
veränderlich ist, zum Beispiel, anstatt Frankreich Rußland zu
setzen, anstatt Soubise Buturlin usw. Wir wollen darum diese
Betrachtungen nicht wiederholen.
Es ergibt sich, daß die Persönlichkeiten kraft der gegebenen
Besonderheiten ihres Charakters die Geschicke der Gesellschaft
beeinflussen können. Mitunter ist dieser Einfluß sogar recht
beträchtlich, aber sowohl die Möglichkeit einer solchen
Beeinflussung selbst als auch ihr Ausmaß werden durch die
Organisation der Gesellschaft, durch das Wechselverhältnis ihrer
Kräfte bestimmt. Die Charaktereigenschaften der Persönlichkeit
sind nur dann, nur dort und nur insofern ein »Faktor« der
gesellschaftlichen Entwicklung, wann, wo und inwiefern die
gesellschaftlichen Beziehungen ihnen erlauben, es zu sein.
Man könnte uns entgegnen, daß das Ausmaß des persönlichen
Einflusses auch von den Talenten der Persönlichkeit abhängt. Wir
werden dem zustimmen. Die Persönlichkeit kann aber nur dann ihre
Talente offenbaren, wenn sie die dazu notwendige Stellung in der
Gesellschaft einnimmt. Wie kam es, daß das Schicksal Frankreichs
in den Händen eines Menschen liegen konnte, dem jede Fähigkeit
und jede Lust zum Dienst an der Gesellschaft abging? Weil die
gesellschaftliche Organisation Frankreichs so beschaffen war.
Diese Organisation bestimmt zu jeder gegebenen Zeit die Rolle
und folglich auch die gesellschaftliche Bedeutung, die
talentierten oder talentlosen Persönlichkeiten zufallen können.
Wenn aber die Rolle der Persönlichkeit durch die Organisation
der Gesellschaft bestimmt wird, wie kann dann ihr durch diese
Rolle bedingter gesellschaftlicher Einfluß dem Begriff der
Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung
widersprechen? Der gesellschaftliche Einfluß widerspricht auch
diesem Begriff nicht, sondern dient vielmehr klarer als viele
andere zu seiner Illustration.
Hier muß aber folgendes bemerkt werden. Die durch die
Organisation der Gesellschaft bedingte Möglichkeit des
gesellschaftlichen Einflusses der Persönlichkeiten öffnet Tür
und Tor dem Einfluß von sogenannten Zufälligkeiten auf die
historischen Geschicke der Völker. Ludwigs XV. Sinnlichkeit war
die notwendige Folge des Zustandes seines Organismus. In bezug
auf den allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs war aber dieser
Zustand etwas Zufälliges. Indes ist er, wie wir schon gesagt
haben, nicht ohne Einfluß auf das weitere Schicksal Frankreichs
geblieben und ist selber in die Zahl der Ursachen eingegangen,
die dieses Schicksal bedingt haben. Mirabeaus Tod wurde
natürlich durch ganz gesetzmäßige pathologische Prozesse
verursacht. Die Notwendigkeit dieser Prozesse entsprang aber
keineswegs dem allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs; sondern
gewissen privaten Besonderheiten des Organismus des berühmten
Redners und jenen physischen Bedingungen, unter denen er sich
angesteckt hatte. In bezug auf den allgemeinen Entwicklungsgang
Frankreichs sind diese Besonderheiten und diese Bedingungen
zufällig. Indes hat Mirabeaus Tod den weiteren Verlauf der
Revolution beeinflußt und gehört zu den Ursachen, die diesen
Verlauf bedingten.
Noch auffallender ist die Wirkung zufälliger Ursachen in dem
oben angeführten Beispiel Friedrichs II., der nur dank, der
Unentschlossenheit Buturlins einer höchst schwierigen Situation
entronnen war. Buturlins Amtseinsetzung konnte sogar im
Verhältnis zum allgemeinen Entwicklungsgang Rußlands, in dem von
uns festgelegten Sinne dieses Wortes, zufällig sein; zu der
allgemeinen Entwicklung Preußens stand er allerdings in gar
keinem Verhältnis. Indes ist die Vermutung nicht von der Hand zu
weisen, daß Friedrich dank Buturlins Unentschlossenheit einer
verzweifelten Lage entronnen ist; Hätte an der Stelle von
Buturlin Suworow gestanden, so hätte sich die Geschichte
Preußens vielleicht anders gestaltet. Demnach hängt mitunter das
Schicksal der Staaten von Zufälligkeiten ab, die man als
Zufälligkeiten zweiten Grades bezeichnen kann. »In allem
Endlichen ist ein Element des Zufälligen«, sagt Hegel. In der
Wissenschaft haben wir es nur mit dem »Endlichen« zu tun;
deshalb kann man sagen, daß in allen Prozessen, die von der
Wissenschaft erforscht werden, ein Element des Zufälligen ist.
Schließt das etwa die Möglichkeit einer wissenschaftlichen
Erkenntnis der Erscheinungen aus? Mitnichten. Das Zufällige ist
etwas Relatives. Es tritt nur im Schnittpunkt notwendiger
Prozesse auf. Das Auftauchen der Europäer in Amerika war für die
Bewohner Mexikos und Perus etwas Zufälliges in dem Sinne, daß es
sie nicht aus der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Länder
ergab. Nicht zufällig war aber die Vorliebe für die
Seeschiffahrt, von der die Westeuropäer am Ausgang des
Mittelalters erfaßt wurden; nicht zufällig war der Umstand, daß
die Kraft der Europäer den Widerstand der Eingeborenen leicht
überwand. Nicht zufällig waren auch die Folgen der Eroberung
Mexikos und Perus durch die Europäer; diese Folgen bildeten
letzten Endes die Resultate zweier Kräfte: der ökonomischen Lage
der eroberten Länder einerseits, und der ökonomischen Lage der
Eroberer anderseits. Diese Kräfte können aber, ebenso wie ihre
Resultate, durchaus Gegenstand einer streng wissenschaftlichen
Untersuchung sein.
Die Zufälligkeiten des Siebenjährigen Krieges übten einen
starken Einfluß auf die weitere Geschichte Preußens aus. Aber
ihr Einfluß wäre ein ganz anderer gewesen, wenn sie Preußen auf
einer anderen Entwicklungsstufe angetroffen hätten. Die Folgen
der Zufälligkeiten waren auch hier durch die Resultante zweier
Kräfte bestimmt: der sozialen und politischen Lage Preußens
einerseits, und der sozialen und politischen Lage der
europäischen Länder, von denen Preußen beeinflußt wurde,
anderseits. Folglich hindert das Zufällige auch hier keineswegs,
die Erscheinungen wissenschaftlich zu erforschen.
Wir wissen nun, daß Persönlichkeiten häufig einen starken
Einfluß auf das Schicksal der Gesellschaft ausüben, daß aber
dieser Einfluß durch ihre innere Verfassung und ihr Verhältnis
zu anderen Gesellschaften bestimmt wird. Dadurch ist aber die
Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nicht
erschöpft. Wir müssen diese Frage noch von einer anderen Seite
anfassen.
Sainte-Beuve war der Ansicht, daß beim Vorhandensein einer
genügenden Anzahl geringfügiger und dunkler Ursachen der von ihm
genannten Art die französische Revolution einen Ausgang hätte
haben können, der dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzt
wäre. Das ist ein großer Irrtum. Welche wunderlichen
Verflechtungen die geringen physiologischen und psychologischen
Ursachen auch hätten eingehen mögen, sie hätten doch keinesfalls
die großen gesellschaftlichen Nöte beseitigt, die die
französische Revolution hervorgerufen haben; und solange diese
Nöte unbefriedigt geblieben wären, wäre die revolutionäre
Bewegung in Frankreich nicht zum Stillstand gekommen. Damit der
Ausgang dieser Bewegung dem tatsächlich eingetretenen hätte
entgegengesetzt sein können, hätte man diese Bedürfnisse durch
andere, ihnen entgegengesetzte, ersetzen müssen; aber das hätten
natürlich keinerlei Kombinationen von geringfügigen Ursachen
zustande bringen können.
Die Ursachen der französischen Revolution lagen in den
Besonderheiten der gesellschaftlichen Beziehungen, die von
Sainte-Beuve vorausgesetzten geringfügigen Ursachen konnten aber
nur in den individuellen Besonderheiten der einzelnen Personen
wurzeln. Die Endursache der gesellschaftlichen Beziehungen liegt
im Stand der Produktivkräfte. Dieser hängt von den individuellen
Besonderheiten der einzelnen Personen höchstens in dem Sinne ab,
daß die einzelnen Personen mehr oder minder begabt sind,
technische Vervollkommnungen, Entdeckungen und Erfindungen zu
machen. Sainte-Beuve hatte nicht diese Besonderheiten im Auge.
Alle möglichen anderen Besonderheiten gewähren aber den
Einzelpersonen keinen unmittelbaren Einfluß auf den Stand der
Produktivkräfte und folglich auch nicht auf die
gesellschaftlichen Beziehungen, durch die sie bedingt werden,
d.h. auf die ökonomischen Beziehungen. Welches auch die
Besonderheiten der gegebenen Persönlichkeit sein mögen, sie kann
die gegebenen ökonomischen Beziehungen nicht beseitigen, sobald
diese dem gegebenen Stand der Produktivkräfte entsprechen. Aber
die individuellen Besonderheiten der Persönlichkeit machen sie
mehr oder weniger tauglich, die gesellschaftlichen Bedürfnisse,
die auf Grund der gegebenen ökonomischen Beziehungen entstehen,
zu befriedigen oder dieser Befriedigung entgegenzuarbeiten. Am
Ausgang des 18. Jahrhunderts war das dringendste
gesellschaftliche Bedürfnis Frankreichs, die veralteten
politischen Einrichtungen durch andere zu ersetzen, die seiner
neuen ökonomischen Struktur mehr entsprachen. Die angesehensten
und nutzbringendsten Politiker jener Zeit waren namentlich
diejenigen, die mehr als alle anderen befähigt waren, in der
Richtung der Befriedigung dieser dringenden Bedürfnisse zu
wirken. Angenommen, solche Männer waren Mirabeau, Robespierre
und Bonaparte. Was wäre geschehen, wenn ein vorzeitiger Tod
Mirabeau nicht von der politischen Arena entfernt hätte? Die
Partei der konstitutionellen Monarchie hätte ihre bedeutende
Macht längere Zeit behalten; ihr Widerstand gegen die
Republikaner wäre daher energischer gewesen. Aber nichts weiter.
Kein Mirabeau konnte damals den Sieg der Republikaner
verhindern. Mirabeaus Kraft beruhte ganz und gar auf der
Sympathie und dem Vertrauen des Volkes zu ihm, das Volk aber
strebte die Republik an, denn der Hof wirkte durch seine
hartnäckige Verteidigung des alten Regimes auf das Volk
aufreizend. Hätte sich das Volk nur davon überzeugt, daß seine
republikanischen Bestrebungen bei Mirabeau keine Sympathie
finden, so hätte es selber die Sympathien für Mirabeau verloren,
und dann hätte der große Redner fast jeden Einfluß eingebüßt und
wäre daraufhin wahrscheinlich als Opfer dieser selben Bewegung
gefallen, die aufzuhalten er vergebens versucht hätte. Ungefähr
dasselbe läßt sich auch von Robespierre sagen. Angenommen, daß
er in seiner Partei eine absolut unersetzbare Kraft darstellte.
Er war aber jedenfalls nicht ihre einzige Kraft. Wäre er von
einem zufällig herabgefallenen Ziegelstein, sagen. wir, im
Januar 1793 erschlagen worden, so hätte irgendein anderer seinen
Platz eingenommen, und hätte dieser andere auch in jeder
Hinsicht tiefer gestanden als er selbst, so hätten die
Ereignisse doch dieselbe Richtung genommen, die sie unter
Robespierre genommen haben. So wären zum Beispiel die
Girondisten auch in diesem Fall sicherlich nicht um die
Niederlage herumgekommen; es ist aber möglich, daß Robespierres
Partei etwas früher die Macht verloren hätte, so daß wir jetzt
nicht von der Reaktion des Thermidor sprechen würden, sondern
von der des Floréal, Prairial oder Messidor. Andere werden
vielleicht sagen, daß Robespierre durch seinen unbeugsamen
Terrorismus den Sturz seiner Partei nicht aufgehalten, sondern
beschleunigt hat. Wir wollen diese Annahme hier nicht näher
untersuchen, sondern sie hinnehmen, als sei sie durchaus
begründet. In diesem Fall wird es notwendig sein vorauszusetzen,
daß der Sturz der Robespierre-Partei nicht im Thermidor erfolgt
wäre, sondern im Laufe des Monats Fructidor, Vendémiaire oder
Brumaire. Kurzum, er wäre vielleicht früher, vielleicht aber
auch später erfolgt, aber er wäre dennoch unbedingt erfolgt,
denn die Volksschicht, auf die sich diese Partei stützte, war
für eine dauerhafte Herrschaft keineswegs vorbereitet. Von
Resultaten, »entgegengesetzt« denen, die unter der energischen
Mitwirkung Robespierres eintraten, könnte jedenfalls nicht die
Rede sein.
Sie hätten auch dann nicht eintreten können, wenn, sagen wir,
eine Kugel Napoleon in der Schlacht bei Arcole niedergestreckt
hätte. Das, was er im italienischen Feldzug und in den anderen
Feldzfigen vollbracht hat, hätten andere Generale vollbracht.
Sie hätten wahrscheinlich nicht solche Talente an den Tag gelegt
wie er und hätten nicht solche glänzenden Siege errungen. Die
französische Republik wäre aber dennoch aus ihren damaligen
Kriegen als Siegerin hervorgegangen, denn ihre Soldaten waren
unvergleichlich besser als alle anderen europäischen Soldaten.
Was den 18. Brumaire und seinen Einfluß auf das innere Leben
Frankreichs betrifft, so wären dem Wesen nach der allgemeine
Gang und Ausgang der Ereignisse wahrscheinlich dieselben gewesen
wie unter Napoleon. Die Republik siechte, durch die Niederlage
vom 9. Thermidor tödlich getroffen, langsam dahin. Das
Direktorium war nicht imstande, die Ordnung wiederherzustellen,
die die Bourgeoisie nunmehr sehnlichst herbeiwünschte, nachdem
sie sich von der Herrschaft der höheren Stände befreit hatte.
Zur Wiederherstellung der Ordnung bedurfte es eines »guten
Degens«, wie sich Sieyès ausdrückte. Anfangs glaubte man, die
Rolle des wohltätigen Degens wurde General Jourdan spielen; als
er aber bei Novi fiel, nannte man Moreau, Macdonald,
Bernadotte.[29]. Von Bonaparte begann man erst später zu reden,
und wäre er ebenso wie Jourdan gefallen, so würde man sich
seiner überhaupt nicht erinnern und hätte irgendeinell anderen
Degen« auf den Schild erhoben. Selbstverständlich mußte ein
Mann, der durch die Ereignisse zum Rang eines Diktators erhöht
wurde, seinerseits unermüdlich zur Macht drängen und alle
anderen, die ihm im Wege standen, energisch beiseiteschieben und
an die Wand drücken. Bonaparte besaß eine eiserne Energie und
verschonte nichts, um seine Ziele zu erreichen. Aber außer ihm
gab es damals recht viele energische, talentierte und ehrgeizige
Egoisten. Der Platz, den es ihm einzunehmen gelang, wäre
sicherlich nicht unbesetzt geblieben. Angenommen, irgendein
anderer General, der diesen Platz erobert hätte, wäre
friedfertiger gewesen als Napoleon; angenommen, er hätte sich
nicht ganz Europa zum Feinde gemacht und wäre daher nicht auf
der Insel St. Helena, sondern in den Tuilerien gestorben. Dann
wären die Bourbonen überhaupt nicht nach Frankreich
zurückgekehrt; für sie wäre ein solcher Ausgang natürlich
»entgegengesetzt« demjenigen, der in Wirklichkeit eingetreten
ist. In bezug auf das innere Leben Frankreichs wäre er aber von
dem wirklichen Ergebnis wenig verschieden. Wäre einmal die
Ordnung durch den »guten Degen« wiederhergestellt und die
Herrschaft der Bourgeoisie durch ihn gesichert worden, so hätte
die Bourgeoisie ihn mitsamt seinen Kasernengewohnheiten und
seiner Despotie bald satt bekommen. Es hätte eine liberale
Bewegung eingesetzt, ähnlich der, die unter der Restauration
stattfand, der Kampf wäre nach und nach entbrannt, und da sich
»gute Degen« nicht durch Nachgiebigkeit auszeichnen, so hätte
der tugendhafte Louis Philippe den Thron seiner zärtlich
geliebten Verwandten vielleicht nicht im Jahre 1830, sondern im
Jahre 1820 oder 1825 bestiegen. Alle derartigen Veränderungen im
Gang der Ereignisse hätten das weitere politische und dadurch
auch das ökonomische Leben Europas teilweise beeinflussen
können. Der endgültige Ausgang der revolutionären Bewegung wäre
aber dennoch dem tatsächlich eingetretenen Ausgang nicht
»entgegengesetzt«. Einflußreiche Persönlichkeiten können dank
den Besonderheiten ihres Verstandes und Charakters das
individuelle Gepräge der Geschehnisse und einige ihrer
besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allgemeine
Richtung nicht ändern, die durch andere Kräfte bestimmt wird.
VII
Außerdem ist noch folgendes zu bemerken. Wenn wir über die
Rolle der großen Persönlichkeiten in der Geschichte reden,
werden wir fast immer das Opfer einer gewissen optischen
Täuschung. Es wäre von Nutzen, den Leser auf diese hinzuweisen.
Als Napoleon in der Rolle des »guten Degens« auftrat, der die
gesellschaftliche Ordnung rettete, hielt er dadurch von dieser
Rolle alle anderen Generale fern, von denen manche diese Rolle
vielleicht ebensogut oder fast ebensogut wie er hätten spielen
können. War einmal das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem
energischen militärischen Herrscher befriedigt, so versperrte
die gesellschaftliche Organisation allen anderen militärischen
Talenten den Weg zum Posten des militärischen Herrschers. Die
Kraft der gesellschaftlichen Organisation war zu einer Kraft
geworden, die das Hervortreten anderer Talente dieser Art nicht
begünstigte. Dadurch entsteht auch die optische Täuschung, von
der wir sprachen. Die persönliche Kraft Napoleons erscheint uns
in äußerst vergrößerter Gestalt, da wir ihr die ganze
gesellschaftliche Kraft zuschreiben, von der sie vorgeschoben
und gestützt wurde. Sie erscheint uns als etwas ganz Exklusives,
denn andere Kräfte, die ihr glichen, sind nicht aus der
Möglichkeit in die Wirklichkeit übergegangen. Und wenn man uns
sagt: was wäre, wenn es keinen Napoleon gegeben hätte, so gerät
unsere Phantasie in Verwirrung, und es scheint uns, daß ohne ihn
die ganze gesellschaftliche Bewegung, auf der seine Kraft und
sein Einfluß beruhen, überhaupt nicht hätte zustande kommen
können.
In der Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit
kommt es unvergleichlich seltener vor, daß der Erfolg der einen
Persönlichkeit dem einer anderen hinderlich wird. Aber auch da
sind wir von der genannten optischen Täuschung nicht frei. Wenn
die gegebene Lage der Gesellschaft ihre geistigen Wortführer vor
bestimmte Aufgaben stellt, nehmen diese die Aufmerksamkeit
hervorragender Köpfe so lange in Anspruch, bis es ihnen gelungen
ist, sie zu lösen. Ist ihnen das einmal gelungen, so richtet
sich ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand. Durch
seine Lösung der Aufgabe lenkt das gegebene Talent A die
Aufmerksamkeit des Talentes B von dieser, bereits gelösten
Aufgabe auf eine andere. Und wenn man Sie fragt: was wäre, wenn
A gestorben wäre, ohne die Aufgabe X gelöst zu haben, so stellen
wir uns vor, daß der Faden der geistigen Entwicklung der
Gesellschaft gerissen wäre. Wir vergessen, daß im Falle des
Todes von A ein B oder C oder D die Lösung der Aufgabe hätte in
Angriff nehmen können, und daß so der Faden der geistigen
Entwicklung, ungeachtet des vorzeitigen Todes von A, nicht
abgerissen wäre.
Dazu, daß jemand, der ein Talent bestimmter Art besitzt, dank
diesem Talent einen starken Einfluß auf den Gang der Ereignisse
gewinne, ist die Erfüllung zweier Bedingungen notwendig. Erstens
muß sein Talent ihn mehr als alle anderen den gesellschaftlichen
Bedürfnissen dieser Epoche entsprechen lassen: hätte Napoleon
anstatt seines militärischen Genies das musikalische Genie
Beethovens besessen, so wäre er natürlich nicht Kaiser geworden.
Zweitens darf die bestehende gesellschaftliche Ordnung nicht der
Persönlichkeit den Weg versperren, die die gegebene, gerade in
der gegebenen Zeit notwendige und nützliche Besonderheit
besitzt. Wenn das alte Regime sich in Frankreich weitere siebzig
Jahre gehalten hätte, wäre dieser selbe Napoleon als wenig
bekannter General oder als Oberst Buonaparte gestorben [30]. Im
Jahre 1789 waren Davout, Desaix, Marmont und Macdonald -
Unterleutnants; Bernadotte - Feldtwebel, Hoche, Marceau,
Lefebvre, Pichegru, Ney, Masséna, Murat, Soult - Unteroffiziere;
Augereau - Fechtmeister; Lannes - Färber; Gouvion-Saint-Cyr -
Schauspieler; Jourdan - Hausierer; Bessières - Friseur; Brune -
Setzer; Joubert und Junot - Studenten der juristischen Fakultät;
Kleber - Architekt; Mortier hatte bis zur Revolution überhaupt
nicht gedient.[31].
Hätte das alte Regime bis auf den heutigen Tag fortbestanden,
dann wäre es jetzt niemandem in den Sinn gekommen, daß am
Ausgang des vorigen Jahrhunderts einige Schauspieler, Setzer,
Friseure, Färber, Juristen, Hausierer und Fechtmeister latente
militärische Talente waren. [32]
Stendhal bemerkt, daß ein Mensch, der gleichzeitig mit Tizian,
d.h. im Jahre 1477, geboren worden wäre, 40 Jahre zusammen mit
Raffael und Leonardo da Vinci hätte leben können, von denen der
erste 1520 und der zweite 1519 gestorben ist, daß er viele Jahre
mit Correggio hätte verbringen können, der 1534 gestorben ist,
und mit Michelangelo, der bis 1563 lebte, daß er höchstens
vierunddreißig Jahre alt gewesen wäre, als Giorgione starb, daß
er mit Tintoretto, Bassano, Veronese, Giulio Romano und Andrea
del Sarto hätte bekannt sein können; daß er mit einem Worte der
Zeitgenosse aller großen Maler gewesen wäre, mit Ausnahme
derjenigen der Bologneser Schule, die ein Jahrhundert später
auftrat [33].Ebenso kann man sagen, daß ein Mensch,
der in demselben Jahre wie Wouwerman geboren wäre, fast alle
großen Maler Hollands persönlich gekannt hätte [34],
und daß ein Altersgenosse Shakespeares gleichzeitig mit einer
ganzen Reihe bedeutender Dramatiker gelebt hätte [35].
Man hat schon längst bemerkt, daß Talente überall und immer
dann auftreten, wo und wann gesellschaftliche Bedingungen
bestehen, die für ihre Entwicklung günstig sind. Das bedeutet,
daß jedes Talent, das sich in der Wirklichkeit offenbart hat,
d.h. jedes Talent, das zur gesellschaftlichen Kraft geworden
ist, ein Resultat der gesellschaftlichen Beziehungen ist. Wenn
dem aber so ist, so ist es begreiflich, warum talentvolle
Menschen, wie gesagt, nur das individuelle Gepräge, nicht aber
die allgemeine Richtung der Geschehnisse ändern können: Sie
selber existieren nur dank dieser Richtung; wäre diese Richtung
nicht da, so hätten sie niemals die Schwelle überschritten, die
die Möglichkeit von der Wirklichkeit trennt.
Es versteht sich von selbst, daß es Talente und Talente gibt.
»Wenn ein neuer Schritt in der Entwicklung der Zivilisation ein
neues Kunstgenre ins Leben ruft«, sagt mit Recht Taine, »dann
tauchen Dutzende von Talenten auf, die den gesellschaftlichen
Gedanken bloß zur Hälfte ausdrücken und sich um ein oder zwei
Genies gruppieren, die ihn in Vollkommenheit zum Ausdruck
bringen.« [36] Hätten irgendwelche mechanische oder
physiologische Ursachen, die mit dem allgemeinen Gang der
sozialpolitischen und geistigen Entwicklung Italiens nicht
zusammenhängen, Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci
schon in ihrer Kindheit getötet, so wäre die italienische Kunst
weniger vollkommen, die allgemeine Richtung ihrer Entwicklung
wäre aber in der Renaissance dieselbe geblieben. Raffael,
Leonardo da Vinci und Michelangelo haben diese Richtung nicht
geschaffen: sie haben sie lediglich am besten zum Ausdruck
gebracht. Allerdings, um den genialen Menschen bildet sich
gewöhnlich eine ganze Schule, wobei seine Schüler bemüht sind,
sich sogar seine kleinsten Kunstgriffe zu eigen zu machen; die
Lücke, die infolge eines vorzeitigen Todes von Raffael,
Michelangelo und Leonardo da Vinci in der italienischen Kunst
der Renaissance entstanden wäre, hätte daher einen starken
Einfluß auf viele nebensächliche Besonderheiten dieser Kunst in
ihrer weiteren Entwicklung ausgeübt. Aber auch diese Geschichte
hätte sich dem Wesen nach nicht geändert, falls nicht aus
irgendwelchen allgemeinen Ursachen irgendeine wesentliche
Aenderung im allgemeinen Gang der geistigen Entwicklung Italiens
eingetreten wäre.
Es ist jedoch bekannt, daß quantitative Unterschiede
schließlich in qualitative umschlagen. Das trifft überall zu;
folglich trifft das auch in der Geschichte zu. Die gegebene
Kunstrichtung kann gänzlich ohne einen einigermaßen bedeutenden
Ausdruck bleiben, wenn eine ungünstige Verkettung von Umständen
einen nach dem anderen einige talentvolle Menschen vernichtet,
die diese Richtung hätten zum Ausdruck bringen können. Der
vorzeitige Untergang dieser Personen wird aber nur in dem Fall
den künstlerischen Ausdruck dieser Richtung hemmen, wenn sie
nicht tief genug ist, um neue Talente hervorzubringen. Da aber
die Tiefe jeder gegebenen Richtung in Literatur und Kunst
bestimmt wird durch ihre Bedeutung für die Klasse oder die
Schicht, deren Geschmacksrichtung sie zum Ausdruck bringt, und
durch die gesellschaftliche Rolle dieser Klasse oder Schicht, so
hängt auch hier letzten Endes alles vom Gang der
gesellschaftlichen Entwicklung und vom Wechselverhältnis der
gesellschaftlichen Kräfte ab.
VIII
Also: Die persönlichen Besonderheiten der führenden Personen
bestimmen das individuelle Gepräge der historischen Ereignisse,
und das Element des Zufälligen, in dem von uns genannten Sinne,
spielt stets eine gewisse Rolle im Verlauf dieser Ereignisse,
deren Richtung in letzter Instanz bestimmt wird durch die
sogenannten allgemeinen Ursachen, d.h. in Wirklichkeit durch die
Entwicklung der Produktivkräfte und die gegenseitigen
Beziehungen der Menschen im gesellschaftlich-ökonomischen Prozeß
der Produktion. Die zufälligen Erscheinungen und die
persönlichen Besonderheiten der berühmten Männer springen
bedeutend mehr ins Auge als die tiefliegenden allgemeinen
Ursachen. Das 18. Jahrhundert machte sich wenig Gedanken über
diese allgemeinen Ursachen und erklärte die Geschichte aus den
bewußten Handlungen und den »Leidenschaften« der historischen
Persönlichkeiten. Die Philosophen dieses Jahrhunderts
behaupteten, daß die Geschichte unter dem Einfluß der
geringfügigsten Ursachen ganz andere Wege hätte einschlagen
können, - so zum Beispiel infolge des Umstands, daß im Kopfe
irgendeines Herrschers irgendein Atom« umherzuirren begonnen
hätte (ein Argument, das wiederholt im Système de la Nature [37]
angeführt wird).
Die Verfechter der neuen Richtung in der historischen
Wissenschaft bemühen sich, den Nachweis zu erbringen, daß die
Geschichte, ungeachtet aller »Atome«, anders als sie verlaufen
ist auch nicht hätte verlaufen können. Aus dem Bestreben heraus,
die Wirkung der allgemeinen Ursachen möglichst gut
hervorzuheben, ließen sie die Bedeutung der persönlichen
Besonderheiten der historischen Persönlichkeiten außer acht.
Nach ihnen sah es so aus, als würden sich die historischen
Geschehnisse nicht um Haaresbreite geändert haben, wenn an
Stelle der einen Personen andere, mehr oder weniger fähige,
getreten wären [38]. Sobald wir aber eine solche Voraussetzung
zulassen, müssen wir auch folgerichtig zugeben, daß das
persönliche Element in der Geschichte absolut keine Bedeutung
hat und daß alles in der Geschichte auf die Wirkung der
allgemeinen Ursachen, der allgemeinen Gesetze der historischen
Bewegung hinausläuft. Das war ein extremer Standpunkt, der für
das in der entgegengesetzten Auffassung steckende Körnchen
Wahrheit überhaupt keinen Platz übrigließ. Aber gerade deshalb
behielt die entgegengesetzte Auffassung eine gewisse
Existenzberechtigung bei. Der Zusammenprall dieser beiden
Auffassungen nahm die Form einer Antinomie an, deren erstes
Glied die allgemeinen Gesetze, das zweite aber die Tätigkeit der
Persönlichkeiten darstellte. Vom zweiten Glied der Antinomie aus
gesehen, war die Geschichte eine einfache Verkettung von
Zufälligkeiten; vom ersten Glied aus gesehen, hatte es den
Anschein, als ob selbst die individuellen Züge der historischen
Geschehnisse durch die Einwirkung der allgemeinen Ursachen
bedingt wären. Wenn aber die individuellen Züge der Ereignisse
durch den Einfluß der allgemeinen Ursachen bedingt sind und von
den persönlichen Eigenschaften der historischen Persönlichkeiten
nicht abhängen, so werden diese Züge durch allgemeine Ursachen
bedingt und können nicht verändert werden, so sehr sich auch
diese Persönlichkeiten verändern mögen. Die Theorie nimmt auf
diese Weise einen fatalistischen Charakter an.
Dieser Umstand war der Aufmerksamkeit ihrer Gegner nicht
entgangen. Sainte-Beuve verglich die historischen Auffassungen
Mignets mit denen Bossuets. Bossuet war der Meinung, daß die
Kraft, durch die sich die historischen Geschehnisse vollziehen,
von oben komme, daß die Geschehnisse als Ausdruck des göttlichen
Willens dienen. Mignet suchte diese Kraft in den menschlichen
Leidenschaften, die in den historischen Geschehnissen mit der
Unerbittlichkeit und Unabwendbarkeit der Naturgewalten zum
Durchbruch kommen. Sie beide betrachteten aber die Geschichte
als Kette solcher Ereignisse, die unter keinen Umständen hätten
anders sein können. Sie beide sind Fatalisten. In dieser
Hinsicht steht der Philosoph dem Geistlichen nahe (le philosophe
se rapproche du prêtre).
Dieser Vorwurf blieb begründet, solange die Lehre von der
Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen den Einfluß
der persönlichen Besonderheiten der historischen hervorragenden
Persönlichkeiten auf die Ereignisse gleich Null setzte. Und
dieser Vorwurf mußte einen um so stärkeren Eindruck machen, als
die Historiker der neuen Schule, ähnlich wie die Historiker und
Philosophen dem 18. Jahrhunderts, die menschliche Natur für die
höchste Instanz hielten, aus der alle allgemeinen Ursachen der
historischen Entwicklung entsprangen und der diese sich
unterordneten. Da die französische Revolution gezeigt hat, daß
die historischen Geschehnisse nicht allein durch die bewußten
Handlungen der Menschen bedingt werden, so haben Mignet, Guizot
und andere Gelehrte derselben Richtung die Wirkung der
Leidenschaften, die sich häufig jeder Kontrolle des Bewußtseins
entledigen, in den Vordergrund geschoben. Wenn aber die
Leidenschaften die letzte und allgemeinste Ursache der
historischen Geschehnisse bilden, warum hat dann Sainte-Beuve
unrecht, wenn er behauptet, daß die französische Revolution
einen dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzten Ausgang hätte
haben können, wenn sich Persönlichkeiten gefunden hätten, die
imstande gewesen wären, dem französischen Volke Leidenschaften
einzuflößen, die denen, von denen es bewegt war, entgegengesetzt
waren? Mignet würde sagen: weil infolge der Eigenschaften der
menschlichen Natur selbst andere Leidenschaften die damaligen
Franzosen nicht hätten in Wallung bringen können. Das wäre in
einem gewissen Sinne wahr. Aber diese Wahrheit hätte einen
starken fatalistischen Beigeschmack, da sie dem Satz gleichkäme,
daß die Geschichte der Menschheit in all ihren Einzelheiten
durch die allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur
vorausbestimmt sei. Der Fatalismus wäre hier gleichsam ein
Ergebnis des Verschwindens des Individuellen im Allgemeinen.
Übrigens ist der Fatalismus auch immer das Resultat eines
solchen Verschwindens. Man sagt: »Wenn alle gesellschaftlichen
Erscheinungen notwendig sind, so kann unsere Tätigkeit überhaupt
keine Bedeutung haben.« Das ist eine unrichtige Formulierung
eines richtigen Gedankens. Man muß sagen: wenn alles vermittels
des Allgemeinen geschieht, so hat das Einzelne, haben darunter
auch meine Bemühungen, keine Bedeutung. Diese Schlußfolgerung
ist richtig, nur wird sie falsch aufgewandt. Sie verliert ihren
Sinn in Anwendung auf die moderne materialistische
Geschichtsauffassung, die auch für das Einzelne Platz übrigläßt.
In Anwendung auf die Auffassungen der französischen Historiker
der Restaurationszeit war sie aber begründet.
Man kann heute die menschliche Natur schon nicht mehr als die
letzte und allgemeinste Ursache der historischen Bewegung
betrachten: wenn die menschliche Natur unveränderlich ist, so
kann sie den höchst veränderlichen Gang der Geschichte nicht
erklären; wenn sie sich aber verändert, so werden offenbar ihre
Veränderungen selbst durch die historische Bewegung bedingt.
Heute muß als letzte und allgemeinste Ursache der
geschichtlichen Bewegung der Menschheit die Entwicklung der
Produktivkräfte anerkannt werden, durch die die
aufeinanderfolgenden Veränderungen in den gesellschaftlichen
Beziehungen der Menschen bedingt werden. Neben dieser
allgemeinen Ursache wirken besondere Ursachen, d.h. die
geschichtliche Situation, in der sich die Entwicklung der
Produktivkräfte bei dem gegebenen Volk vollzieht und die selbst
in letzter Instanz durch die Entwicklung dieser selben Kräfte
bei den anderen Völkern, d.h. durch diese selbe allgemeine
Ursache erzeugt ist.
Schließlich wird der Einfluß der besonderen Ursachen durch
die Wirkung einzelner Ursachen ergänzt, d.h. persönlicher
Besonderheiten der gesellschaftlich tätigen Persönlichkeiten und
anderer »Zufälligkeiten«, dank deren die Geschehnisse endlich
ihr individuelles Gepräge erhalten. Die Einzelursachen können
keine grundlegenden Veränderungen in der Wirkung der allgemeinen
und besonderen Ursachen erzeugen, durch die überdies die
Richtung und die Grenzen des Einflusses der Einzelursachen
bedingt werden. Es ist aber dennoch unzweifelhaft, daß die
Geschichte ein anderes Gepräge hätte, wenn die auf sie wirkenden
Einzelursachen durch andere Ursachen derselben Art ersetzt
worden wären.
Monod und Lamprecht halten bis jetzt am Standpunkt der
menschlichen Natur fest. Lamprecht erklärte kategorisch und
wiederholt, daß die soziale Geistesverfassung seiner Meinung
nach die Grundursache der historischen Erscheinungen bilde. Das
ist ein großer Irrtum. und infolge dieses Irrtums kann der an
sich sehr lobenswerte Wunsch, die ganze Gesamtheit des
gesellschaftlichen Lebens zu berücksichtigen, bloß zu einem
inhaltlosen, wenn auch aufgeblasenen Eklektizismus oder - bei
den konsequenteren Forschern - zu den Kablitzschen Betrachtungen
über die relative Bedeutung des Verstandes und des Gefühls
führen.
Doch kehren wir zu unserem Gegenstand zurück. Ein großer Mann
ist nicht dadurch groß, daß seine persönlichen Besonderheiten
den großen geschichtlichen Geschehnissen ein individuelles
Gepräge verleihen, sondern dadurch, daß er Besonderheiten
besitzt, die ihn am fähigsten machen, den großen
gesellschaftlichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter
dem Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen entstanden
sind. In seinem bekannten Werk über die Helden nennt Carlyle die
großen Männer Beginner. Das ist eine sehr gelungene Bezeichnung.
Der große Mann ist eben ein Beginner, denn er blickt weiter als
die anderen und will stärker als die anderen. Er löst die
wissenschaftlichen Aufgaben, die der vorhergegangene Verlauf der
geistigen Entwicklung der Gesellschaft auf die Tagesordnung
gesetzt hat; er weist die neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse
auf, die durch die vorhergegangene Entwicklung der
gesellschaftlichen Beziehungen erzeugt worden sind; er ergreift
die Initiative zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Er ist ein
Held. Held nicht in dem Sinne etwa, daß er den natürlichen Gang
der Dinge aufhalten oder ändern könnte, sondern in dem Sinne,
daß seine Tätigkeit der bewußte und freie Ausdruck dieses
notwendigen und unbewußten Ganges ist. Darin liegt seine ganze
Bedeutung, darin seine ganze Kraft. Das ist aber eine gewaltige
Bedeutung, eine ungeheure Kraft.
Bismarck meinte, daß wir Geschichte nicht machen können,
sondern abwarten müßten, bis sie gemacht ist. Von wem wird aber
die Geschichte gemacht? Sie wird von dem gesellschaftlichen
Menschen gemacht, der ihr einziger »Faktor« ist. Der
gesellschaftliche Mensch selbst schafft seine, d. h. die
gesellschaftlichen Beziehungen. Wenn er aber in der gegebenen
Zeit gerade diese und nicht andere Beziehungen schafft, so
geschieht das natürlich nicht ohne Ursache; das wird bedingt
durch den Zustand seiner Produktivkräfte. Kein noch so großer
Mann kann der Gesellschaft Beziehungen aufzwingen, die dem
Zustand dieser nicht mehr entsprechen oder noch nicht
entsprechen. In diesem Sinne kann er in der Tat nicht Geschichte
machen, und in diesem Fall würde er vergebens den Zeiger seiner
Uhr vorstellen: er würde den Lauf der Zeit nicht beschleunigen
und auch nicht umkehren. Darin hat Lamprecht vollkommen recht:
selbst auf dem Gipfel seiner Macht hätte Bismarck Deutschland
nicht zur Naturalwirtschaft zurückführen können.
Die gesellschaftlichen Beziehungen haben ihre eigene Logik:
solange die Menschen unter den gegebenen gegenseitigen
Beziehungen leben, werden sie unbedingt gerade so und nicht
anders fühlen, denken und handeln. Auch gegen diese Logik würde
die gesellschaftlich tätige Persönlichkeit vergebens ankämpfen:
der natürliche Gang der Dinge (d.h. diese selbe Logik der
gesellschaftlichen Beziehungen) würde alle seine Bemühungen null
und nichtig machen. Wenn ich aber weiß, in welcher Richtung sich
dank den gegebenen Veränderungen im ökonomischen
Produktionsprozeß der Gesellschaft die gesellschaftlichen
Beziehungen verändern, so weiß ich ebenfalls, in welcher
Richtung sich auch die soziale Geistesverfassung verändern wird,
so habe ich folglich die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Die
soziale Geistesverfassung beeinflussen, heißt die
geschichtlichen Geschehnisse beeinflussen. In gewissem Sinne
kann ich also doch Geschichte machen, und ich brauche nicht zu
warten, bis sie »gemacht ist«.
Monod nimmt an, daß die für die Geschichte wichtigen
Ereignisse und Persönlichkeiten lediglich als Anzeichen und
Symbole der Entwicklung der Einrichtungen und ökonomischen
Bedingungen wichtig seien. Das ist ein richtiger, wenn auch sehr
ungenau ausgedrückter Gedanke, aber gerade weil dieser Gedanke
richtig ist, gibt es keinen Grund, die Tätigkeit der großen
Persönlichkeiten der »langsamen Bewegung« der genannten
Bedingungen und Einrichtungen entgegenzustellen. Die mehr oder
minder langsame Veränderung der ökonomischen Bedingungen« stellt
periodisch die Gesellschaft vor die Notwendigkeit, mehr oder
minder schnell diese ihre Einrichtungen umzugestalten. Diese
Umgestaltung geschieht niemals »von selbst«; sie erfordert stets
die Einmischung der Menschen, denen auf diese Weise große
gesellschaftliche Aufgaben erwachsen. Als große Männer
bezeichnet man eben diejenigen, die mehr als die anderen zu
deren Lösung beitragen. Eine Aufgabe lösen, bedeutet aber nicht,
bloß ein »Symbol« und ein »Anzeichen« dafür zu sein, daß sie
gelöst ist.
Uns deucht, daß Monod seine Gegenüberstellung hauptsächlich
deshalb gemacht hat, weil er sich vorn angenehmen Wörtchen
langsam hat hinreißen lassen. Dieses Wörtchen ist bei vielen
heutigen Evolutionisten beliebt. Psychologisch ist diese
Vorliebe begreiflich: sie entsteht notwendigerweise im
wohlmeinenden Milieu der Mäßigkeit und Akkuratesse ... Logisch
hält sie aber, wie Hegel gezeigt hat, keiner Kritik stand.
Nicht vor den »Beginnern« allein, nicht allein vor den
»großen« Männern liegt ein breites Feld der Tätigkeit offen.
Dieses Feld steht allen offen, die Augen haben, um zu sehen,
Ohren, um zu hören, und ein Herz, um ihre Nächsten zu lieben.
Der Begriff groß ist ein relativer Begriff. Im sittlichen Sinne
ist jeder groß, der, um mit den Evangelisten zu reden, »sein
Leben lässet für seine Freunde«.
Anmerkungen:
1. Kablitz: Pseudonym: Jusow (1848-1893) - russischer
Publizist und Politiker der Volkstümlerrichtung.
2. Gemeint ist N. Michailowski (1842-1904), der bekannte
Ideologe der Volkstümlerrichtung und Vertreter der sogenannten
subjektiven Methode in der Soziologie.
3. Den Franzosen des 17. Jahrhunderts hätte eine solche
Kombination von Materialismus und religiöser Dogmatik mehr
verwundert In England kam sie niemandem sonderbar vor. Priestley
selbst war ein sehr religiöser Mann. Jedes Land hat seine
Sitten.
4. Siehe russ. Uebersetzung seiner Geschichte der französischen
Literatur, Bd.I, S.511.
5. Nach der Lehre Calvins sind bekanntlich alle Handlungen der
Menschen von Gott vorausbestimmt. Praedesinationem vocamur
aeternum Dei decretum, quo apud so constitutum habuit, quid de
unoquoque homine fieri valet. [Als Vorherbestimmung bezeichnen
wir das von Gott von Urewigkeit verordnet, durch das er selbst
bestimmt hat, was mit jedem Menschen geschehen soll. - Der Red.]
(Institutio, lib.III, cap.5.) Dieser Lehre infolge erwählt Gott
einige seiner Diener zur Befreiung der zu Unrecht unterdrückten
Völker. Ein solcher Diener war Moses, der Befreier des Volkes
Israel. Es geht aus allem hervor, daß such Cromwell mich für ein
solches Werkzeug Gottes hielt; er bezeichnete stets,
wahrscheinlich Infolge dieser vollkommen aufrichtigen
Ueberzeugung, seine Handlungen als Frucht des göttlichen
Willens. Alle seine Handlungen hatten für ihn von vorne herein
den Anstrich der Notwendigkeit. Das hat ihn nicht nur nicht
gehindert, von Sieg zu Sieg zu streben, sondern hat seinem
Streben unbeugsam. Kraft verlieben.
6. »C’est comme si l’aiguille aimantée prenait plaisir de se
tourner vers le nord car elle croirait tourner indépendamment de
quelque autre cause, ne s’apercevant pas des mouvements
insensibles da la matière magnétique.« [Es ist, als ob die
Magnetnadel Vergnügen hätte, sich gegen Norden zu bewegen, da
sie glaubt, ihre Bewegung sei von jeder anderen Ursache
unabhängig, und die nicht wahrnehmbaren Bewegungen des
magnetischen Stoffes nicht merkt.« - Der Red.] Leibniz,
Théodicée, Lausanne, MDCCIX, S.598.
7. Bjelinski (1811-1848) - berühmter russischer Kritiker und
Publizist.
8. Anspielung auf die Novelle von Turgenjew, Hamlet des
Schtschigrowschen Landkreises.
9. Wir wollen noch ein Beispiel anführen, das anschaulich zeigt,
wie stark Menschen dieser Kategorie fühlen. Renée, Herzogin von
Ferrara (aus dem Hause Ludwigs XII.), spricht in einem Brief an
ihren Lehrer Calvin über sich selbst: »Nein, ich habe nicht
vergessen, was Ihr mir geschrieben habt: daß David einen
tödlichen Haß gegen die Feinde Gottes hegte; und ich selber
werde niemals anders handeln, denn wüßte ich, daß mein
königlicher Vater, meine königliche Mutter und mein verstorbener
Herr Gemahl (feu monsieur mon man) sowie alle meine Kinder von
Gott verdammt wären, so würde ich mich in tödlichem Haß von
ihnen abwenden und würde wünschen, daß sie in die Hölle fahren«
usw. Welch furchtbare, allzerstörende Energie vermochten die
Menschen zu entwickeln, die von solchen Gefühlen beseelt waren!
Aber gerade diese Menschen leugneten die Freiheit des Willens.
10. »Schüler« nannten sich aus Zensurgründen die russischen
Marxisten in der russischen legalen Literatur am Ausgang des
vorigen Jahrhunderts; die Namen Marx und Engels, die Worte
Marxismus, Sozialismus, Revolution usw. wurden vermieden.
11. »Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie
verschwindet, sondern daß nur Ihre noch innere Identität
manifestiert wird.« Hegel, Wissenschaft der Logik, Nürnberg
1816, Teil II, S.281.
12. Derselbe alte Hegel sagt ausgezeichnet an einer anderen
Stelle: »Die Freiheit ist dies, Nichts zu wollen als sich.«
Werke, Bd.12.
13. Gemeint ist die Zeitschrift Nautschnoje Obosrenje
(»Wissenschaftliche Rundschau«), in der diese Schrift 1898 zum
erstenmal - unter dem Pseudonym A. Kirsanow - erschienen ist.
14. Held der Erzählung Gogols "Der Mantel".
15. Größe, die man vernachlässigen kann.
16. Im Streben zur Synthese hat uns derselbe Herr Karejew
überholt. Leider ist er aber über die Erkenntnis der Wahrheit
nicht hinausgekommen, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht.
17. Es ist schrecklich zu sagen.
18. Ohne die anderen philosophisch-historischen Aufsätze von
Lamprecht zu streifen, hatten wir seinen Artikel Der Ausgang des
geschichtswissenschaftlichen Kampfes Im Auge und werden auch
weiterhin diesen Artikel im Auge haben. (Die Zukunft, Nr.41.
1897.)
19. Siehe Oeuvres complètes de l’abbé de Mably, London 1783, 3.
Band, S.3, 14-22, 24 und 192.
20. Ebenda, S.10.
21. Vgl. den ersten der Briefe über die Geschichte Frankreichs
mit dem Essai sur 1e genre dramatique sérieux im ersten Band der
Oeuvres complètes von Beaumarchais.
22. Oeuvres complètes de Chateaubriand, Paris 1840, VII, S.58.
Wir empfehlen auch die darauffolgende Seite der Aufmerksamkeit
des Lesers; man könnte glauben, Herr Nik. Michailowskl hätte sie
geschrieben.
23. Siehe Considérations sur l’histoire de France, Beilage zu
Recits des temps Mérovingiens, Paris 1840, S.72.
24. In einem Aufsatz, der der 3. Auflage der Geschichte der
französischen Revolution von Mignet gewidmet ist, hat
Sainte-Beuve das Verhältnis dieseu Historikers zu den
Persönlichkeiten folgendermaßen charakterisiert: »A la vue des
vastes et profundes émotions populaires qu’il avait à d’écrire,
au spectacle de l’impuissance et du néant ou tombent les plus
sublimes génies, les vertus les plus saintes, alors que les
masses se soulèvent, il s’est pris de pitié pour les individus,
n’a vu en eux pris isolément que faiblesse et ne leur a reconnu
d’action efficace, que dans leur union avec la multitude.«
[»Angesichts der großen und tiefen Volkswallungen, die er zu
beschreiben hatte, beim Anblick der Ohnmacht und der
Niedrigkeit, der die erhabensten Geister, die heiligsten
Tugenden anheimfallen, sobald die Massen sich erheben, empfand
er Mitleid mit den Einzelpersonen. sah in ihnen - einzeln
genommen - nichts als Schwäche und erkannte ihnen nur in ihrer
Vereinigung mit der Menge wirksame Aktionsfähigkeit zu.« - Der
Übersetzer]
25. Andere behaupten übrigens, daß die Schuld nicht Soubise,
sondern Broglie trifft, der auf seinen Kameraden nicht warten
wollte, da er mit ihm den Ruhm des Sieges nicht teilen wollte.
Für uns Ist das ohne Belang, da die Sache dadurch nicht geändert
wird.
26. Histoire da France, 4. Auflage, Bd.XV, p.520-521.
27. Siehe Mémoires de madame du Haliffet, Paris 1824, S.181.
28. Siehe Lettres de la marquise de Pompadour, London 1772, Bd.I.
29. La vie en France sous le premier Empire, par le vicomte du
Broc, Paris 1895, S.35-36ff.
30. Vielleicht wäre Napoleon nach Rußland gegangen, wohin er
ganz wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution reisen wollte.
Hier hätte er sich wahrscheinlich in den Schlachten gegen die
Türken oder gegen die kaukasischen Bergvölker ausgezeichnet,
aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß dieser arme,
aber begabte Offizier unter günstigen Verhältnissen zum
Beherrscher der Welt hätte werden können.
31. Siehe Histoire de France, par V. Duruy, Paris 1893, Bd.II,
S.524-523,
32. Unter Ludwig XV. vermochte es nur ein einziger Vertreter des
dritten Standes, Chevert, bis zum Generalleutnant zu bringen.
Unter Ludwig XVI. war die militärische Laufbahn Leuten dieses
Standes noch mehr erschwert. Siehe Rambaud, Histoire da la
civilisation française, 6. auflage, Bd.II, S.226.
33. Histoire de la Peinture en Italie, Paris 1899, p.23-25.
34. Im Jahre 1608 wurden Terborch, Brouwer und Rembrandt
geboren; im Jahre 1610 - Adriaen van Ostade und Ferdinand Bol;
1615 - van der Helst und Gerard Dou; 1620 - Wouwerman: 1621 -
Weenix, Everdingen und Pynacker; 1624 - Berghem 1626 - Paul
Potter; 1626 - Jan Steen; 1630 - Ruisdael und Metsu; 1637 - van
der Heyden; 1686 - Hobbema; 1639 - Adriaen van de Velde.
35. »Shakespeare, Beaumont, Fletcher, Jonson, Webster, Massinger,
Ford, Middleton und Heywood, die zu derselben Zeit oder einer
nach dem anderen auftraten, bilden die neue Generation, die
infolge ihrer günstigen Lage auf dem Boden zur glänzenden Blüte
gelangte, der durch die Bemühungen der vorhergehenden Generation
vorbereitet worden war.« Taine, Histoire de la littérature
anglaise, Paris 1868, Bd.I, S.468.
36. Ebenda, S.5.
37. System der Natur - das Hauptwerk des Philosophen Holbach
(1723-1789), der zur Plejade der französischen Aufklärer des 18.
Jahrhunderts gehört.
38. D.h., so sah es aus, sobald sie Betrachtungen über die
Gesetzmäßigkeit der historischen Geschehnisse anzustellen
begannen. Wenn aber einige von ihnen diese Geschehnisse einfach
beschrieben, so maßen sie dem persönlichen Element zuweilen
sogar eine übertriebene Bedeutung bei. Uns aber interessieren
jetzt nicht ihre Schilderungen, sondern ihre Betrachtungen.
Editorische
Anmerkungen
Plechanow, G. W.
Über Die Rolle Der Persönlichkeit in Der Geschichte
Berlin Verlag Neuer Weg 1945
Zuerst veröffentlicht 1898 in der
Zeitschrift Nautschnoje Obosrenije unter dem
Pseudonym A. Kirsanow.
OCR-Scan Red trend.
Lenin kann als
Schüler Plechanows betrachtet werden, denn 1893
zog er nach nach Sankt Petersburg
studierte dort - bereits beeinflußt von
der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie - die
Auffassungen des G. W. Plechanow
über Dialektik und Materialismus. Später
begegnete er ihm persönlich in der
Schweiz und vereinbarte mit ihm die Herausgabe
der ISKRA 1900/01. Nach der Spaltung der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands 1903
unterstützte Plechanow die Menschewiki.
1917 nach Russland zurückgekehrt, wandte er sich gegen Lenins
Kurs einer revolutionären Machtergreifung.
Lenin hat immer die Schriften Plechanows gegen dessen späteren
Reformismus verteidigt.