Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer

01/08

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XII. DIE III. INTERNATIONALE   Zur Kapitelübersicht

1. Entstehung und Ausbreitung der III. Internationale.

Drei Ereignisse geben der Epoche der sozialistischen Bewegung, die mit dem Weltkriegsende anhebt und 1929/30 in eine Weltkrise ausmündet, ihr bestimmendes Gepräge:

1. der sozialistische Aufbau im ersten Staat der siegreichen proletarischen Diktatur;

2. die Abkehr vom revolutionären Sozialismus seitens aller sogenannten sozialdemokratischen Parteien in der kapitalistischen Welt;

3. die Begründung der Kommunistischen Internationale als des neuen Kampfbundes aller wahrhaft klassenbewußten revolutionären Proletarier der Welt.

Ist der Sieg der proletarischen Revolution in Rußland und die Behauptung dieses Sieges das größte Ereignis der Weltgeschichte, so erscheint die Spaltung der Arbeiterbewegung in der Nachkriegsperiode um so verhängnisvoller, weil sich die bürgerlichen Parteien inzwischen überall einander genähert haben — aus Angst vor der proletarischen Revolution. Die unaufhaltsame Korrumpierung und Verbürgerlichung einer Oberschicht der Arbeiter und Angestellten und ihre Verschmelzung mit dem kapitalergebenen Teil des Kleinbürgertums ist aber der letzte Trumpf, den der Kapitalismus gegen den Sozialismus ausspielt. Das zuerst klar erkannt zu haben, ist ein Hauptverdienst des Leninismus. Gegenüber solcher klassenverräterischen Oberschicht, die den raschen Fortgang der proletarischen Weltrevolution fürs erste freilich verzögert, wächst ständig die Lazarusschicht der verelendenden Massen der Werktätigen in Stadt und Land, häufen sich die Widersprüche des kapitalistischen Systems, die schließlich auch die Errungenschaften jener Oberschicht in Frage stellen.

Die in der II. Internationale vereinigten alten sozialdemokratischen Parteien, in denen jene Oberschicht tonangebend ist, mußten sich entsprechend dieser ökonomischen Differenzierung auch politisch umwandeln zu Patrioten, zu reformistischen Koalitionspolitikern und Regierungssozialisten, zu Anbetern der bürgerlichen Demokratie, und wenn nötig, zu Helfershelfern eines staatserhaltenden Faschismus. Der Weltkrieg hat den in seinen Strudel gezogenen Völkern nicht nur 20 Millionen Tote, 200 Millionen Verletzte und 25 Milliarden Sachschäden gekostet, er kehrte auch in der Arbeiterbewegung das Unterste zu oberst, hat dem versteckten Reformismus, wie er seit den neunziger Jahren heranreifte, zur offenen Herrschaft verhelfen und mit seiner Hilfe den bürgerlichen Kapitalistenstaat zum „demokratischen Volksstaat" umgelogen.

Angesichts solchen Zusammenbruchs der II. Internationale wurde im März 1919 die Kommunistische Internationale in Moskau begründet als die Weltpartei des revolutionär entschlossenen marxistisch-leninistisch geführten Proletariats. Das Verhältnis der III. Internationale zu ihren Vorgängern kennzeichnet Lenin — im April 1919 — mit folgenden Worten: „Die I. Internationale legte das Fundament des Kampfes des internationalen Proletariats für den Sozialismus. Die II. Internationale war die Aera der Vorbereitung des Bodens für eine weite Massenausbreitung der Bewegung in einer Reihe von Ländern. Die 111. Internationale übernahm die Früchte der Arbeit der II., beseitigte ihre opportunistischen, sozialchauvinistischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Auswüchse und begann die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats."

Hatte jedoch die II. Internationale — als sie noch revolutionäre Bewegung war —nur zu kämpfen gegen die Kapitalistenklasse der Welt, so hat die III. Internationale neben diesem wahrhaftig nicht schwächer gewordenen Gegner noch als giftigsten und grausamsten Feind eben die Parteien der II. Internationale vor sich. Diese müssen ja den Beweis für ihren selbst dem Bürgertum manchmal kaum glaubhaft erscheinenden totalen Sinneswandel immer von neuem erbringen durch hemmungslose und haßerfüllte Bekämpfung der Kommunisten und der Sowjetunion. So vollzieht sich seit dem Weltkrieg der proletarische Klassenkampf in einer durch Brutalität und Heuchelei vergifteten Atmosphäre.

Die Kommunistische Internationale wuchs in der akut-revolutionären Krise der ersten Jahre nach Weltkriegsende rasch empor. Auf ihrem I.. Weltkongreß vereinigten sich die Vertreter aus 19 Ländern, 1920 waren 37 Länder, 1921 52 Länder vertreten. Auf dem 2. Kongreß mußte man bereits die „21 Aufnahmebedingungen" aufstellen, um den Zudrang unsicherer zentristischer Elemente zu verhindern. Andererseits hatte man sich f reilich auch noch mit ultralinken Kindereien herumzuschlagen. Der Kongreß betonte deswegen nachdrücklichst die Notwendigkeit revolutionärer Arbeit in den bürgerlichen Parlamenten und den reformistischen Gewerkschaften. 1921 zeigte sich deutlich, daß nicht mehr auf ein rasches Weitertreiben der Weltrevolution zu rechnen war. Gegenüber der siegreichen Offensive der Weltbourgeoisie, die mit der teilweisen Stabilisierung des Kapitalismus verknüpft war, — Niederlagen der Berliner Januarkämpfe 1919, der bayrischen Räterepublik Mai 1919, der ungarischen Räterepublik August 1919, der Roten Armee des Ruhrproletariats März 1920, der Roten Armee Sowjetrußlands gegenüber Polen 1920, der mitteldeutschen Märzaktion 1921 — mußte die Kommunistische Internationale jetzt eine Verteidigungsstellung beziehen und zum Sammeln blasen. So entstand die zentrale Losung: Heran an die Massen! „Um zu siegen, und die Macht zu erhalten, braucht man nicht nur die Mehrheit der Arbeiterklasse, sondern auch die Mehrheit der ausgebeuteten und arbeitenden Landbevölkerung" (Lenins Rede auf dem 3. Kongreß).

Die Schaffung einer „Einheitsfront" des Proletariats im Kampf gegen das Kapital — einer Einheitsfront von unten und nicht etwa nur Spitzenverhandlungen — wurde jetzt die dringendste Aufgabe der kommunistischen Bewegung in allen Ländern. Dieses Problem beschäftigte seit dem 3. Kongreß jeden Weltkongreß von neuem (1922, 1924 und 1928). Die Verankerung der Parteien in den Betrieben (Betriebszellen), die Fraktionsarbeit in den Massenorganisationen und die Unterstützung überparteilicher Organisationen zur Heranziehung Sympathisierender — alles das sind ja Wege zur Einheitsfront.

Im Jahre 1923 trafen zwei schwere Schläge die Komintern; die Niederwerfung des bewaffneten Auf Standes in Bulgarien und die kampflose Oktoberniederlage in Deutschland. Beide Male waren große Fehler in der Taktik der Einheitsfront gemacht worden. Das führte dann auf dem 5. Weltkongreß 1924 zu einer eingehenden kritischen Diskussion und zu der Losung der „Bolschewisierung" der Parteien, d. h. zur bewußten Umstellung des Parteitypus auf die Erfordernisse, die sich aus der Aufgabe der Massengewinnung und der organisatorischen Vorbereitung der proletarischen Revolution ergeben.

Der 6. Kongreß (1928), an dem 515 Vertreter aus 59 Ländern teilnahmen, hat der Kommunistischen Internationale ihr offizielles Programm gegeben. Eine lange Vorarbeit war vorausgegangen. Schon dem 4. und 5. Kongreß hatten Entwürfe vorgelegen. Das endgültige Programm (beschlossen am i.September 1928) ist ein Büchlein von fast 100 Seiten, das alle Aufgabenkreise der Strategie und Taktik der modernen kommunistischen Bewegung darstellt und die Notwendigkeit des Kommunismus aus den Widersprüchen des Imperialismus heraus entwickelt. Eingehend ist „die Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und die Diktatur des Proletariats" behandelt und am Beispiel der Sowjetunion veranschaulicht.

Auf zwei Entwicklungstendenzen konzentriert sich das Augenmerk der kommunistischen Bewegung der Gegenwart: auf das immer bedrohlichere Herannahen eines neuen Weltkrieges (und zwar in erster Linie gegen die Sowjetunion), und auf das immer entschiedenere offene oder versteckte Eintreten der II. Internationale für alle Unterdrückungs- und Ausbeutungsgelüste des Weltkapitals, die Herausbildung eines „Sozialfaschismus".

Diesen Erscheinungen gegenüber macht sich aber im Proletariat ein immer stärkerer 'Radikalisierungsprozeß bemerkbar. Daß dieser bewußt in die kommunistische Gesamtorientierung ausmündet, und immer mehr Massen aus politischer Indifferenz und gegnerischer Verblendung herausgerissen und zum revolutionären Kampf mobilisiert werden, das ist die Aufgabe der Kommunistischen Internationale.

2. Die Entwicklung in den kommunistischen Landesparteien.

Die kommunistische Bewegung in den alten kapitalistischen Großstaaten weist nicht die zahlenmäßige Ausbreitung auf, wie sie die sozialdemokratischen Parteien dieser Länder vor dem Weltkrieg erreichen konnten. Das hat seinen natürlichen Grund darin, daß die Anforderungen, die die Kommunistische Partei an ihre Mitglieder stellt, unendlich viel größer sind. Die systematische Arbeit in den Betriebszellen, den Gewerkschaften, den Massenorganisationen, die Bewältigung der verschiedenen Ressorts zur Revolutionierung der Massen stellt eine solche Unmenge von Aufgaben, daß fast jedes Mitglied eine bestimmte Funktion auf sich nehmen muß. Daher ist es unmöglich, daß die Kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands mit Riesenziffern prunken. Die Kommunistische Partei ist als der aufgeklärteste und entschlossenste Teil des Proletariats seine Avantgarde, und die Avantgarde ist immer kleiner als die Armee.

Der andere Grund für das äußerlich langsamere Wachstum ist der weiße Terror, die ausgedehnte Verfolgung durch den Klassengegner. Der zumeist nur halblegale, oft völlig illegale Zustand der Kommunistischen Parteien erschwert den Massenzuwachs.

Bei weitem größer ist der ideologische Einfluß der Partei, wie er sich bei Wahlen, wirtschaftlichen Kämpfen, Massendemonstrationen und politischen Aktionen zeigt. Um die Kommunistische Partei schart sich die gesamte radikale Opposition in der heutigen Gesellschaft. Nachdem die Sozialdemokratie jenseits der Barrikade steht, gibt es keinen Sozialismus mehr außerhalb der III. Internationale. Heute ist der Kommunismus der Sachwalter aller Bedrängten und Beladenen. Die überaus schweren Aufgaben, die somit vor den Kommunistischen Parteien stehen, können nur gelöst werden, wenn sich gleichzeitig in ihnen ein bolschewistischer Erziehungs- und dauernder Verjüngungsprozeß vollzieht. Was dem Außenstehenden häufig nur als persönlicher Zwist erscheinen mag, ist historisch gesehen, der Prozeß einer immer stärkeren Disziplinierung und politischen Konzentrierung der revolutionären Kampfpartei.

Die bisherige Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands (1919—1931) hat eine ganze Reihe von Wachstumskrisen aufzuweisen. Schon auf dem Heidelberger Parteitag 1919 wurde die anarchi-stelnde Gruppe der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAP.) ausgesondert. Dafür schlössen sich 1920 die Mehrzahl der „Unabhängigen" an die KPD. an. Die Folgen der Märzaktion (1921) lösten wiederum eine Garnitur kampfmüder Offiziere unter Levis Führung von der Partei. Die Oktoberniederlage (1923) — die ungenügende Mobilisierung der Massen, die schwächliche Haltung gegenüber der linken SPD. — mußte die Brandler-Thalheimer-Zentrale mit ihrer Beseitigung bezahlen. Aber die folgende ultralinke Führung (Maslow-Fischer) verstand nicht, sich mit den Massen zu verbinden. Die Partei geriet in die Gefahr einer sektenhaften Isolierung. So wurde 1925 eine neue Leitung notwendig. Zwischen Unken und rechten Abweichungen mußte sich die Kommunistische Partei in schwerer Arbeit hindurchringen. Nicht ohne Fehler und Rückschläge, aber doch des großen Zieles immer ehrlich bewußt!

Der Mitgliederstand betrug 1927 in Deutschland rund 125000, in der Tschechoslowakei 150000, in Frankreich 52000, in Schweden 15000, in Amerika 12000, in England 9000 usw., doch darf dabei nicht vergessen werden, daß in all diesen Ländern die Kommunistischen Parteien Rahmenparteien darstellen, die im Augenblick revolutionärer Aktion sehr viel größere Massen mobilisieren, als vorher in ihnen als Mitglieder registriert waren.

Die sich seit 1930 stark verbreiternde und vertiefende Weltkrise beschleunigt den Radikalisierungsprozeß des Proletariats (die Reichstagswahl in Deutschland am 14. Sept. 1930 ergab 4,59 Millionen kommunistische Stimmen gegenüber 3,26 Millionen im Mai 1928). Freilich vermochte der Faschismus (Bebel nannte schon in den 90 er Jahren den Antisemitismus einen „Sozialismus der dummen Kerls") einen Teil der Werktätigen zeitweilig abzufangen, doch wächst die Zersetzung in den Reihen der Faschisten wie auch in der SPD. rasch.

3. Der Kommunismus in den Kolonialgebieten.

Die kommunistische Bewegung der Gegenwart zeichnet sich aus durch eine gewaltige Expansion in die außereuropäischen Länder. Nicht nur der Kapitalismus, auch der Kommunismus denkt und handelt „in Kontinenten". Während der letzte Kongreß der II. Internationale (Brüssel 1927) fast überhaupt keine koloniale Vertretung zeigte, waren auf dem 6. Kongreß der Kommunistischen Internationale (Moskau 1928) 20%  aller Delegierten Vertreter aus nicht europäischen Ländern, 74 Delegierte erschienen aus kolonialen und halbkolonialen Gebieten.

In dem Maße, wie der Imperialismus die Welt durchkapitalisiert hat, mußte auch der Ruf des Kommunistischen Manifests „Proletarier aller Länder vereinigt euch l" an die unterdrückten und verelendeten Eingeborenen aller imperialistischen Ausbeutungsgebiete ergehen. Lenin hat 1920 auf dem 2. Weltkongreß darauf hingewiesen, daß 70 o/0 der Bevölkerung der Erde zu den unterdrückten Nationen gehören. Die nationalistisch-revolutionären Bewegungen in diesen zurückgebliebenen Ländern, auch wenn ihnen fürs erste noch bürgerlich-demokratische Ziele vorschweben, sind für die Kommunistische Internationale von größter Bedeutung. Die kommunistische Bewegung bucht daher alle kolonialen Aufstandsbewegungen und revolutionären Aktionen mit Recht als Etappen in der proletarischen Weltrevolution: so die antiimperialistischen Gärungen in Indien (1919—1922), die Aufstände in Marokko und Syrien (1925), in Indonesien (1926), die große chinesische Revolution, die 1925 nach der Erschießung von Arbeitern in Schanghai einsetzte, und die Massenstreikbewegung Indiens (seit 1927). Über die Stärke des kommunistischen Einflusses in diesen nationalistischen Bewegungen gibt uns China folgendes Bild: Die Kommunistische Partei Chinas zählte 1925 noch nicht 1000 Mitglieder. Dagegen im Mai 1927 58000 Mitglieder, mit starkem Einfluß auf 2,8 Millionen organisierter Arbeiter und zeitweilig 9,7 Millionen Bauernbündler. Gewiß schwanken diese Zahlen erheblich, aber es ist ersichtlich, daß ungeheure Massenkräfte sich hier auswirken. Und wenn die bürgerlich-konterrevolutionären Elemente zeitweilig auch noch triumphierten (Niederlage des Kantoner Auf Standes Dezember 1927), so glimmen doch die revolutionären Feuer unter der Oberfläche weiter und flackern in neuen Bränden immer gewaltiger empor (Indien, China usw.). Der Umfang der kommunistischen Bewegung in Indonesien ist daraus ersichtlich, daß nach der Niederschlagung des Aufstandes nicht weniger als 10000 Kommunisten und Sympathisierende dort verhaftet worden sind.

Der Weltimperialismus kann endgültig nur zu Fall gebracht werden durch den siegreichen Klassenkampf des Proletariats im Inneren der kapitalistischen Großstaaten in Verbindung mit den Befreiungskämpfen der unterjochten Völker an der Peripherie des Imperialismus. So fordert denn auch das kommunistische Programm: „Engste brüderliche Zusammenarbeit des Proletariats der unterdrückenden Nationen mit den werktätigen Massen der unterdrückten Völker."

4. Das kommunistische Endziel.

Der Sozialismus als Bezeichnung einer Gesellschaftsordnung des Wohlstands für alle, ohne Ausbeutung und Unterdrückung, war durch viele Jahrhunderte hindurch ein nebelhaftes Traumbild einzelner Weniger, die sich aus der Klassengesellschaft mit all ihrem Jammer und ihren menschenunwürdigen Zuständen hinaussehnten. Er wurde im 19. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Überzeugung und zur politischen Zielsetzung einer Klasse, als durch Marx die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus aufgedeckt worden waren. Er beginnt Wirklichkeit zu werden, seitdem in Rußland 1917 die Arbeiter und armen Bauern durch die Aufrichtung der Sowjetmacht das Fundament für den sozialistischen Auf bau gelegt haben.

Wir — die Menschengeneration am Beginn der größten historischen Zeitenwende — blicken auf den Sozialismus mit anderen Augen, als die Sozialdemokraten der Vorkriegszeit. Von dem Werden einer sozialistischen Gesellschaft hatte man damals doch nur sehr vage Vorstellungen. Die Dekretierung des Sozialismus erschien so einfach wie die Übernahme des bürgerlichen Staates durch eine parlamentarische Mehrheit. Für die Großbetriebs-Konzentration sorgte ja bereits die kapitalistische Entwicklung selbst, also brauchte nur noch das statistische Büro des Volksstaates die Unterlagen für die sozialistische Produktion zu berechnen l Aber die Erfahrungen der letzten 12 Jahre haben uns gezeigt, daß das eine Utopie war, daß der Weg zum Sozialismus ein viel schwierigerer und langwierigerer ist. Die bürgerliche Demokratie ist nicht die Einlaßpforte zum Sozialismus. Es hat noch nie eine herrschende Klasse kampflos auf ihre Machtstellung verzichtet. Um eine gewaltsame Machtergreifung kommt also das Proletariat nicht herum.

Doch die politische Revolution schafft nur die Unterlage für die ökonomische und kulturelle Sozialisierung. Die ökonomische Revolution selbst vollzieht sich notwendigerweise in Etappen. Neben die sofortige Sozialisierung der wirtschaftlichen „Kommandohöhen" (Großindustrie, Banken, Transportwesen, Außenhandel) tritt die nur schrittweise mögliche Liquidierung des Kleinbetriebs in Stadt und Land durch sozialistische Genossenschaften und Kollektivisierung. Insoweit behalten auch die Marktbeziehungen, das Geld, der Lohn — neben weitestgehender sozialer Sicherung der werktätigen Bevölkerung — noch eine Weile ihre freilich sehr eingeschränkte und modifizierte Geltung. Diese „Neue ökonomische Politik" — wie sie in Rußland genannt wird — wird überall im Aufbau des Sozialismus eine Zwischenphase bilden müssen. Doch wird ihr Umfang und ihre Dauer ganz abhängen von dem industriellen Höhengrad, den das kapitalistische Land bis dahin erreicht hat, und von dem Fortschritt, den die proletarische Weltrevolution gemacht haben wird.

Ist so die ökonomische Sozialisierung ein Werk von Jahren, so erst recht die kulturelle Revolution. Die Generation, die — korrumpiert durch den Kapitalismus — in der Arbeit nur eine Last und im persönlichen Vorteil, in der privaten Gewinnaufspeicherung ihr einziges Ziel sieht, muß abgelöst werden durch eine andere Generation, die zu kollektivem Denken, Fühlen und Handeln erzogen ist. Wenn diese Generation in der Übergangsperiode nach der Machteroberung systematisch herangebildet und die Arbeitsproduktivität entsprechend gesteigert ist, dann wird auch die Verteilung des Ertrags der kollektiven Arbeit nicht mehr nach dem Prinzip: „Jedem nach seiner Leistung" vor sich gehen müssen, sondern im vollendeten Kommunismus wird als Verteilungsprinzip der Grundsatz: „Jedem nach seinen Bedürfnissen" uneingeschränkt walten können. Marx hat auf diese Stufenfolge des Kommunismus schon 1875 hingewiesen (s. Marx-Engels Programmkritiken S. 27).

Wird so die Umwandlung in den Kommunismus kein kurzer und kein schmerzloser Prozeß sein, so ist er andererseits doch eine unerbittliche Notwendigkeit, ist die einzige Rettung der Menschheit vor dem Chaos, in das der Kapitalismus sie unweigerlich hineintreibt. Die technische Entwicklung führt, wie Marx bereits 1846 prophezeit hat, zu einem Punkt, wo „Produktivkräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktivkräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte". Einen Vorgeschmack davon gab uns der Weltkrieg. Neue weit furchtbarere Krisen- und Kriegskatastrophen drohen. Die gegenwärtige Weltkrise mit ihren rund 30 Millionen Arbeitslosen (1931), ihrer wahnsinnigen Überproduktion, ihrer künstlichen Vernichtung wertvoller Massengüter, ihrem ungeheuerlichen Zoll- und Monopolwucher, kurz ihrer unaufhaltsamen absoluten Verelendung der Massen, stellt der Menschheit nur die Wahl: entweder Rettung in den Kommunismus oder Untergang in der Barbarei.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 629-638

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html

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