Treten misshandelte
Gefängnisinsassen in den Hungerstreik, ist das ein letztes
Mittel, die Gesellschaft zu treffen: Sie drohen mit dem Tod, zu
dem sie ausdrücklich nicht verurteilt sind. Eingewiesen in ein
Pflegeheim, will die Greisin fortan nicht mehr essen, weil sie
sich aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen fühlt. Nach
drei Wochen stirbt sie. Ottilie in Goethes Roman »Die
Wahlverwandtschaften« verweigert jede Nahrungsaufnahme, weil sie
einer Liebe entsagen muß, die ihr Leben ausmacht. Sie stirbt.
Das sind existentielle Ausnahmesituationen, die keiner Erklärung
oder Rechtfertigung bedürfen.
Anders der Vorschlag des Politikwissenschaftlers Peter Grottian
und einiger Arbeitsloseninitiativen, die Kampfzone der
Arbeitslosen um ein öffentliches Protesthungern zu erweitern, um
so die Erfolgsaussichten des Kampfes um bessere
Lebensbedingungen der Arbeitslosen generell zu erhöhen. Die
Hungernden sollen ausgestellt werden. Aber ist das eigentlich
noch sozialer Kampf? Appelliert man mit der Vorführung
Hilfebedürftiger nicht vielmehr an Instinkte?
Und dann der Schmerz der Hungernden! In seinem Gedicht »Fest des
Hungers« erkennt der Dichter der Pariser Kommune Jean Arthur
Rimbaud nur einen solchen Hunger an, der Lust bereitet, und er,
ein Revolutionär der Lust, führt uns vor, wie man das macht.
Von diesem Schmerz weiß auch Franz Kafka in seiner Erzählung
»Ein Hungerkünstler« zu berichten, von einem Underdog, der
»meist in trüber Laune« und »Traurigkeit« dahinlebte. Aber als
an den sozialen Kämpfen Geschulte erfahren wir durch diesen
Bericht auch, wo das Kampfhungern von Arbeitslosen
wahrscheinlich enden wird. Kafka: »Man gewöhnte sich an die
Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen
Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung
war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern,
als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr
retten, man ging an ihm vorüber.«
Der Berufshungernde, so Kafka, wurde durch dieses öffentliche
Nichts um seinen Lohn, um Aufmerksamkeit und Bewunderung,
betrogen. Die Pointe der Erzählung folgt dann in der Sterbeszene
des gealterten Berufshungernden: Einem seiner Aufseher vertraut
er an, daß er nur hungerte, weil er nicht die Speise finden
konnte, die ihm schmeckt. »Hätte ich sie
gefunden«, gesteht er kurz vor dem Ableben, »glaube mir, ich
hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und
alle.«
Die Arbeitslosen werden nach einigen Jahren Kampfhungern
vermutlich Ähnliches sagen: »Wir haben gehungert, weil wir nicht
die politische Kampfform finden konnten, die uns schmeckt, mit
der wir lustvoll und in Erwartung des sicheren Erfolgs für die
Verbesserung unserer Daseins hätten kämpfen können.« Und die
Pointe für die Bourgeoisie? »Was? Jahrelanges freiwilliges
Hungern von Arbeitslosen? Das ist ein verdammt nützliches
Experiment, das uns helfen wird, endlich präzise zu bestimmen,
wie wir die Kosten für die Speisung der Millionen Arbeitslosen
veranschlagen müssen!«
Editorische Anmerkungen
Der Artikel wurde uns vom Autor am 24.1.07 zur
Veröffentlichung gegeben.