Was, wenn die Arbeitslosigkeit bleibt?
Kurzer feuilletonistischer Streifzug durch das Elend der Arbeitslosigkeit und Höhen-, wie Sturzflüge des Existenzgeldes

von Gerhard Hanloser
01/07

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Vorbemerkung: Der Text versucht die politischen Implikationen einer Grundsicherungsforderung einzukreisen und zu diskutieren. Er kann nicht in den Chor der leidenschaftlichen Verfechter oder den der Tenöre der schäumenden Klagegesänge übers Grundeinkommen einstimmen. Dabei spielt  eine große Rolle, dass auf der einen Seiten Gewerkschaften und Traditionssozialisten die Grundsicherungsforderung mit Argumenten ablehnen, die kaum als emanzipatorisch gelten dürften – weil sie nachwievor an der Vollbeschäftigungsutopie kleben, auf der anderen Seite aber voller Naivität eine Geldforderung mal mit realpolitischem Dreh mal mit utopistischen Ansprüchen erhoben wird, die zum einen wie ein trojanisches Pferd einer weiteren Deregulierung des Sozialstaats wirken könnte, zum anderen bloßen Schein-Radikalismus vertritt.

Dass der Kapitalismus den Reichtum der Nationen schafft, galt nach Adam Smith als sicher. Humanistisch gestimmt wollte Smith, dass der Reichtum bis hinunter ins Volk vordringen – was die unsichtbare Hand nicht alles so regelt! Der Wirtschaftswissenschaftler und Klassiker der Nationalökonomie David Ricardo war vielleicht etwas skeptischer, nach ihm schafft der Kapitalismus nicht nur Reichtum und Wohlstand, sondern auch ”redundant population” - und das als feste Größe. In Hegels Rechtsphilosophie finden sich schon die ersten Kritiken, dass die bürgerliche Gesellschaft bei dem Übermaß des Reichtums nicht in der Lage ist, “dem Übermaß der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern”. Thomas Malthus Gedanken zur Zeit der Französischen Revolution waren brutal wie der sich durchsetzende Kapitalismus selbst, angesichts der Überbevölkerung erklärte er die Leute selbst, nicht etwa Produktions- und Verteilungsfragen zum Problem. Direkter Antipode zu diesen Vorstellungen waren Frühsozialisten wie Graccus Babeuf. Er hielt fest: ”Das Naturrecht des Menschen ist nichts anderes als sein Recht zu leben.” Für Karl Marx sollte man sich nicht auf solche Sachen wie ein ”Naturrecht” verlassen. Dem Fortschrittsoptimismus Mitte des 19. Jahrhunderts folgend verschwand für den Dissidenten und Kritiker des Liberalismus dieser Pöbel dank der großen Industrie, zurück bleibt lediglich die Klasse der Proletarier - die wenigen Lumpen, die leider dem Anarchismus zuneigten, sollte Bakunin auflesen... Im ersten Band des Kapitals behauptete Marx, dass Unterbeschäftigung eine zyklische Erscheinung ist. Die Zwänge der Kapitalakkumulation machen zwar - so das Herzstück seiner Krisentheorie -  immer wieder Arbeiter überflüssig, aber wenn Marx von einer ”industriellen Reservearmee” spricht, so hat es den Anschein, dass die überflüssige Bevölkerung stets vom Produktionsprozess absorbiert werden kann. Hätte man gedacht, das selbst Marx den Kapitalismus als zu gemütlich darstellte?

Vielleicht affiziert nicht nur die Existenz einer Mittelklasse Marx Revolutionstheorie, sondern besonders die Existenz einer Klasse in und jenseits der Klasse, die abgeschnitten von der Produktion ist und so auch jenseits der Macht steht. ”Die Frage ist, ob diese Überflüssigen eine Negation des sie außen vor lassenden Systems sein können. Sie sind jedenfalls - mögen sie auch noch im Zustand der Passivität, der Resignation und der ohnmächtigen Geduld verharren weder integriert noch integrierbar. Sie stehen vor den Toren des ökonomisch gesicherten und gesellschaftlich verteilten Wohlstands. Der Weltmarkt braucht sie höchstens als Ressourcenlieferanten, aber nicht als Subjekte gesellschaftlicher und ökonomischer Tätigkeiten”, meine Johannes Agnoli Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Eine düstere Perspektive. Lasst  uns Düsternis einfach wegdenken!, meinen die fröhlich und glücklich gestimmten Post-Operaisten Antonio Negri und Michael Hardt heutzutage. Es gibt in ihrem Konzept der mächtigen Multitude nämlich nicht nur die flott-immateriell Arbeitenden der Werb- und IT-Branche, sondern auch ”die Armen”, die allerdings gar nicht so arm sind. Und diesen wird von den beiden Theoretikern eine Menge aufgebürdet: ”Die Armen verkörpern die ontologische Bedingung nicht nur des Widerstands, sondern zugleich der Produktion des Lebens selbst.” Auch das noch! Da haben sie nicht nur kein Geld, sondern müssen auch noch eine ontologische Bedingung darstellen – wahrscheinlich auch noch unbezahlt! Denn die Armen wären ungemein produktiv, so die beiden, und man fühlt sich erinnert an die merkwürdigen Debatten, wo alle möglichen Leute ihr Tun als produktiv definieren wollten. Warum? Zu welchem Zweck? Einer der vernünftigsten Gründe lag in der Lohn-für-Hausarbeit-Kampagne von radikalen Feministinnen: Produktiv soll die Hausfrauenarbeit sein, weil frau dann immerhin Lohn für sie bekommen kann. Das ist evident und gut, wenn auch ein klein wenig im bürgerlichen Rahmen verbleibend. Auch die Armen und Arbeitslosen sollen Geld bekommen, sagen Negri und Hardt – ein Bürgergeld... Auch das verbleibt ein klein wenig im bürgerlichen Rahmen, aber ein Manifest fürs 21. Jahrhundert darf das wohl, immerhin verblieb selbst das alte Manifest  in diesem Rahmen – man sehe sich nur mal wieder diesen emphatischen Fortschrittsbegriff darin an.

Wenden wir uns also gleich wirklichen bewegten und bewegenden Fragen zu. Wer soll das alles bezahlen, fragt der aufrichtige Staatsbürger? Der Staat, also WIR? Warum soll er das Bezahlen, das kapitalgeborende Monster namens Staat, fragt der aufrichtige Linksradikale. Ja, in der Tat - warum sollte das passieren?

Es passiert nur, so weiss jeder halbwegs unideologische Politologe, wenn etwas passiert, also rebelliert wird. Der sozialdemokratische Vordenker Peter Glotz stellte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Mai 2005 die naheliegenden Fragen: was, wenn die strukturelle Arbeitslosigkeit bleibt? Was würde passieren, wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, alles kurz und klein schlagen? Ja, richtig gefragt, Herr Glotz, was würde dann wohl passieren? Der Zukunftssozialdemokrat gibt vorerst Entwarnung: ”Deutschland ist nicht Kirgisien und hat eine funktionierende Staatsmaschine und eine gute Polizei.”

Aber reicht das? Es reicht nicht. Ein Blick wäre auch zu werfen auf die sozialpsychologische Verarbeitung von Arbeitslosigkeit. Der staatstreue Rechtsphilosoph Hegel hatte schon bemerkt: ”Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.” Der gute alte subjektive Faktor. Tatsächlich stellt sich die Frage, warum geht das alles so friedlich weiter in Deutschland, wo bleibt der empörte Pöbel? Immerhin haben die beiden US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Frances Piven und Richard Cloward ganz plastisch gezeigt, dass die Arbeitslosenrebellionen rund um 1929 zum New Deal in den USA geführt haben. Sie mussten aber auch darauf aufmerksam machen, dass Arbeitslosenbewegungen nur in Verbindung mit anderen Bewegungen – Streiks der Arbeiter oder einer vereinheitlichenden Partei – Durchschlagskraft besitzen. Die Arbeitslosen haben einfach keinen Ort; und wo kein Ort, da keine Organisierungsmöglichkeit. In Österreich, zu den gleichen Zeiten, als es zumindest noch eine ordentlich sozialdemokratische Sozialdemokratie gab, sah es auch nicht besser aus. Das beförderte die von den austomarxistisch inspirierten Soziologen Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel erstellte Studie 'Die Arbeitslosen von Marienthal' von 1932 zu Tage. Die Leute wurden laut dieser Studie angesichts von Arbeitslosigkeit nicht rebellisch, sondern resignativ. Die Studie bleibt wegweisend, zeigt sie doch die verheerenden Auswirkungen von Arbeitslosigkeit in einer Gesellschaft, in der sich die Individuen bislang über die Lohnarbeit definierten – nicht umsonst wird festgehalten, dass Frauen wesentlich besser mit der Arbeitslosigkeit zu Rande kommen als Männer. Doch welche Schlüsse wären heutzutage aus der Studie zu ziehen? Als die Wiener Sozialforscherin Marie Jahoda 1982 auf dem SPD-Parteitag in München erklärte: ein bisschen Zwang muss sein und der Mensch definiere sich schließlich über die Arbeit, dokumentierte sie, wie selbst die humanistischsten der Sozialdemokraten nicht sehen wollen und können, dass spätestens nach 1968 eine gesellschaftliche Bewegung entstanden ist, die ihre Identität nicht mehr nur auf der Arbeit gründet. Muss es denn immer wieder die Arbeit sein? Fordern wir, so sagen einig, ein Existenzgeld und jede und jeder kann tun, was er will! 

Ins Narrenparadies - Wohin führt die Utopie der Grundsicherung? 

In Zeiten der Krise winken die Verlockungen der Anthropologie: ”Der Mensch und die Arbeit – das gehört zusammen!” Hatte Hegel nicht bereits in seinem Herr-Knecht-Kapitel festgehalten, dass der Knecht nur in der Arbeit, nur in der Bearbeitung der Dinge, Selbstbewußtsein gewinnt, während der Herr - späte Rache – in seinem bloßen Genießen verkümmert? Meidet der Knecht die Arbeit, so hält in Anschluss daran der KP-Philosoph Alexander Kojève mit fester Stimme fest, drohe ihm nur Wahnsinn und Verbrechen. (Foucault und Deleuze haben das im Ohr, zwinkern mit den Augen und freuen sich schon wieder, den KPF-Humanismus mit ein wenig Schizo-Ideologie zu erschrecken.) Aber bleiben wir modern: Auch Sigmund Freud stellte - alle Triebe feste sublimierend - fest, dass allein die Arbeit die stärkste Bindung an die Realität darstellt. Hat er damit, so stockreaktionär das auch sein mag, nicht ein wenig Recht? Wäre Cohn-Bendit nicht so blöde geworden, wenn er dem ebenfalls stockreaktionären Rat des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, in eine Fischmehlfabrik zu gehen, Folge geleistet hätte? Man weiss es nicht. Und man kann es mit guten Gründen bezweifeln. ”Geh doch arbeiten!” war schon immer die Parole der Väter, Lehrer, autoritären (Anti)kommunisten. Gemeint war stets der sich der Realität entziehende zu Erziehende. Nicht rumhängen, kiffen und gammeln, sondern schaffen – das sollte laut bester pädagogischer Manier jeder Schutzbefohlene. Generationen von jungen Rebellen haben sich deshalb gegen das Prinzip der Arbeit aufgelehnt. Nicht zuletzt hat sich Arbeiten, vor allem die stupide fordistische Fabrikarbeit der Super-Vollbeschäftigungszeit, als pure Plakerei herausgestellt.

Doch es soll auch schon mal vorkommen, dass man auf der Straße einen Genossen trifft, der erstaunlich aufgeweckt und aufgeräumt wirkt. Auf die Frage ”Warst du im Urlaub?” gibt er die Antwort: ”Nein, ich hatte mal wieder einen Job.” ”Geh doch arbeiten” könnte also auch ein freundlicher Hinweis sein, ein Tipp, vielleicht so die Bindung an die Realität und etwas Aufgeräumtheit wieder zu gewinnen. Von langhaarigem Phantasten zu langhaarigem Phantasten.

Rebellieren oder surfen? 

Doch es geht nicht nur um individuelle Aufgeräumtheit, sondern um das gesellschaftliche Abräumen eines Zwangsverhältnisses, das individuelle Aufgeräumtheit immer mehr tangiert. Wie lässt sich eine verkehrte Gesellschaft wie die kapitalistische am besten umwälzen, oder sagen wir es bescheidener: subversiv unterlaufen? Doch nur indem das innerste Prinzip aufgeknackt wird, der Motor blockiert wird. Und dieser ist die spezifische Arbeit, die mehr oder weniger reibungslos funktionierende Produktion. Vielleicht fehlen, so könnte man an diese Überlegung anschließen, ja auch die langhaarigen Phantasten in der Produktion, im stahlharten Gehäuse. Denn eigentlich darf sich kein Linker über die blöden und braven Arbeiter beschweren, der nicht selbst in die Hölle hinunter gestiegen ist. Ein renitenten Studi, der den Surrealisten André Breton gelesen hat, kann so einiges auf der Arbeit bewirken, will er nicht nur ganz in Gedanken frei bleiben. Die Arbeiter sind nicht mehr links? Ja klar, die meisten Linken sind auch keine Arbeiter mehr, obwohl sie den Verheerungen der Arbeitsgesellschaft in einem Maße ausgesetzt sind, wie schon lange nicht mehr. Und das ist fürs Kapital auch ganz gut. Aus diesem Blickwinkel heraus könnte die von einigen Linken geforderte Grundsicherung die ohnehin seit 1968 bestehende Spaltung von halbwegs rebellischen Jugendkulturen (man hört Punk, man rebelliert am Bauzaun, fährt nach Davos...) auf der einen Seite und wohl oder übel vor sich hinarbeitenden Arbeitern auf der anderen Seite nur vertiefen. Existenzgeld als Stillhalteprämie für die Spektakel-Rebellen auf tolerierten Nebenkriegsschauplätzen?

Bislang lehnen die Herrschenden eine ausreichende Grundsicherung für jederfrau und jedermann noch ab. Der Kapitalismus kann sich kein sichtbares Reservat der mehr oder weniger fröhlichen Beschäftigungslosen leisten, so scheint es. Denn der Mensch, oh heilige Anthropologie, scheint wohl doch eher ein Faulpelz zu sein und aus eben noch kreuzbraven Malochern könnte etwas ganz anderes werden, wenn sie einen Blick in den Hippiegarten geworfen haben. Anfang der 70er Jahre wurde in Hawaii darüber gestritten, ob es moralisch vertretbar sei, den Hippies soziale Unterstützung zu gewähren und ihnen damit ein Leben ohne Arbeit zu ermöglichen, bei dem sie den ganzen Tag lang surfen können. Bis auf einen belgischen Moralphilosophen hatten dies alle verneint. Zu viele würden Hippies werden wollen. Bislang sind die Stimmen noch vereinzelt, die ganz kapitalkonform den gesellschaftlichen Nutzen von Alimentierung der ”Surfer” behaupten. Professor Franz Haslinger von der Uni Hannover konnte sich vor ein paar Jahren an dieser Vorstellung ergötzen. Die ohnehin faulen Surfer könnten aus der Produktion herausgehalten werden, wo die glücklichen Fleißigen ohne Reibungen auf höchstem technischen Niveau vor sich hin produzieren könnten. Schöne neue Arbeits- und Faulheitswelt!  

Dualistisches Narrenparadies 

Eine solche Parallelgesellschaft ist auch André Gorz Grundsicherungsmodell inhärent, er spricht sogar von einer ”dualistischen Gesellschaft”, also einem Bereich der Lohnarbeit und der grundsicherungsgestützten Nicht-Arbeit. Gorz hofft auf einen ”Exodus aus der Lohnarbeit”. Doch ist das neue Paradies nach dem Exodus wirklich so verlockend? Ein Schlaraffenland ohne Mühe, ewig fließende Milch mit Honig? Die auch in der Linken grassierenden Grundsicherungsmodelle, die sich utopisch und radikal geben, reflektieren auf eine solche Dystopie nie. Dabei hatte schon Karl Polanyi auf die Folgen einer solchen Grundsicherung aufmerksam gemacht: in England gab es zwischen 1795 und 1834 das sogenannte Speenhamland-Gesetz, eine allgemeine Volksfürsorge bei gleichzeitiger Enteignung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln. Ein kompletter gesellschaftlicher Stillstand, ein elendes ”Narrenparadies” wären entstanden. Nach Polanyi konnten auch nur zwei Strategien aus der Misere herausführen: entweder die Verhinderung des Kapitalismus, wie es die Ludditen, die Maschinenstürmer, vor Augen hatten oder brutale Durchsetzung kapitalistischer, doppelt freier Lohnarbeit. Was passiert ist, ist allen bekannt. Eine freie, andere Tätigkeit müsste also auf die Tagesordnung gesetzt werden – gegen Staat und Kapital. Die linke Forderung nach Grundsicherung ist doppelgesichtig, zum einen hat sie eine sympathische Stoßrichtung, die sich vor allem in der Entstigmatisierung von Arbeitslosigkeit festmachen lässt. Und sie ist offensiv – hey Staat, wird brauchen Geld! Selbst der Alt-Liberale Ludwig van Mises erkannte, dass das Problem der Arbeitslosigkeit die Abwesenheit von Geld und nicht in erster Linie von Arbeit ist. Dennoch offerieren gerade die dualistischen Konzepte eine Naivität gegenüber der Totalität kapitalistischer Gesellschaft im allgemeinen und der politischen Ökonomie der Arbeitslosigkeit im besonderen.

Der Kapitalismus braucht Arbeitslose, Vollbeschäftigung ist Utopie. Hätte denn das Kapital und sein Staat überhaupt ein Interesse, die Arbeitslosigkeit zum Verschwinden zu bringen? Der polnische Ökonomen Michal Kalecki, der gleichzeitig mit Keynes Überlegungen zum Problem der Arbeitslosigkeit angestellt hat, zeigte, dass dem keinesfalls so ist. Zur Zeit der Vollbeschäftigung, im Jahre 1943 schrieb er ein Essay über den politischen Konjunkturzyklus, in dem er darstellte, dass auf Dauer eine Vollbeschäftigung durch das ”big business” auf gar keinen Fall akzeptiert werden kann. Damit entfalle nämlich schlichtweg die Möglichkeiten, die Arbeitnehmerschaft insgesamt disziplinieren zu können. Der ”Klasseninstinkt” des ”big business” sage nämlich, dass permanente Vollbeschäftigung ungesund ist. Wenn der Staat mit relativ einfachen Tricks, Vollbeschäftigung - in welchem Maße auch immer - wieder herstellen könnte, wäre sofort die Macht des Kapitals über die disziplinierte Arbeitskraft flöten. Ein weiser Mann, der Kalecki! Doch man müsste einige Schritte weiter gehen. Heutzutage müsste die Arbeitsgesellschaft selbst mit ihrer bis in die stoffliche Dimension der Technologie gehende Formbestimmtheit überwunden werden, um eine Gesellschaft der freien Tätigkeit und der sinnvollen Reduktion des ”Reichs der Notwendigkeit” zu erlangen. Mit einer Parallelgesellschaft von Lohnarbeit und Mühe auf der einen und Versorgung und erzwungene Mühe-Losigkeit auf der anderen Seite kann sich kein Anarchist oder Kommunist zu Frieden geben. 

Zur Geschichte und Kritik einer linken Forderung -  Die Existenzeldforderung als linksradikales Programm 

”Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.” So die Diagnose des Schwiegersohns von Karl Marx, Paul Lafargue, in seiner Schrift ”Das Recht auf Faulheit” von 1883. Er blieb, man merkt es gleich, ein Außenseiter innerhalb der Arbeiterbewegung. Paul Lafargue griff in einer Zeit das Arbeits- und Leistungsprinzip an, als es für die meisten Sozialisten keine andere Möglichkeit gab, als mittels der Entwicklung der Produktivkräfte und damit zusammenhängender Arbeit ins Reich der Freiheit zu kommen. Die Notwendigkeit, also die Not der Arbeit, machte sich die Arbeiterbewegung zum Programm. Eine Kritik der Arbeit fand sich entweder in Künstlerzirkeln wieder oder hatte einen proletverachtenden Aristokratengeschmack. Nicht umsonst war Friedrich Nietzsche, Anti-Sozialist und Feind der Commune, ein größerer Arbeitskritiker als so mancher aufrechter Kommunist. In einer seiner reaktionärsten Schriften in ”Also sprach Zarathustra” lässt Nietzsche verkünden: ”Ihr alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde, - ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß ist Flucht und Wille, sich selber zu vergessen. ... Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch - und selbst zur Faulheit nicht!”

Einige linke Häretiker nahmen diesen subversiven Stachel von Nietzsche auf und wirkten auch auf die hegemoniale Arbeiterbewegung wie bunte, bissige Hunde. Sie kritisierten die Arbeit und hielten ihr wie die Surrealisten um André Breton die Phantasie entgegen. Besonders subkulturelle Künstlergruppen transportieren so eine radikale Kritik der Arbeitsgesellschaft. Erst um 1968 wurde die Phantasie jenseits der Arbeit und gegen die Arbeit breiter entdeckt und sollte ”an die Macht” kommen. Die Situationisten um Guy Debord erklärten sich bereits in den 50er Jahren zur Avantgarde-Bewegung und die Langeweile zum Problem: ”Da wir einige Jahre buchstäblich mit Nichtstun verbracht haben, dürfen wir unsere soziale Einstellung als avantgardistisch bezeichnen - denn in einer einstweilen immer noch auf Arbeit basierenden Gesellschaft haben wir ernsthaft versucht, uns ausschließlich der Freizeit zu widmen.” Mittlerweile sind Millionen mit verordneter Freizeit konfrontiert und haben ein wirkliches Problem: das Problem der Langeweile, das – folgt man den Situationisten - eine konterrevolutionäre Dimension aufweist, denn aufgefüllt wird sie durch die medialen Ideologieapparate und das Spektakel. Auch Friedrich Nietzsche hatte sich im Meistern der Langeweile versucht. Dies könnte aber nur ein besonderer Menschenschlag, meinte der Anti-Egalitarist. Die Künstler, die er mochte, ”fürchten die Langeweile nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für die Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme 'Windstille' der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten.” Nietzsche wäre ein Fürsprecher eines Existenzgeldes gewesen. Ein wenig Windstille, ein wenig Langeweile – aber immerhin genug Zeit für den Denker. Doch wer macht die unlustvolle Arbeit, woher bekommt der Denker und Künstler seine handfeste Nahrung? Max Horkheimer hatte ganz recht, als er einmal bemerkte, dass Nietzsche mit seinen Phantasien einer sich selbst-ermächtigenden Neu-Aristokratie, die natürlich der gemeinen Arbeit enthoben ist, eine stille, dumpfe Masse braucht, die seiner Aristokratie ”die Toga näht”.

Nur als ein universalistisches Programm macht die Existenzgeldforderung Sinn – und dann müsste sie im Grunde gleich global formuliert werden. Denn wo heutzutage Schuh und Toga produziert werden, ist bekannt. Warum will man sich aber dann nicht gleich an Marx und Engels erinnern, an die Revolution als welthistorisches Ereignis, an die Expropriation der Expropriateure, an die Aufhebung der ungesellschaftlichen Gesellschaft, an der Zerstörung eines dem Profit gehorchenden Gesellschaftsgefüges, das mit dem Wert ein, den Individuen enthobenes gesellschaftliches Naturgesetz herausgebildet hat? Also, warum nicht gleich, so die linksradikalen Kritiker des Existenzeldes, sagen wie es ist: wir brauchen eine Revolution und zwar global!

Doch das ist den Vertretern des Existenzgeldes zu dogmatisch und zu wenig pädagogisch. Im übrigen gehe es auch um die Selbstermächtigung von Arbeitslosen und um eine Entstigmatisierung. Eine Gruppe schreibmächtiger Aktivisten drehte das öffentliche Bild vom entweder faulen oder armen Arbeitslosen so auch um und erklärte sich im Jahre 1997 zu ”Glücklichen Arbeitslosen”. Sie erklärten, sie seien auf der Suche nach unsicheren Ressourcen und schrieben die Langeweile und die Arbeitslosigkeit einfach mit Manifesten und schönen Kommentaren weg. Das goutierte sogar die FAZ und räumte den Autoren im Feuilleton ein paar Seiten ein. Dabei beerbten die Glücklichen Arbeitslosen nicht nur die Situationistische Internationale, sondern auch die bundesrepublikanische Sponti-Geschichte. Der 70er-Jahre-Anarcho Peter-Paul Zahl veröffentlichte bereits 1973 in West-Berlin eine Zeitschrift mit dem Titel "Der Glückliche Arbeitslose", in der er das Motto "Berufsverbot für alle" propagierte. Hier findet sich auch der Geburtsort des radikalen Monetenerlasses.

Die Geschichte der Existenzgeldforderung geht zurück auf die subversivsten Momente der linken Bewegung. Der Anspruch auf ein Einkommen unabhängig von Lohnarbeit wurde in den siebziger Jahren im Kontext von Jugendbewegung und Arbeiterkämpfen in Italien erhoben. "Politischer Lohn ist die Möglichkeit, eigenständig für die Organisierung des Kampfes gegen die Arbeit zu arbeiten", verkündete damals der neo-marxistische Operaist Ferrucio Gambino. In Deutschland machte zuerst die sozialrevolutionäre Zeitschrift ”Autonomie. Neue Folge” diese Forderung publik. Der Adressat war jedoch weniger der Staat, vielmehr sollte die moralische Legitimität von unmittelbarer Aneignung von gesellschaftlichem Reichtum verbreitet werden. Ende der 70er, Anfang der 80er gab es noch eine rege Subkultur, die mittels Laden- und Stromdiebstahl, Schwarzfahren, Hausbesetzungen und dem Gebrauch von Sozialgeldern sich jenseits des Zwangs zur Arbeit reproduzierte. Der erste Bundeskongress der Erwerbslosengruppen 1982 in Frankfurt war noch ganz von diesem Geist beseelt. Hier tauchte zum ersten Mal unter den autonomen Jobber- und Erwerbslosengruppen die Forderung ”1500 Mark für alle und sofort, ohne Kontrolle und ohne Schikane” auf. Damit war vor allem ein Ablehnung des Zwangs zur Arbeit intendiert.

Ziel war die Formulierung eines umfassenden, universalistischen Konzepts, das zur Vereinheitlichung von Kämpfen führen sollte. Die Existenzgeldforderung wurde Anfang der 80iger von Teilen der Erwerbslosenbewegung ins Spiel gebracht, um sich vom eher gewerkschaftlich orientierten Teil mit seiner ”Arbeit für Alle”-Rhetorik abzugrenzen. ”Dem Leben für das Kapital setzen wir das Leben für uns, der Destruktion durch das Kapital die Sabotage, der Arbeit die Identität der Nichtarbeit entgegen”, so steht es  im Protokollen des Bundeskongress der Arbeitslosen von 1982.   

Dieses Existenzgeld sollte als garantiertes Einkommen jedem und jeder zur Verfügung gestellt werden. Die Sozialrevolutionären hatten bei dieser Forderung eine Menge im Blick. Es ging um die Aufhebung der Lohn-Differenzierung und der Spaltungsmanöver seitens der etablierten Arbeitsverwaltungsbürokratie, sprich: der Gewerkschaften. Ein garantiertes Einkommen sollte auch die sich ankündigenden Selektionsmechanismen, die sich bedrohlich ankündigenden Euthanasie- und eugenischen Diskurse über unnützes, nicht-verwertbares Leben sabotieren.

Die Forderung nach einem Existenzgeld war als Angriff auf die herrschende Arbeitsmoral gedacht und sie bot darüberhinaus linken Militanten auch ganz konkret eine Alternative zum nur-betrieblichen-Kampf. Die Existenzgeldforderung sollte Möglichkeiten eröffnen, das Existenzrecht des Menschen unabhängig von ökonomischen Verwertungszwängen als Arbeitskraft durchzusetzten. Die patriarchale Trennung in produktive und somit entlohnte Arbeit und ”bloß” reproduktive Arbeit der Frauen wurde als Fundament der modernen Ausbeutungsordnung angesehen. Mit dem Existenzgeld sollte dem eine verschiedene Sektoren verbindende Parole entgegengehalten werden. Nicht das Geld spielte in erster Linie die entscheidende Rolle, sondern die Bewegung. 

Aufnahme niedrig entlohnter Arbeit als ”kommunistisches Begehren”?  

In den 80er Jahren war die Existenzgeldforderung eingebettet in eine autonome, subversive Strategie der direkten Aneignung und der selbstständigen Organisierung als Jobber oder Sozi-Empfängerin. In den 90er Jahren grassierte dann die Realpolitisierung im Existenzgeldmilieu. Es waren gerade die Grünen, die neoliberale Inhalte in alternativer Verpackung verkauft und salonfähig gemacht haben. Die affirmative Wende vieler Ex-Spontis zu grünen Real-Politiker lässt sich an einem Buch ablesen, das 1984 unter dem Titel ”Befreiung von falscher Arbeit, Thesen zum garantierten Mindesteinkommen” von Thomas Schmidt herausgegeben wurde.

Dieser Agitationsschrift ging es darum, ”die vorsintflutliche Logik des Industrialismus zu durchbrechen” und es landete in postmoderner Beliebigkeit und libertär angestrichenem Neoliberalismus. Den Autoren ging es nicht mehr darum, sich der kapitalistischen Gesellschaft entgegenzustemmen. Vielmehr sah man sich als visionäre Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung selbst: ”Das garantierte Mindesteinkommen würde ... einen bedeutsamen kulturellen Umbruchprozess einläuten: es würde Unternehmer, Gewerkschaften und Staat als ideelle Sinngebungsinstanzen verabschieden, damit nur offiziell vollziehen, was ohnehin schon der Fall ist...” Im typisch neoliberalen Sinn wird gegen die bürokratischen Grossorganisationen gewettert, gegen die ”Betonfraktion”. Die linksradikale Kritik an Staatlichkeit, an der Funktion der Gewerkschaften als Verwalterin der Ware Arbeitskraft ist vergessen beziehungsweise wurde vielmehr umgebogen in ein so scheinbar ”öko-libertäres” wie tatsächlich neoliberales Modell des Kleinunternehmertums.

In der Modellierung eines krisenfesten, die Selbstbestimmung fördernden Alltags werden so auch, quer zu ”alten”, angeblich überkommenen Fronten, neue Bündnispartner gefunden – man merke sich: der ”Abschied vom Proletariat” wurde mit André Gorz zusammen schon länger genommen: Bei den neoliberalen Befürwortern einer negativen Einkommenssteuer und eines Bürgergeldes fand man neue Freunde. Nach der mit leichten Anflügen von Egozentrik verbundenen Kinderkrankheit der Alternativ-Ideologie ist man schnell vergreist, um sich staatsmännisch Gedanken um Finanzierbarkeit, zum Realismus der politischen Durchsetzbarkeit und natürlich über das Gemeinwohl zu machen. Und plötzlich bekam man sie nicht mehr los – die kapitalistische Arbeitsgesellschaft! Die Autoren schrieben: ”Das Einkommensrecht steht zwar jedem zu, eine Abstufung soll aber bewirken, daß nicht alle die Arbeit aufgeben und dadurch die Reform unfinanzierbar machen.”

Man sah sich nicht mehr als Totengräber des Kapitalismus, vielleicht hat man sich auch noch nie so begriffen, sondern will die klassische reformistische Rolle spielen: Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Mit dem garantierten Mindesteinkommen sollte eine sozialpolitische Reform vorgeschlagen werden, die dem Kränkeln der Arbeitsgesellschaft Rechnung trage.

Und los ging es mit dem Aktivierungsjargon, in dem pseudo-libertär gegen Starrheit, Verkrustetheit und Trägheit gewettert und doch im Kern nur der Dynamik der Kapitalentwicklung das Wort geredet wird. Die ”Verstaatlichung des Sozialen” wurde beklagt und eine weit um sich greifende "Versorgungsmentalität" diagnostiziert. Es war das grüne Milieu, das die nach 1968 auftauchenden neuen Bedürfnisse nach Selbständigkeit, Emanzipation und den subversiven Anti-Etatismus in der Bundesrepublik in ein Modell neuer Freiheit vorgaukelnder Marktabhängigkeit transformierte. Diese historische Rolle ist ausgespielt.

Doch auch bei den links von den Grünen stehenden Arbeitslosenbewegungen wurde die Forderung mit den Jahren immer zahnloser vorgetragen. Nicht mehr als konfrontative Subversionsstrategie gedacht, gaben sich - das Ende der Vollbeschäftigungsutopie scheinbar im Rücken - die Erwerbslosengruppen konstruktiv und realitätstüchtig. Und sie suchten sich die merkwürdigsten Bündnispartner und Bezugspunkte. Mal wurde sich auf den Modephilosophen Jeremy Rifkin bezogen, der bar jeder Empirie und theoretischen Einsicht schlicht behauptet, dass dem Kapitalismus die Arbeit ausgehe, mal wurde damit kokettiert, dass auch der politische Gegner von einer Grundsicherung spricht. Und tatsächlich bekamen die Arbeitslosengruppen mit ihrem Umgestaltungsvorschlag des Sozialstaats sehr bald Schützenhilfe von unerwarteter Seite: An Milton Friedman geschulte Neoliberale forderten ebenfalls eine Mindestsicherung, die Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor flankieren sollten. Zurück geht dieses sogenannte Bürgergeld auf erz-liberale Versuche, die mit der Revolte um 1968 angegriffene Gesellschaft der Lohnarbeit zu reanimieren. Als Mitte und Ende der 60er Jahre die USA brannten und die Jugend Amerikas den amerikanischen Werten und Tugenden den Rücken kehrte, verfassten unüberschaubar viele Ökonomen zusammen eine Resolution, die dem US-amerikanischen Kongress vorgelegt wurde. Angesichts zerfallender Arbeitsmoral, steigender Löhne, hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Unruhen schlugen sie eine neue Form sozialer Sicherungen vor. Die Arbeitseinkommen solle nicht voll von der Transferzahlung abgezogen werden, um den Anreiz zur Aufnahme niedrig entlohnter Arbeit zu erhöhen.

Alle liberalen Grundsicherung haben dieses handfeste ökonomische Interesse der Etablierung von Niedriglöhnen zum Hintergrund. Die liberalen Grundsicherungsmodelle gehen auf Milton Friedman zurück und seinen Vorschlag einer negativen Einkommenssteuer. Das Grundsicherungskind hat viele Namen, mal heißt es Bürgergeld, mal soziale Grundsicherung, mal Subsistenzeinkommen oder Staatsbürgergehalt. Das Bürgergeld ist dabei führend in der Diskussion. Diese Form von Grundsicherung wird schon länger von der FDP und dem CDA - dem christlich-demokratischen Arbeitnehmerverband - gefordert. Ein wichtiger Effekt: Das Bürgergeld soll den ganzen bürokratischen Sozialstaatsapparat radikal zusammenstreichen. Intendiert ist eine Entbürokratisierung und Rationalisierung, die auch direkt gegen die Beschäftigten in den Sozialbehörden gerichtet ist. Hinauslaufen soll dieser FDP-Vorstoß zur Neuordnung der sozialen Grundsicherung auf ”einen stärkeren Anreiz zur Aufnahme von Erwerbsarbeit”, so Graf Otto Lambsdorff im Jahr 1994. Diese  Strategie hat die FDP abermals auf ihrem Bundesparteitag in Köln im Mai 2005 bekräftigt  - ”Öffnung der Tarife nach unten” und verstärkter Zwang für Arbeitslose zur Arbeitsaufnahme auch im ersten Arbeitsmarkt ist erklärtes Ziel. Bereits Mitte der 90er riefen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und Kurt Biedenkopf die "Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen" ins Leben, die die Entwicklung des Arbeitsmarktes seit Beginn der siebziger Jahre analysieren und neue Handlungsmöglichkeiten für eine Grundsicherung finden sollten. Der Kommission gehören u. a. der Soziologe Ulrich Beck, der Unternehmensberater Roland Berger und Meinhard Miegel vom Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft an. Dort grassierten auch die krassesten Bürgergeldvorschläge.

Die Nähe von linken Grundsicherungskonzepten und liberalen Bürgergeldentwürfen springt ins Auge, dennoch kam es in den 90er Jahren erneut zu einem Revival der Forderung. Die Berliner Gruppe FelS (Für eine Linke Strömung) rührte die Trommel für das Existenzgeld und richtete 1999 einen großen Kongress in Berlin aus, der zu allerhand produktiver Kritik und Analyse führte.

Karl Heinz Roth, der in den 70er Jahren selbst daran beteiligt war, die Existenzgeldforderung publik zu machen, zeigte sich in den späten Neunzigern skeptisch. ”Das Kapital betreibt mittlerweile weltweit eine Strategie der Unterbeschäftigung, d.h., es hat als Antwort auf die Revolten der siebziger Jahre die Vollbeschäftigungsutopie abgeschafft und völlig neue Ausbeutungsverhältnisse produziert: die ungarantierten Arbeitsverhältnisse auf der Basis von Niedriglöhnen, die durch eine industrielle Reservearmee abgesichert sind.” Deshalb könne ein Existenzgeld die Ausweitung der Niedriglöhne flankieren und sei ”ohne irgendeine Form von Minimallohn im Ausbeutungsprozess ... völlig absurd”.

So sehen die neuesten Initiativen auch, dass ihre Forderung nach einem Existenzgeld mehr beinhalten muss. Neben dem Kampf für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, ist auch das Recht auf einen gesetzlichen Mindestlohn auf ihrer Agenda. Dies bilde ein Dreigestirn, um eine auskömmliche materielle Sicherung von Beschäftigten, Arbeitslosen und Menschen ohne Einkommen sicherzustellen. Noch weitgehender formulierten es die Organisatoren der zentralen Demonstration gegen Sozialabbau am 2. Oktober 2004 in Berlin, indem sie für ”ein menschenwürdiges Grundeinkommen, ohne diskriminierende Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang” eintraten. Den auf den Montagsdemonstrationen hegemonialen Forderungen nach einem Recht auf Arbeit wird also das Recht auf gutes Überleben entgegengestellt.

Sozialwissenschaftlern, linke Katholiken und Erwerbslosenaktivisten gründeten das ”Netzwerk Grundeinkommen” deren deutscher Zweig sich ”Basic Income European Network” nennt und ein  bedingungsloses und bedarfsdeckendes Grundeinkommen anvisisiert. Bei ihnen allen findet sich ein Mischmasch aus radikalem Selbstverständnis, das in der immer wieder bekundeten ”Kritik der Arbeit” zum Ausdruck kommt, gleichzeitig will man sich realitätstauglich zeigen und schöpft dabei zuweilen auch tief aus dem sprachlichen Horrorjargon des Neoliberalismus mit seiner ewigen Wettbewerbsfähigkeit. Klar links-reformistisch ohne rechte Apologien argumentiert die Frankfurter Gruppe ”links-netz”: sie fordert den Ausbau einer umfassenden sozialen Infrastruktur als Alternative zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat. Sozialpolitik hätte die Aufgabe der Sicherung ”der Infrastruktur für alle Arten von Arbeit, für das Betreiben des eigenen Lebens und aller dazugehörigen Tätigkeiten”.  

Doch auch wenn viele Bedenken - beispielsweise die Nähe zu neoliberalen Grundsicherungsfiguren – damit ausgeräumt wurden, dass  von den meisten Arbeitsloseninitiativen ein Minimallohn flankierend zum Existenzgeld gefordert wird, bleiben ganz prinzipielle Einwände bestehen. Die Existenzaktivisten folgen oft einer neuen nicht-kapitalistischen Moral, erheben sie aber als Geldforderung. Der Adressat dieser Forderung ist der Staat. Denn ein politischer Lohn kann nur gegenüber dem Staat geltend gemacht werden. Wenn nicht der Einzelkapitalist die Kohle herausrücken soll – den man mit Streiks in die Predouille bringen kann -, so doch der ideelle Gesamtkapitalist, der Staat. Dieser ist zwar parteiischer Klassenstaat, aber er sieht sich durch Klassenkämpfe und Bewegungen gezwungen, teilweise auch gegen die Einzelinteresse des Kapitals zu verstoßen, um den Gesamterhalt des Kapitalverhältnisses weiter aufrecht zu erhalten. Forderungen alleine führen selten zu etwas, ohne die wahrnehmbare Existenz einer kritischen Masse sind sie nichts. Schnell werden Bewegungen und neue Bedürfnisse dadurch eingedämmt, indem aus Bedürfnissen und Interessen festgeschriebene Rechte gezimmert werden. Die Existenzgeld fordernden Staatsfeinde von einst haben bereits lange bevor eine tatsächlichen Bewegung in den Startlöchern sitzt die bürgerlichen Forderungen in Form von Recht und Geld sich auf die Fahnen geschrieben. Den Staat, bzw. den Mehrwert bekommt man mit der Geldforderung nicht los – man muss beides vielmehr unter der Hand positiv sanktionieren. Das war im Kern auch immer die radikale Kritik des Existenzgeldes, wie sie von der operaistischen und Jobber-Initiative ”Wildcat” bereits in den 80er Jahren, als die Forderung nur marginal auf der Linken zu vernehmen war, formuliert wurde ”Während die liberale Variante mit dem Mindesteinkommen ganz offen eine neue Integration in die »Arbeitsgesellschaft«, also die Aufrechterhaltung und Absicherung des Arbeitszwangs propagiert, schließt die linke Kampagne für ein Existenzgeld im Stillen ihren Frieden mit der Arbeitsgesellschaft und erkennt den Staat als Problemlöser an. Die Finanzierung des Existenzgeldes aus den Steuern auf Lohn und Mehrwert/Profit ist unterstellt - am Fortbestand der Arbeitsgesellschaft darf dann schon aus Kostengründen nicht gerüttelt werden. Es soll sich nur jede und jeder etwas freier aussuchen dürfen, wann, wo und wieviel gearbeitet werden muß. Auch die von linker Seite angepeilte Höhe - 1600 Mark oder 1200 Mark plus Miete usw. - ist angesichts der heutigen Einkommensverhältnisse sehr bescheiden. Es ist nicht mehr als grad mal die Existenz. Für jede weitere »Teilnahme am gesellschaftlichen Reichtum« bleibt logischerweise wieder nur eins: Arbeiten! Hatten wir nicht mal die ganze Bäckerei statt einem Stückchen Kuchen gewollt?”  

Hartz IV ist ein Grundeinkommen 

Es wird die Existenzgeldforderer nicht entzücken, doch ALG II ist eine Form des Existenzgeldes und der Grundsicherung – im wahrsten Sinne des Wortes: den Leuten gings an die Existenz und der Grund ist, wie man weiss, ganz tief unten angesiedelt. Grüne ”Visionäre” verkündeten bereits in den 80er Jahren, dass man Abschied vom ”paternalistischen” Sozialstaat zu nehmen habe und jedem Wirtschaftssubjekt eine Anfangsausstattung verschafft werden solle, um es in die Lage zu versetzen, sich am Markt frei bewegen zu können. Klingt schön und gab es nach Hartz IV auch: die Ich-AGs, die nicht wenige als kurzen Zwischenstopp und Möglichkeit, dem Amt zu entfliehen, nutzten, aber die meisten als riesiges Verschuldungsproblem sich aufhalsten – um am Ende doch wieder bei der Agentur zu landen oder als selbständige working poor vor sich hinzuwurschteln. Schon in der Grundsicherungsdiskussion der Grünen vor rot-grüner Regierungsbildung tauchte die Möglichkeit auf, dass Menschen, die vermeintlich 'zumutbare Arbeit' ablehnen, Leistungen gekürzt werden. Der Zwangsarbeit war innerhalb der grünen Grundsicherungsmodelle immer Tür und Tor geöffnet. Die stigmatisierenden 2- oder gar 1-Euro-Jobs kamen durch diese Türen. Heutzutage werden bei immer niedrigeren Löhnen längere Arbeitszeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert. Die Drohung, auf die niedrig angesiedelte Grundsicherung des Arbeitslosengeld II abzurutschen, trägt dazu einiges bei. Diese elende Grundsicherung wurde von den beiden Parteien eingeführt, die auf der ”Kohl-muss-weg”-Welle nach oben gespült wurden. Versprochen wurde, dass endlich was passiert – und so war es dann auch: Die Grünen hatten, bevor sie zur Regierungspartei wurden, eine Grundsicherung in der Höhe von 1200 Mark angepeilt, das dürfte genau dem heutigen ALG II entsprechen – eine entsprechende Miete vorausgesetzt.

Beim Arbeitslosengeld sind die Konfliktlinien noch nachzeichenbar, es ist eine Versicherungsleistung erworben durch vorherige Arbeit, mit dem Existenzgeld namens ALG II liegt eine vom Produktionsprozess abgetrennte Form der Armenfürsorge vor. Die alte Trennung: befristetes Arbeitslosengeld, dann Arbeitslosenhilfe für die einen, die man noch integrieren will, Sozialhilfe für die anderen, die es mehr zu kontrollieren gilt, wurde aufgehoben. Die Spaltungslinien des alten Sozialstaates wurden also verwischt, weil man mittlerweile keinen Protest und vereinheitlichten Widerstand fürchtet. Bislang ist diese Strategie aufgegangen: Hartz IV wirkt als Disziplinierer und Angst-Instrument gegenüber der Arbeiterklasse und nicht vereinheitlichend im Sinne von gemeinsamen Kämpfen von längere Zeit “Freigesetzten” und “Lumpen”.  

Was nicht tun 

Die Kritiker der Existenzgeldforderung sollten nicht Anhängsel der Gewerkschaften oder der arbeitstümelnden WASG sein, die Befürworter der Forderung sollten aber nicht die Trittbrettfahrer der Grünen Partei darstellen. Auf die Proteste der Montagsdemonstrationen gegen die Zumutungen von Hartz IV stützt sich die jüngst gegründete Linkspartei, die weitgehend eine abgetackelte Vollbeschäftigungsutopie predigt und der eine keynesianische ”Löcher-buddeln-und-wieder-zuschütten”-Ideologie, denn: Hauptsache Arbeit!, zu eigen ist. Hoffnung ist hier fehl am Platz. Meinte nicht Lafontaine als SPD-Finanzminister, man solle überprüfen, ob das Arbeitslosengeld auch wirklich nur an tatsächlich Bedürftige ausgezahlt werde? Schon vergessen?

Was kann man tun? Der Kampf um eine Erhöhung des Regelsatzes von Arbeitslosengeld II und ein Kampf gegen unzumutbare, aber als “zumutbare Arbeit” verkauften Quatsch würde in zwei Richtungen positiv vereinheitlichend wirken: die Arbeiterinnen und Arbeiter verlören ihre Angst vor Hartz IV und die Arbeitslosen hätten mehr Geld in der Tasche. Bekommt man eine Erhöhung von Arbeitslosengeld II – ganz realpolitisch argumentiert - nicht hin, wäre ein Kampf für eine generelle Grundsicherung, die Versicherungsleistungen und andere Ansprüche vom Tisch fegt, ohnehin ein Schuss hinten raus.

Editorische Anmerkungen

Der Beitrag ist in gekürzter Fassung als Serie im Feuilleton der jungen Welt letztes Jahr erschienen. Er wurde uns vom Autor Ende Dezember 2006 zur Veröffentlichung gegeben.