MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
01/07

trend
onlinezeitung

FRIEDRICH ENGELS
Lothar Kuhlmann

  Zur Kapitelübersicht

A. ZUM AKTUELLEN STAND DER DISKUSSION UM FRIEDRICH ENGELS:
REKONSTRUKTION DER DIALEKTIK-KONZEPTION GEGEN
VORHERRSCHENDE KLISCHEEHAFTE AUFFASSUNGEN

In diesem Kapitel soll der Versuch gemacht werden, die Dialektik-Konzeption, die Engels in mehreren seiner Hauptschriften an zentraler Stelle entwickelt hat, in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Der Beschäftigung mit einer solchen nur rekonstruierenden Darstellung steht aber nun vor allem ein Hindernis im Wege: das in der Sekundärliteratur dominierende Urteil über diese Dialektikauffassung. Obwohl eine umfassende Arbeit zu Engels Dialektikkonzeption nach wie vor aussteht, gibt es z.B. in der westdeutschen Diskussion dennoch ein weitgehend festes Ergebnis und zwar eins, das von einer Auseinandersetzung mit dieser Position eher abschreckt.

Als Hauptbezugspunkte zur Stützung dieses Ergebnisses werden immer wieder genannt:
Der Aufsatz „Was ist orthodoxer Marxismus?," den Georg Lukacs 1919 erstmals publizierte und den er dann in seine „Studien über marxistische Dialektik" aufnahm, die er 1923 unter dem Obertitel „Geschichte und Klassenbewußtsein" veröffentlichte.(1) Die in diesem Aufsatz an der Engelsschen Dialektik geübte Kritik hat bis heute Geltung für zahlreiche Engelskritiker. Lukacs selbst hat sie in dieser Form schon bald nicht mehr aufrechterhalten und der nur kurze Zeit spater verfaßte und noch in dieselbe Sammlung aufgenommene „Verdinglichungsaufsatz"(2) läßt ein solches Verständnis, wie es an „Was ist orthodoxer Marxismus?" bis heute festgemacht wird, nicht mehr zu. Alle späteren Äußerungen Lukacs' zum Thema Dialektik sind jedoch von der westdeutschen Engelskritik kaum noch beachtet worden.

In „Was ist orthodoxer Marxismus?" versucht Lukacs einen orthodoxen Marxismus herauszuarbeiten, dessen methodischen Kern seine damalige spezifische Dialektikvorstellung darstellt. Gegenüber Engels, der die Dialektik für die gesamte Wirklichkeit (Natur und Gesellschaft) als gültig zu erweisen sucht, stellt Lukacs fest, daß sie sich „auf die historisch-soziale Wirklichkeit," „die dialektische Beziehung des Subjekts und des Objekts im Geschichtsprozeß" mit der entscheidenden „Frage von Theorie und Praxis" beschränkt. Diese Bestimmungen, die „in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind," lassen auch die Ausdehnung der Dialektik auf diesen Bereich nicht zu. Nach Ansicht des Lukacs von 1919 hat Engels diesen Punkt „dem falschen Beispiel Hegels folgend," „übersehen" und dadurch „Mißverständnisse" und „viel Verworrenheit" in die Dialektikdiskussion gebracht.(3)

In ähnlicher Weise haben sich dann später Vertreter der Frankfurter Schule geäußert. 1933 stellt Max Horkheimer - noch als Akzentuierung -fest, daß die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus,(4) d.h. des Marxismus ausmache. Dieser Standpunkt wurde in der folgenden Entwicklung sogar noch mit weiteren Einschränkungstendenzen wie bei Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno verabsolutiert. Alfred Schmidt z. B. hat 1962 in seiner Arbeit „Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx"(5) herauszuarbeiten versucht, daß die Engelssche Matarialismusposition, und damit verbunden dessen Dialektikauffassung wesentlich von der Marxschen differiert. Engels fällt nach Schmidt in seiner Naturkonzeption, da wo er über Marx hinausgeht, teilweise in eine „dogmatische Metaphysik" bzw. in eine vormarxsche Ontologie zurück, indem er Marx' historisch-materialistische Konzeption um die Deutung einer „von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur" und, damit verbunden, einer „rein objektiven Dialektik" zu ergänzen sucht. Bei Engels wird nach Schmidt die Dialektik zu dem, „was sie bei Marx am allerwenigsten ist": „Weltanschauung, positives Weltprinzip."(6)

Wenn man nun noch hinzunimmt, daß auch Philosophen der Praxisgruppe und auch Sartre wiederholt eine Dialektik der Natur - letzterer zumindest aktuell - abgelehnt haben, dann sind damit Positionen genannt, deren Gewicht für die Marxismusdiskussion nicht weiter hervorgehoben werden muß. Die in anderen Hinsichten ähnlich gewichtige Position der Sowjet-und DDR-Philosophie, der eine andere Einschätzung der Engelsschen Dialektik zugrundeliegt, hat das Fazit der Diskussion nicht merklich beeinflussen können.

Die Mehrzahl der neueren Stellungnahmen zur Engelsschen Dialektik, die in Westdeutschland erschienen sind, reproduziert - wenn auch mit Modifikationen im einzelnen - dies Fazit (Peter Dudek, 1976; Hartmut Mehringer, Gottfried Mergner, Rudi Netzsch, 1973; Jürgen Frese, 1972; Oskar Negt, 1969; u.a.),7 während nur ein kleiner Teil neben der bereits genannten Sowjet- und DDR-Philosophie zu (tendenziell) anderen Einschätzungen kommt.

Konfrontiert man das in der Kritik dominierende Bild der Engelsschen Dialektikposition mit den Quellen, so erweist es sich als Klischee, das dem dort tatsächlich Entwickelten nicht gerecht wird. Eine genauere Überprüfung macht in der Regel bald deutlich, daß die Kritiken in hohem Maße fragwürdig sind und zwar auf den verschiedensten Ebenen. Dieser Behauptung soll vorweg kurz nachgegangen werden. (Wo nötig, wird zur Illustration auf die für diese Richtung der Kritik maßgebliche und eben bereits ausführlicher zitierte Arbeit von Alfred Schmidt zurückgegriffen):

Wenn wir mit der Untersuchung des Standpunktes beginnen, so ist dieser in zahlreichen Fällen, in denen die Kritik an Engels von einer Marxschen Position aus versucht wird, in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt, zunächst dadurch, daß Marx mit Engels' Position vertraut war, bis dahin, daß sich selbst beim Marx des „Kapital" Äußerungen finden, die bei Engels als unmarxistisch kritisiert würden.(8)

Diese Fragwürdigkeit des Ausgangspunktes wird in der Regel durch ein zweifelhaftes methodisches Vorgehen ergänzt: Das beginnt schon auf der philologischen Ebene. Es ist z.B. immer wieder festzustellen, daß Vorarbeiten und Briefe von Engels ganz unangemessen bewertet und kritisiert werden, indem sie nämlich von Engels veröffentlichten Texten gleichgestellt werden. Ein schlagendes Beispiel solcher hermeneutischen Kunst gibt z.B. Alfred Schmidt an einer Stelle, wo er Engels der Unbekümmertheit gegenüber „idealistisch-spekulativen Voraussetzungen" Hegelscher Kategorien „besonders deutlich" überführen zu können glaubt.(9) Daß es sich dabei um eine Stelle in einem Brief von Engels an Marx handelt und daß Engels in diesem Fall vorausgesetzt haben könnte, daß Marx das Hegelzitat, das er, Engels hier zwar benutzt, aber nicht materialistisch wendet, auch ohne eine solche Hilfestellung richtig verstehen würde, das spielt in den Schmidtschen „Beweisgängen" keine Rolle!

Darüber hinaus wird die Engelssche Position in zentralen Fragen verkürzt oder sonstwie entstellt wiedergegeben: Entgegen z.B. der Schmidtschen Feststellung, daß alle Behauptungen „bezüglich der Natur ... isoliert von der lebendigen Praxis des Menschen"(10) in Engels' Altersphilosophie auftauchen, ist festzustellen, daß sich Engels durchgängig auf die naturwissenschaftliche Forschung und deren experimentelle Praxis stützt.(11) Darüber hinaus weist er wiederholt auf den Zusammenhang von Produktion und Naturforschung hin.(12) Weiter, so Schmidt, schwebt Engels die Dialektik in der Naturwissenschaft im Grunde nur als Instrument zur enzyklopädischen Verarbeitung des modernen naturwissenschaftlichen Materials vor,(13) eine Aussage, die die von Engels seit der Rezension herausgestellte Bedeutung der Dialektik auch als Forschungsmethode(14) faktisch ignoriert. Die Fragwürdigkeit der Kritik, die an einem so entstandenen Engelsbild ansetzt, liegt wohl auf der Hand. Durchweg aber wird Engels' Konzeption außerdem noch - und dies ist das Schwerwiegendste - an einem Dialektikbegriff gemessen, der nicht der seine ist.

Gehen wir schließlich über zu den Ergebnissen, die so gewonnen werden (wir greifen zurück auf das aus der Schmidtschen Schrift zu Beginn gezogene Resümee):

Der Behauptung, daß Engels mit seiner Naturkonzeption, da wo er über Marx hinausgeht, hinter ihn zurückfalle, ist zu entgegnen, daß Marx selbst dieser Ansicht nicht war. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Marx Engels' Dialektikkonzeption im wesentlichen noch zur Kenntnis nehmen konnte und billigte, ja von der Gültigkeit dialektischer Strukturen in der Natur selbst spricht. Der Dogmatismusvorwurf gegen Engels wird insbesondere nach Kenntnisnahme des Engelsschen Standpunktes zur Frage von absoluter und relativer Wahrheit und seines Wissenschaftskonzeptes von keinem Leser mehr ohne weiteres hingenommen werden können. Weiter ist es wohl als unbefriedigend zu bezeichnen, wenn statt die Aussagen zur Natur (und vor allem die Methode ihrer Gewinnung) auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen, sie schlicht mit den Etiketten „Metaphysik" und „Ontologie" versehen werden und Naturdialektik, so etikettiert, als indiskutabel abgetan wird. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Engelssche Theorie grundlegend von dem differiert, was traditionell als Metaphysik und Ontologie gilt; und es bleibt zu überprüfen, ob tatsächlich Abstinenz von Aussagen über Bereiche der Wirklichkeit in der Weise geübt werden kann, wie es diese Kritik suggeriert, oder ob so nicht umgekehrt in dogmatischer Weise ein unbequemer Bereich ausgeklammert wird - quasi als Umkehrung der von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Infragestellung der Philosophie oder der Gesellschaftswissenschaften.

Gegenüber der Behauptung, daß Engels Marx' historisch-materialistische Konzeption um die Deutung einer „von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur" und eine „rein objektive" Dialektik erweitert, ist festzustellen: Bei Engels gibt es weder das eine noch das andere; sondern: Aus den gesellschaftlichen Erfahrungen mit der Natur läßt sich kritisch extrapolieren, wie und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich die Natur entwickelt. Diese Kenntnisse sind die einzig möglichen, die wir über die Natur bekommen können. Sie sind notwendig z.B. auch für eine rationale Rekonstruktion der vormenschlichen Naturgeschichte, vor allem aber für den Kontakt der Gesellschaft mit der Natur, dessen wichtigste Form, der „Stoffwechsel" Mensch-Natur im Arbeitsprozeß nur durch sie vollzogen und optimiert werden kann. Die Extrapolationen müssen auf Erfahrungen beruhen, sie sind teilweise fehlerhaft und müssen deshalb insgesamt laufend überprüft und verändert werden. Das hat Engels nicht nur gewollt, sondern wie seine Wissenschaftskonzeption zeigen wird, deutlich festgelegt. Wenn sich somit Aussagen zur Natur wie zur Gesellschaft als notwendig erweisen, geht es um die gesamte Wirklichkeit oder „Welt" im Engelsschen Sinne, also um Weltanschauung. Diese Weltanschauung beinhaltet positive Prinzipien und muß sie beinhalten, will sie Anleitung zum Handeln sein. Daß und inwieweit „positiv" bei Engels nicht unveränderlich, abschlußhaft usw. heißt, wird im folgenden deutlich werden.

Wenn wir hier die Untersuchung der Stichhaltigkeit des gängigen Urteils über die Engelssche Dialektik abbrechen, dürfte aber wohl dennoch fraglich geworden sein, nicht nur ob dieses Urteil „das letzte Wort" zu diesem Thema darstellt, wie es z.Zt. scheint, sondern auch, ob es überhaupt ein wissenschaftlich haltbares ist. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Richtung der Sekundärliteratur wird Genaueres festzustellen haben.

Zu einer anderen Auseinandersetzung mit dem Engelsschen Modell gibt es außerhalb der eben kritisierten, z.Zt. gängigen Richtung sehr wohl Positionen und Anregungen: Auszugehen ist zunächst einmal davon, daß Marx, Lenin und Mao Tsetung eindeutig eine Vereinbarkeit der Engelsschen Dialektik mit der Marxschen Theorie voraussetzen. Daneben ist Hinweisen nachzugehen wie denen von Lukacs, der selbstkritisch seine frühe Dialektikposition als teilweise „idealistisch" und „hegelisch" charakterisiert hat.(15) Heute geht neben einigen westdeutschen Autoren(16) vor allem die DDR-Wissenschaft im deutschsprachigen Raum durchgängig von einer prinzipiellen Vereinbarkeit der Engelsschen Dialektikposition mit der Marxschen aus. Die kritische Sichtung und Verarbeitung des gesamten auf dieser Seite erarbeiteten Materials stellt sicherlich ein Stück des Weges zu einem angemesseneren Bild des Engelsschen Dialektikmodells dar.

Abschließend sei noch besonders auf die Dialektik - auch die Naturdialektik - als „ein Produkt politischer Praxis" hingewiesen. Ganz anders als 1969 macht Oskar Negt 1976 auf eine positive politisch-strategische Funktion sogar der Engelsschen Naturdialektik aufmerksam.(17) Die Frage, inwiefern Engels' Beschäftigung mit Dialektik eine politische Funktion hatte, werden wir zu Beginn der nun folgenden Darstellung aufgreifen.

B. Die für engels' dialektik-modell relevanten schriften und ihr politischer hinTergrund (1859-1888)

Die Reihe der Schriften, aus denen sich das Engelssche Dialektik-Modell in seiner zuletzt entwickelten Form rekonstruieren läßt, beginnt mit der Rezension: „Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859.(18) Sie wird fortgesetzt nach einem längeren Zeitraum durch die beiden Hauptschriften zur Frage der Dialektik, die in der Zeit von 1873-1886 entstehen: Die Fragment und bis 1925 größtenteils unveröffentlicht gebliebene „Dialektik der Natur"(19) und „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (Kurztitel: „Anti-Dühring").(20) Bis zum Ende der fünfziger Jahre haben Marx und Engels sich bereits intensiv mit dem Bereich der Gesellschaft theoretisch und praktisch-politisch auseinandergesetzt, und Engels stellt als ein Ergebnis dieser Beschäftigung materialistische Dialektik als gültig für den gesamten Bereich der Gesellschaft dar; insofern ergänzt er Marx' grundlegende politisch-ökonomische Arbeiten. Mit dem Jahr 1873 beginnend, setzt sich Engels aber noch weitergehend mit Dialektik auseinander. Aufschluß darüber gibt ein Brief,(21) in dem zu einem Problem, das bisher im Hintergrund gestanden hat, Stellung genommen wird: zum Verhältnis von Dialektik und Natur. Engels äußert hier die Absicht, über dieses Thema in umfassender Weise zu arbeiten. Er beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie und den Naturwissenschaften, die in dem Fragment „Dialektik der Natur"(22) posthum veröffentlicht worden ist. Die Arbeit daran findet - mit Unterbrechungen - in der Zeit von 1873-1886 statt.

Mit einer Bestätigung seiner Hypothese, daß Dialektik auch in dem von Marx und ihm bisher nicht genauer untersuchten Bereich der Natur Geltung hat - wenn auch in anderer Form als in der gesellschaftlichen Wirklichkeit -sieht Engels unter Einbeziehung der bisherigen Ergebnisse die Grundlage für eine Generalisierung der Dialektik gegeben. Die Hauptschrift von Engels, die in den Jahren 1876 bis 1878 ursprünglich in polemischer Absicht verfaßt worden ist, der „Anti-Dühring," ist in seinen positiven Aussagen der Versuch, aufbauend auf den Ergebnissen der gesamten, auch dieser letzten Arbeiten, „kompendienartig" eine Darstellung des Marxismus als „Weltanschauung" zu geben, in der die Dialektik die gesamte Wirklichkeit durchdringt. Ein Auszug aus dieser Schrift ist mit dem programmatischen Titel: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"(23) 1880 erschienen. Marx schreibt in einem Vorwort dazu: „Wir bringen in der vorliegenden Broschüre die treffendsten Auszüge aus dem theoretischen Teil dieses Buchs (gemeint ist der „Anti-Dühring"; d. V.), die gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus bilden."(24)

1888 schließlich legt Engels in „Ludwig Feuerbach ,.."25 nochmals Rechenschaft darüber ab, wie aus den beiden unmittelbaren Anknüpfungspunkten, Hegel und Feuerbach, der neue dialektische Materialismus mit der materialistisch begründeten Dialektik entstanden ist, und er versucht dabei herauszuarbeiten, welches die jeweiligen Differenzen des Marxismus sowohl zur vorgefundenen Hegeischen Dialektik als auch zum Feuerbachschen Materialismus sind.

Damit sind die Schriften genannt, die hier zugrundeliegen. Es sind ausschließlich solche, die sich auf theoretischer Ebene ausführlicher mit Dialektik auseinandersetzen. Auf sie müssen wir uns hier beschränken.

Über den Stellenwert seiner Arbeiten unter dem Gesichtspunkt der Zusammenarbeit mit Marx schreibt Engels: "In Folge der Teilung der Arbeit, die zwischen Marx und mir bestand, fiel es mir zu, unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten, zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Form, im Gegensatz zu anderen Anschauungsweisen, darzustellen."(26) Obwohl dies von Engels hier nur für seine Pressebeiträge formuliert wird, gilt diese Aufgabenteilung auf entsprechender Ebene auch für die eben genannten größeren Arbeiten.

Trotz ihres allgemein-theoretischen Charakters wird in ihnen ein sozialer, i.e.S. politischer Bezug deutlich. Die gegnerischen Anschauungsweisen, denen Engels im ideologisch-theoretischen Kampf entgegentritt, sind zu dieser Zeit im wesentlichen kleinbürgerlich-vulgärsozialistische und mechanisch-materialistische Positionen, die auf dem Wege der Theorie Einfluß auf die Politik der Arbeiterbewegung nahmen bzw. nehmen wollten. Daß diese theoretisch ausgetragenen Kämpfe politische Auswirkungen hatten, bzw. politische Kämpfe waren, zeigt sich besonders augenfällig im Falle Dührings, gegen den sich der „Anti-Dühring" richtet. Dühring, einer der Führer der kleinbürgerlich-sozialistischen Bewegung, löste durch seine Angriffe weitreichende Auseinandersetzungen in der sozial-demokratischen Partei aus: Es bildete sich sogar eine antimarxistische Dühring-Fraktion. Inhaltlich wurde dieser theoretische Kampf maßgeblich auch um die Dialektik gefühlt. In deren Ablehnung waren sich die Dühring-Anhänger mit der soeben genannten zweiten wichtigen Strömung einig, den - meist naturwissenschaftlich orientierten - „mechanischen Materialisten," gegen die sich wohl die vollendete „Dialektik der Natur" gerichtet hätte. Dieser Politik mittels Theorie galt es auch theoretisch, und dies auch konkret im Fall der Dialektik, zu begegnen. Der Aufgabe stellt sich Engels in den angeführten Schriften.

In der Abwehr antimarxistischer und antidialektischer Positionen ist aber nur eine Aufgabe dieser Arbeiten zu sehen. Weitreichender ist die in die Zukunft weisende - wiederum politische - Absicht, die z.B. durch die späteren Auflagen des „Anti-Dühring" immer deutlicher wird: Festigung der weltanschaulichen Positionen der Arbeiterbewegung insbesondere ihrer Parteien im Sinne des dialektischen Materialismus, der für Engels die notwendige theoretische Grundlage für wissenschaftliche proletarische Politik darstellt. Die Verbindung von Theorie und Politik bestimmt Engels selbst folgendermaßen: Die proletarische Revolution „durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zu Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus,"(27) d.h. hier des Marxismus. Dessen materialistische Geschichtsauffassung und deren „spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik."(28)

In diesen Zusammenhängen ist Engels' Beschäftigung mit Dialektik zu sehen, und hat er sie selbst gesehen.
 

C. DARSTELLUNG DER ENGELSSCHEN DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Methodisches

Das oberste Ziel dieses Kapitels ist es - zumal in Hinblick auf die anfangs geschilderte Diskussionssituation - ein den Intentionen Engels' möglichst angemessenes Bild seiner Dialektik-Konzeption zu geben. Methodisch werden wir uns dazu des Verfahrens einer möglichst textnahen Rekonstruktion bedienen. D.h. erstens, daß wir uns auf der Begriffsebene wie auf der Ebene einzelner Aussagen an die Bestimmungen halten, die Engels selbst gibt. So gilt z.B. Dialektik als dasjenige, als das Engels selbst sie bestimmt. Zweitens werden wir uns auf der Ebene der Strukturierung der Einzelaussagen und Aussagenzusammenhänge entsprechend an Engels' eigene Pläne und Gliederungen halten. Schließlich werden die Eingriffe, die nötig sind, z.B. um einen zusammenhängenden Text herzustellen, aber auch um auf Fragen und Zusammenhänge einzugehen, die so bei Engels nicht zugrundelagen, über einfache analytische Schritte nicht hinausgehen.

Aus dem Charakter dieses Beitrages ergibt sich, daß sich die folgende Systematisierung der Aussagen, die Engels zur materialistischen Dialektik macht, auf zweierlei beschränken muß:

- Es wird nur Engels' Standpunkt in der von ihm zuletzt entwickelten Form berücksichtigt.

- Es können nur die allgemeineren Aussagen zur Dialektik aufgenommen werden, in der Absicht, die Prinzipien der Engelsschen Auffassung deutlich zu machen. Besonders ausführlich werden wir versuchen, eine Bestimmung von' „materialistischer Dialektik" im Sinne einer Definition herauszuarbeiten.

2. Engels' Pläne für eine Systematisierung der Dialektik

Als Pläne für eine systematische Darstellung von Dialektik im soeben erläuterten Sinn können gelten:

die beiden sogenannten „Planskizzen" aus dem Fragment „Dialektik der Natur"(29) und die Gliederung des „Anti-Dühring."(30)

Für die zunächst notwendige Gesamtplanung kommen die sogenannte „Skizze des Gesamtplans" der „Dialektik der Natur"(31) und die Gliederung des „Anti-Dühring" in Betracht, wobei im Falle des „Anti-Dühring" vorausgesetzt ist, daß, obwohl dieser Text thematisch weiter gefaßt ist, Dialektik durchgängig eine zentrale Rolle spielt. Welche Orientierung können nun diese beiden Pläne geben?

In der sogenannten „Skizze des Gesamtplans" sieht Engels für den Anfang eine „Historische Einleitung" vor, in der gezeigt werden soll, daß „in der Naturwissenschaft durch ihre eigene Entwicklung die metaphysische Auffassung unmöglich geworden"(32) ist. Als zweiter Punkt ist vorgesehen, den „Gang der historischen Entwicklung seit Hegel" zu verfolgen. Es bilden also zwei genetische Teile den Anfang dieses Systematisierungsversuches. Daß es sich dabei nicht lediglich um einen Aspekt der Forschung handelt, der später in der Darstellung anders verarbeitet würde, und daß dieses Vorgehen für Engels über die Behandlung der Naturdialektik hinausgehende Bedeutung hat, dafür spricht, daß der „Anti-Dühring" in der „Einleitung"(33) ebenfalls mit einem historisch-genetischen Teil beginnt, der erstens diese beiden Punkte der „Skizze des Gesamtplans" enthält und zweitens umfassend, d.h. über den Bereich der Natur und der Naturwissenschaft hinaus ausgerichtet ist. In den vorliegenden Systematisierungen zur Dialektik steht also ein genetischer Teil am Anfang, der sich mit der theoretisch-wissenschaftlichen Entwicklung befaßt.

An die beiden historischen Teile der „Skizze des Gesamtplans" (Punkte i und 2 dieses Planes) schließt Engels den systematischen Teil i.e.S. an (Punkte 3-11). Im Punkt 3 beginnt Engels mit der Darstellung der Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs." Es werden die „Hauptgesetze" aufgeführt, und es scheint, daß im Sinne dieses Plans auch andere - alle allgemeinen - Momente der Dialektik hier zu entwickeln sind, denn im folgenden wird die Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt. Der letzte Teil (Punkte 4-11), der umfangreichste dieser Engelsschen Planskizze, beschäftigt sich nämlich im wesentlichen mit den einzelnen Wissenschaften hinsichtlich ihres Zusammenhangs (Punkt 4) und „deren dialektischem Inhalt" (Punkt 5), also mit angewandter oder spezieller Dialektik. Nach einem systematischen Durchgang durch die Naturwissenschaften wendet sich Engels am Ende der Planskizze auf dem Hintergrund des bisher Behandelten speziellen Problemen der Naturerforschung im weitesten Sinne zu. Damit endet die „Skizze des Gesamtplans."

Wir werden dieser Engelsschen Gliederung folgen, jedoch mit Modifikationen:

1. Die „Skizze des Gesamtplans" der „Dialektik der Natur," die auf die Natur und die Naturerforschung zugeschnitten ist, soll um die Aspekte Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaften ergänzt werden. Eine solche Ergänzung kann sich auf Engels' Theorie der Bewegungsformen (s. dazu weiter unten) sowie auf den Argumentationsgang des „Anti-Dühring" stützen. Das bedeutet methodisch, daß wir sowohl die „Skizze des Gesamtplans" im Punkt 4 und 5 erweitern als auch über die Inhalte der „Dialektik der Natur" aufgrund ihrer engeren Themenstellung hinausgehen müssen.

2. Nach der Darstellung der allgemeinen Aussagen über Dialektik im Zusammenhang mit der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang und der Darstellung des „Zusammenhangs der Wissenschaften" gehen wir nicht ins einzelne, wie in der Engelsschen Gliederung vorgesehen, sondern bleiben auf einer allgemeineren Ebene stehen und begnügen uns damit, die besondere Dialektik der drei Grundbereiche, Natur, Gesellschaft und Denken, und die entsprechenden Wissenschaftsbereiche kurz zu behandeln. Es werden also alle Wissenschaften zu drei Gruppen zusammengefaßt, wobei wir eine von Engels entwickelte Gruppierung der Wissenschaften übernehmen.

3. Wir erschöpfen weder extensional noch vor allem aber intensional den Inhalt der „Dialektik der Natur" oder des „Anti-Dühring," den beiden hauptsächlichen Quellen der weiteren Darstellung.

3. Der genetische Teil des Systematisierungsansatzes

Einen weit ausholenden Versuch, die Entwicklung hin zur Entstehung der materialistischen Dialektik darzustellen, unternimmt Engels im „Anti-Dühring." Dabei bereinigt er den historischen Verlauf, „aber ... nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet"34) wird. Danach gibt es zwei Schwerpunkte in der Theoriegeschichte auf dem Wege zur materialistischen Dialektik:

- die „naturwüchsige" dialektische Anschauungsweise der Antike und

- die „metaphysische Denkweise" der Neuzeit, darauf aufbauend folgt dann:

- die materialistisch-dialektische Anschauung des Marxismus. Diese

Schritte sollen als Grundlage für die folgende genetische Darstellung dienen, jedoch folgendermaßen erweitert:

1. Zwischen der „metaphysischen Denkweise" und der „materialistischdialektischen Anschauung" des Marxismus behandelt Engels - als Übergang und damit als unmittelbare Voraussetzung für die materialistische Dialektik - die klassische deutsche Philosophie mit ihren Höhepunkt Hegel und dessen unmittelbarem Nachfolger Feuerbach. Dieser Punkt soll auch hier an entsprechender Stelle aufgenommen werden.

2. Auf Grund der inhaltlichen Nähe von historischem und systematischem Teil besonders beim ersten Schritt sollen in Form eines Exkurses Engels' allgemeine Bestimmungen von „Dialektik" herausgearbeitet werden.

a. Naturwüchsig-dialektische Anschauungsweise der Antike: Erfassung (nur) des allgemeinen Charakters des Gesamtbildes der Erscheinungen

Der erste für das dialektische Denken grundlegende Schritt wird nach Ansicht von Engels bereits in der griechischen Philosophie getan. Die antike Dialektik läßt, gleichgültig ob die Natur, die Menschengeschichte oder die menschliche geistige Tätigkeit denkend betrachtet wird, „das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen (entstehen; d.V.), in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge."(35) Der historische Zeuge, den Engels für diese seine Position zitiert und der dies „zuerst klar ausgesprochen" hat, ist Heraklit: „Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen."(36) „Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt"(37) (des Gesamtzusammenhanges) weist folgenden Mangel auf: Sie kann keine Erklärung der Einzelheiten geben, denn: „Der Gesamtzusammenhang ... wird nicht im einzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der unmittelbaren Anschauung."(38)

Exkurs: Versuch, Engels' allgemeines Verständnis von Dialektik zu bestimmen

Hier soll auf einer ersten Stufe der Versuch unternommen werden, die Momente zu erfassen, deren Vorhandensein Engels von Dialektik sprechen läßt. Engels weist, wie wir soeben sahen, auf die partielle Richtigkeit auch schon der naturwüchsigen Dialektik hin. Was macht diese Dialektik aus? Welches sind vor allem ihre bleibenden Momente? Aspekte von Dialektik, denen wir der Sache nach ständig in den vorgetragenen Zusammenhängen begegnet sind, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

(Selbst-)Bewegung, Prozeß: Alles ist in ständiger Bewegung (stellt einen Prozeß dar), und Bewegung ist nicht nur mechanische Bewegung der Dinge, sondern überhaupt jede Veränderung an den Dingen oder in ihnen. Diese Bewegung ist außerdem (da die ursprünglichen Dialektiker auch „naturwüchsige Materialisten" sind, bei ihnen nicht von außerhalb der Welt ausgelöst, sondern) eine inhärente Eigenschaft der Welt bzw. der Materie: Selbstbewegung. Mit der Einführung der Kategorie Bewegung sind Raum und Zeit (und auch Begriffe wie Dauer, Ausdehnung usw.) als Grundformen der Materie vorausgesetzt, denn die Bewegung oder Veränderung ist nur in Raum und Zeit möglich.

Zusammenhang, Einheit, Totalität: Alles ist nicht nur in ständiger Bewegung, sondern alles steht auch untereinander in einem Zusammenhang. Es gibt zwar einzelne „Dinge" bzw. Prozesse, diese sind aber immer in mannigfaltigen Beziehungen zu anderen und bilden insgesamt den jeweiligen Gesamtzusammenhang, die Welt, die also als Totalität oder Einheit gesehen wird. (Auch dies wurde von dem griechischen „dialektischen Materialismus" gesehen, „der ganz natürlich in seinem Anfang die Einheit in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen als selbstverständlich ansieht."(39) Dieser jeweilige „räumliche" oder synchrone Weltzusammenhang bildet jedoch auch noch insgesamt (und in seinen einzelnen Bestandteilen) einen Zusammenhang mit Vorhergegangenem und Nachfolgendem, steht also auch in einem zeitlichen Kontinuum, ist historischer Entwicklungszusammenhang.

Wechselwirkung: Die beiden behandelten Aspekte lassen die Welt als einen bewegten (Gesamt-)Zusammenhang oder eine prozessierende Totalität erkennen. Die Kategorie der Wechselwirkung konkretisiert den Begriff des Zusammenhangs. Zusammenhang entsteht dadurch, daß jedes Moment dieser Einheit auf andere Momente wirkt und Einwirkung von anderen Momenten erfährt. In diesem Bewegungskomplex geschieht also nichts isoliert. „Jedes wirkt aufs andere und umgekehrt,"(40) es besteht also Wechselwirkung. Die jeweils konkrete Form des Wirkungszusammenhanges erkennen, heißt das jeweils konkrete „Ding" bzw. den jeweils konkreten Prozeß erkennen. "Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nichts zu Erkennendes liegt."(41) Von der umfassenderen Kategorie der Wechselwirkung ausgehend, kann Engels auch den Begriff der Kausalität einordnen und näher bestimmen: „Erst von dieser universellen Wechselwirkung kommen wir zum wirklichen Kausalitätsverhältnis. Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehen, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andere als Wirkung."(42)

Widerspruch, Einheit Entgegengesetzter: Daß alles voneinander unterschieden ist und somit Unterschiedenes untereinander im Zusammenhang steht, ist die gewöhnliche Ansicht. Bereits die antike Dialektik geht so weit. Widersprüchliches in Zusaminengang und in eine Einheit zu bringen. Alles oder jedes einzelne „ist und ist nicht" (Heraklit) und muß somit als Einheit von Entgegengesetztem gesehen werden.

Diese Widersprüchlichkeit folgt nach Engels aus dem Bewegungs- und Zusammenhangscharakter der Wirklichkeit: „Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich neben- und nacheinander betrachten, stoßen wir allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. Wir finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam, teils verschieden, ja einander widersprechend, aber in diesem Fall auf verschiedene Dinge verteilt sind und also keinen Widersprach in sich enthalten. ... Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten wir sofort in Widersprüche."(43)

Zwei der beschriebenen Momente von Dialektik werden von Engels immer wieder benutzt, um „Dialektik" in Kurzform zu charakterisieren. In der „Dialektik der Natur" wird „Dialektik" bestimmt „als Wissenschaft von den Gesamtzusammenhängen,"(44) im „Anti-Dühring" wird dem inhaltlich hinzugefügt: „Die Dialektik ist ... die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens."(45) Diese beiden Momente, Bewegung und Zusammenhang, werden in einer weiteren Bestimmung zusammengefaßt, in der es heißt, daß die Dialektik die Dinge und ihre Begriffe „wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehen auffaßt."(46)

Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß Bewegung und Zusammenhang in gewisser Weise als Grundkategorien der Dialektikauffassung von Engels anzusehen sind, aus deren Konkretisierung sich beispielsweise die Kategorien Widerspruch und Wechselwirkung ergeben.

Kehren wir mit diesen ersten Ergebnissen, die Dialektik nach Engels allgemein charakterisieren, zur Theoriegeschichte zurück: Die naturwüchsig dialektische Anschauungsweise der Antike erfaßte nur den allgemeinen Charakter der Wirklichkeit, aber nicht die Einzelheiten, aus denen sie sich zusammensetzt. Aber: „solange wir dies nicht können, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar."(47) Mit diesem Mangel ist gleichzeitig der nächste notwendige Entwicklungsschritt aufgezeigt, der getan werden muß, um der exakten Erfassung des Weltganzen näher zu kommen.

b. Metaphysische Denkweise der Neuzeit: exakte Erfassung (nur) der Einzelheiten, aus denen sich das Gesamtbild der Erscheinungen zusammensetzt

Historisch eingelöst sieht Engels diesen nächsten Schritt durch die exakte Natur- und Geschichtsforschung der Neuzeit. Die Einzelwissenschaften müssen zunächst, um „Einzelheiten zu erkennen ..., sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besonderen Ursachen und Wirkungen usw. untersuchen."(48) Die daraus resultierende Betrachtung der Wirklichkeit, Isolierung der einzelnen Momente eines Zusammenhanges, nennt Engels die „metaphysische" Denk- oder Betrachtungsweise. Sie ist für ihn „aufweiten, je nach der Natur des Gegenstandes ausgedehnten," auf jeden Fall aber beschränkten „Gebieten berechtigt und sogar notwendig."(49) Sie ist die Grundbedingung der Fortschritte, die die moderne Forschung gemacht hat. Die erfolgreiche Vorgehensweise vor allem der Naturwissenschaften führte jedoch zur Verabsolutierung dieser „metaphysischen" Denkweise, die die „spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte" hervorgebracht hat. In ihrer verabsolutierten Form sieht die metaphysische Denkweise ihre Untersuchungsgegenstände aber überhaupt nur noch „in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhanges ...; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod."(50)

Dieser besondere Gebrauch von „metaphysisch" ist bei Engels durchgängig vorhanden und deshalb für die weitere Lektüre in Erinnerung zu behalten. Als - allerdings einseitige - historische Überwindung ersten dialektischen Denkens hat das metaphysische Denken einerseits komplementäre Erkenntnismöglichkeiten und -formen herausgebildet, aber andererseits -verabsolutiert - zu einer der Dialektik entgegengesetzten Gesamtanschauung geführt. So ist es zu erklären, daß Engels vor allem in der Polemik gegen zeitgenössische Theoretiker „metaphysisch" als Entgegensetzung zu „dialektisch" gebraucht und damit kritisch die verabsolutierte metaphysische Denkweise kennzeichnet.

c. Die neuere deutsche Philosophie: Übergang zur bewußten exakten Erfassung des Weltganzen

Die naive dialektische Anschauungsweise hatte nur das Weltganze im Allgemeinen erkennen können, die metaphysische nur die Einzelheiten ohne Gesamtzusammenhang. Ein wirklicher Fortschritt ist bei dieser Konstellation nur möglich in der Synthese der positiven Momente beider Anschauungsweisen. Mit dieser Synthese wäre die exakte Erfassung des Wehganzen möglich. Die neuere deutsche Philosophie seit Kant tut nun wesentliche Schritte hin zu einer solchen Synthese:

„Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens"(51) in einer historischen Situation, die in weiten Bereichen durch metaphysisches Denken im eben erläuterten Engelsschen Sinne gekennzeichnet war. Ihren Höhepunkt und „Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegeischen System, worin zum erstenmal - und das ist sein großes Verdienst-die ganze natürliche und geistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den inneren Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen."(52) Dies war aber auch nur deshalb möglich, weil Hegel „nicht nur ein schöpferisches Genie war," vor allem auch als Dialektiker, „sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit,"(53) d.h. weil er über entsprechend umfangreiche positive Kenntnisse verfügte. Eine weitere wesentliche Besonderheit bestand darin, daß er nicht etwa genialisch-intuitiver Dialektiker war, sondern die „allgemeinen Bewegungsformen (der Dialektik; d.V.) zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat,"(54) wie Marx festgestellt hat.

Anhand dieses Hegeischen „Kompendiums" empfiehlt Engels Dialektik zu studieren, er hat sich dessen, wie seine Schriften zeigen, auch selbst fortlaufend bedient. Bei diesem Dialektikstudium mit Hilfe der Werke Hegels macht Engels jedoch wesentliche Vorbehalte, die gleichzeitig zeigen, daß der exakten Erfassung der Welt bei Hegel entscheidende Hindernisse im Wege standen:

Zunächst erscheint die Dialektik im Hegeischen System in mystifizierter Form, nicht als Bestimmung einer empirisch erfaßten Wirklichkeit, sondern als Ausdruck des Wirksamwerdens des Geistes in einer äußerlichen Wirklichkeit. Hegel geht nämlich davon aus, „daß der Geist, der Gedanke, die Idee das Ursprüngliche, und die wirkliche Welt nur der Abklatsch der Idee sei."(55) D.h. Hegel war Idealist. Sein „Kompendium der Dialektik" ist also ein „von ganz falschem Ausgangspunkt her entwickeltes." Dieser idealistische Ausgangspunkt bewirkt einerseits eine „Umkehrung alles wirklichen Zusammenhangs ... in allen Verzweigungen seines Systems"(56) und führt andererseits zu teilweise der Wirklichkeit gegenüber spekulativen, d.h. willkürlichen Konstruktionen, die wesentlich mit Hilfe der Dialektik bewerkstelligt werden und der Vervollkommung des Systems dienen. Folge dieses Idealismus ist also, daß sowohl die Tatsachen, die Empirie, mißachtet als auch daß die Dialektik dazu mißbraucht wird.

Was nun offensichtlich zu tun blieb, um die exakte Erkenntnis des Weltganzen zu ermöglichen, war die Überwindung des Hegeischen Idealismus mit seinen Folgen. Dieser Schritt, die Überwindung des Hegeischen Mystizismus, geschah bald nach seinem Tod im wesentlichen durch seine Anhänger und Schüler selbst. Feuerbach kritisierte den Hegeischen Idealismus durchschlagend und erhob „den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron."

d. Dialektisch-materialistisches Vorgehendes Marxismus: Beginn der bewußten exakten Erfassung des Wellganzen

Feuerbach durchbrach das System" Hegels /.war, aber er „warf es einfach beiseite."

Damit war zwar der Materialismus wieder eingesetzt, aber um den Preis des Verlustes vor allem der Hegeischen Dialektik. Eine Weiterentwicklung konnte aber nur durch die Beibehaltung der Dialektik einerseits und des Materialismus andererseits Zustandekommen, und das bedeutete die Wiederaufnahme sowohl Hegels als auch Feuerbachs trotz ihrer konträren Positionen. Im Falle von Marx und Engels erfolgte zunächst „die Trennung von der Hegeischen Philosophie ... auch durch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt. Das heißt man entschloß sich, die wirkliche Welt - Natur und Geschichte - so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eigenen Zusammenhang und in keinem phantastischen aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen läßt."(57) Positiv formuliert, heißt Rückkehr zum materialistischen Standpunkt, hier gegen den Idealismus gewandt: Erklärung der Wirklichkeit aus sich selbst.

Auf der anderen Seite aber wird Hegel nicht einfach beiseite gelegt, wie bei Feuerbach, sondern man knüpfte im Gegenteil an seine revolutionäre Seite, an die dialektische Methode an.(58) Engels stellt an vielen Stellen heraus, daß Hegel für Marx und ihn ein ständiger Anknüpfungspunkt in der Frage der Dialektik geblieben sei. Von den allgemeinen Bewegungsformen der Dialektik, die er richtig entwickelt hatte, über zahlreiche Einzelerkenntnisse und richtige Anwendungen bis hin zur Terminologie hat Hegel Grundlegendes für das dialektische Denken geleistet. Daß und aus welchen Gründen die Dialektik „in ihrer Hegeischen Form unbrauchbar" war, wurde bereits dargelegt. Die Weiterentwicklung der Dialektik auf diesem Stand zu einem Instrument der exakten Erfassung des Weltganzen lag in einem grundlegenden Sinn in ihrer Materialisierung, denn aus beiden Fällen - antiker Dialektik und Hegelscher Dialektik - wird deutlich, daß trotz grundlegender richtiger Momente bzw. sogar trotz einer umfassenden Erkenntnis der dialektischen Bcwegungsformen, d.h. durch Dialektik allein in keiner Weise das angestrebte Erkenntnisziel garantiert ist. Es muß infolgedessen das materialistische Moment zunächst weiterverfolgt werden, um die neue Qualität der materialistischen Dialektik, die die alten Fehler vermeiden soll, zu erreichen. Von den Weiterentwicklungen, die Marx und Engels an dem Feuerbachschen Materialismus vorgenommen haben, sollen nur zwei aufgeführt werden, die für die dialektische Anschauungsweise von unmittelbarer Bedeutung sind: Es sind erstens die konsequente Durchführung des Materialismus auch in der Geschichte, die bei Feuerbach noch wesentlich idealistisch gefaßt wurde, und zweitens die festere Bindung des Materialismus an die positiven Wissenschaften und die Empirie: „Darüber sind wir alle einig, daß auf jedem wissenschaftlichen Gebiet, in der Natur wie in der Geschichte von den gegebenen Tatsachen auszugehen ist."(59)

Das Fazit der Betrachtungen über die Dialektik im deutschen Idealismus und in der folgenden Entwicklung bis zur materialistischen Dialektik macht auf ein - gegenüber der ersten Dialektikexplikation - neues und wichtiges Moment aufmerksam: die „Einbindung" der Dialektik. Dialektik scheint, so allgemein wie sie bisher bestimmt wurde, in gewissem Maße indifferent gegenüber dem Standpunkt, der Vorgehensweise oder der Methode oder dem System zu sein, als dessen Bestandteil sie füngiert. Dialektik wird von Hegel zuerst in ihren allgemeinen Bewegungsformen „in umfassender und bewußter Weise dargestellt." Das verhindert aber nicht, daß sie mystifiziert wurde, „sie steht bei ihm auf dem Kopf."(60) Sie wird - um im Bild zu bleiben - „umgestülpt," und der rationelle Kern, eben die „allgemeinen Bewegungsformen der Dialektik," fungiert in einer materialistischen Theorie. Aus dieser Indifferenz zentraler Bestimmungen der Dialektik muß, um das Ziel, die exakte Erfassung des Weltganzen, zu erreichen, die Konsequenz gezogen werden, daß die Dialektik notwendig der Materialisierung bedarf und erst dadurch „materialistische Dialektik" wird. Daß - und das ist auch für die Dialektik wichtig - der Materialismus sich nicht auf die materialistische Grundauffassung beschränken darf, sondern diese - antispekulativ - durch die positiven Ergebnisse der Einzelwissenschaften ergänzt werden muß, und zwar auf allen Gebieten in Natur und Geschichte, also konsequenter Materialismus sein muß, wurde bereits zu zeigen versucht.

Materialistische Dialektik ist also bei Engels zunächst historisch abgeleitet eine spezifische Dialektik, die zur exakten Erkenntnis des Weltganzen beitragen soll.

Gehen wir von diesem historischen Fazit über zur systematischen Betrachtung "materialistischer Dialektik" i.e.S.

4. Der systematische Teil des Systematisierungsansatzes

a. Engels' Bestimmung materialistischer Dialektik

Über die Versuche hinaus, Dialektik in einer Weise zu bestimmen, die alle Positionen von der Antike bis zu seiner eigenen Zeit umfaßt und die auf Grund dieser Allgemeinheit indifferent gegen die jeweilige Einbindung der Dialektik ist, scheint folgender Passus in Absetzung von, d.h. in Differenzierung dieser allgemeinen Bestimmung „materialistische Dialektik" zu explizieren:

Im „Ludwig Feuerbach" heißt es, daß die Dialektik „die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens"(61) ist; und dann werden beide Bereiche über die Gesetze der Bewegung sowohl der äußeren Welt wie des Denkens in Beziehung gesetzt. Engels beschreibt sie als „zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewußtsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch großenteils in der Menschengeschichte sich in unbewußter Weise, in der Form der äußern Notwendigkeit, inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen."(62)

Auf Grund dieses Zusammenhanges der beiden „Reihen" der Dialektik kommt Engels zu folgender Bestimmung von materialistischer Dialektik: „Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen (d.h. hier: materiellen; d.V.) Welt."(63) Aus dieser Bestimmung des Denkens als „Reflex" ist keineswegs auf eine Herabsetzung der Komplexität des Denkens zu schließen, auch die (Rück-) Wirkung des Denkens auf die Realität soll nicht geleugnet werden; sondern es geht Engels hier vielmehr darum, die Hegelsche Position zurückzuweisen, die das Denken, den „Produzenten" der Idee, zum „Demiurgen" der gesamten Wirklichkeit macht. Gegenüber dieser Hegeischen Verkehrung hebt Engels hervor, daß das Denken in mehrfacher Weise an die materielle Wirklichkeit gebunden ist. Damit „wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt."(64)

Zunächst einmal unabhängig vom Inhalt einzelner Gesetze und Bestimmungen ist Engels in der Lage, materialistische Dialektik beispielsweise von der Hegeischen idealistischen abzugrenzen und zwar als Konsequenz der materialistischen Einbindung. Aus der materialistischen Position, die voraussetzt, daß Geist oder Denken nur in Verbindung mit dem leiblichen Menschen zu finden ist und alles andere Hypostasierungen sind, ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Dialektik der äußeren Welt, die ja zum größeren Teil aus nicht-menschlicher Natur besteht, historisch und damit in diesem Zusammenhang auch logisch vorgängig ist. Weiterhin, daß der arbeitende und denkende gesellschaftliche Mensch nach Ansicht der Entwicklungstheorie ein Entwicklungsprodukt der Natur ist, aus der er sich herausgearbeitet" hat und mit der er in ständigem Stoffwechsel bleiben muß, um weiter leben, handeln und denken zu können. Das Denken, insoweit schon abhängig von der nicht-menschlichen Natur ist in mehrfacher Hinsicht „Reflex" der äußeren Welt. Im wesentlichen sowohl in seinem „formalen" Zustandekommen (letztlich als Aspekt der Produktionstätigkeit, dem Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur) als auch in seinen Inhalten (dem bewußten Sein, das zwar von Anfang an mehr zum Inhalt hat als die äußere Welt, diese aber zu seiner notwendigen Basis).

Erkannt werden kann dies alles natürlich ohne Mystizismus erst dann, wenn die Menschen ihre eigene Geschichte und die Naturgeschichte zu erforschen beginnen. Daß diese Erkenntnisse wie das Denken überhaupt, unter anderen Aspekten gesehen, sehr wohl die materielle Wirklichkeit - Natur wie Geschichte - bestimmen, wird aus der hier vorliegenden gesamten Darstellung wohl deutlich.

„Hiermit," so faßt Engels die bis hierhin geleistete Bestimmung der „materialistischen Dialektik" zusammen, „war aber die revolutionäre Seite der Hegeischen Philosophie wieder aufgenommen und gleichzeitig von den idealistischen Verbrämungen befreit, die bei Hegel ihre konsequente Durchführung verhindert hatten. Der große Grundgedanke (ist), daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen." Aber, fährt Engels dann fort, diesen großen Grundgedanken „in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei."(65)

Engels kommt dann auf die konstitutive Rolle der modernen empirischen Natur- und Geschichtsforschung zu sprechen, also auf das dritte Moment unseres historischen Fazits. Er stellt dabei fest, und das ist gleichzeitig als paradigmatisch für die weitere Entwicklung zu sehen, daß wir jetzt so weit sind, ein übersichtliches Bild des Naturzusammenhangs in annähernd systematischer Form, nicht durch spekulative Ergänzungen, sondern „vermittelst der durch die empirische Naturwissenschaft selbst gelieferten Tatsachen" kritisch zu erarbeiten. Damit ist die sogenannte Naturphilosophie überholt. „Sie hat ... manche geniale Gedanken gehabt, ... aber auch beträchtlichen Unsinn zutage gefördert,"(66) wie das auf Grund ihres spekulativen Verfahrens nicht anders möglich war.

Entsprechendes stellt Engels für den Bereich der Geschichtsforschung fest: „Was aber von der Natur gilt, die . .. auch als ein geschichtlicher Entwicklungsprozeß erkannt ist, das gilt auch von der Geschichte der Gesellschaft in allen ihren Zweigen."(67) Die Spekulation der Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion usw. ist durch den Aufweis des wirklichen Zusammenhangs zu ersetzen.

Als Ergebnis sowohl des historischen Teils als auch des zuletzt untersuchten systematischen Zusammenhanges läßt sich zusammenfassend festhalten: „materialistische Dialektik" ist ein terminus technicus, der rein analytisch aus seinen beiden Bestandteilen nicht hinreichend inhaltlich bestimmt werden kann. Neben den beiden sich analytisch ergebenden Momenten geht in den Begriff ein drittes ein. Somit ergeben sich für die Bestimmung materialistischer Dialektik:

Erstens das dialektische Moment, unmittelbar von Hegel her entwickelt, zweitens die materialistische Grundauffassung in konsequenterer Form als bei Feuerbach und drittens die Bindung beider an die empirische Natur- und Geschichtsforschung.

Dieser Definitionsversuch, der bei Engels nur implizit entwickelt ist, scheint seinen eigenen Intentionen zumindest nicht zu widersprechen. Dies zeigt seine Stellungnahme zum Problem der Definition, die er im Zusammenhang mit der Definition des „Lebens" abgibt und die unmittelbar auf die hier versuchte Bestimmung von „materialistischer Dialektik" übertragbar scheint: „Unsere Definition des Lebens ist natürlich ungenügend, indem sie, weit entfernt alle Lebenserscheinungen einzuschließen, sich vielmehr auf die aller allgemeinsten und einfachsten beschränken muß." Entsprechendes gilt für die Dialektik-Definition. „Alle Definitionen sind wissenschaftlich von geringem Wert. Um wirklich erschöpfend zu wissen, was das Leben (in unserem Falle, die Dialektik; d.V.) ist, müßten wir alle seine Erscheinungsformen (in unserem Falle, alle Erscheinungsformen der Dialektik; d.V.) durchgehen ... Für den Handgebrauch sind jedoch solche Definitionen sehr bequem und stellenweise nicht gut zu entbehren; sie können auch nicht schaden, solange man nur ihre unvermeidlichen Mängel nicht vergißt."(68)

Damit soll der - für diese Arbeit - zentrale Versuch, „materialistische Dialektik" im- Sinne einer Definition zu bestimmen, abgeschlossen werden. Wir wollen jetzt dazu übergehen, den gewonnenen Dialektikbegriff durch die Erläuterung einiger Prinzipien ansatzweise inhaltlich zu füllen, um wenigsten seinen Einblick in das Engelssche Dialektikmodell insgesamt zu vermitteln. Zu beginnen ist gemäß dem Plan der „Dialektik der Natur" mit:

b. Dialektik als Wissenschaft des - sich bewegenden - Gesamtzusammenhangs

Der Terminus „Dialektik als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs," der in der „Skizze des Gesamtplans" auftaucht, wird in dem sogenannten Artikel „Dialektik" inhaltlich wieder aufgenommen und hier als sich bewegender Gesamtzusammenhang der „Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft" naher bestimmt. Damit ist sowohl als Gegenstand dieser Wissenschaft als auch als Geltungsbereich der Dialektik bestimmt: die gesamte sich verändernde Wirklichkeit bzw. Realität.

Mit welcher Methode werden nun die Inhalte über diesen Gegenstand gewonnen? Engels sagt dazu, daß sie aus der gesamten Wirklichkeit abstrahiert werden und zwar vermittelt durch die Ergebnisse der Wissenschaften, angefangen bei den empirischen Einzel Wissenschaften. Diese Ergebnisse werden so weit verallgemeinert, bis die allgemeinsten Gesetze (als Kern dieser Wissenschaft) „der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst" sich herausstellen. In dieser abstraktiven Vorgehensweise, mit Hilfe derer die Inhalte der Dialektik aus der Wirklichkeit abgeleitet werden (im Gegensatz zu Hegel, der „diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert"69) sieht Engels den Weg der „Entmystifizierung" und Materialisierung der Hegelschen Dialektik, die dadurch einfacher verständlich bzw. überhaupt erst verständlich wird.

Über die Bestimmung dieser beiden für die Entwicklung der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang grundlegenden Momente, Gegenstand und Methode, hinaus führt Engels die Inhalte der daraus resultierenden allgemeinsten Theorie nirgendwo mit dem Ziel der Vollständigkeit aus. Es sind jedoch größere inhaltliche Zusammenhänge ausgearbeitet.

Zunächst zeigt Engels an einer Vielzahl von Kategorien bzw. Begriffen deren dialektischen Inhalt auf. Wir wollen das hier nur für die Begriffe Quantität, Qualität und Negation tun, deren spezifisch-dialektisches Verständnis zusammen mit dem des dialektischen Widerspruchs, den wir bereits in der Definition von Dialektik behandelt haben, für die angemessene Bestimmung der Hauptgesetze der Dialektik notwendig ist. Darüber hinaus müssen wir uns mit dem Verweis begnügen, daß wesentlich mehr Begriffe zum „Inventar" dieser Disziplin gehören (wie Zusammenhang, Bewegung, Wechselwirkung, Zufall, Notwendigkeit usw.). Engels methodisches Prinzip für deren Auswahl ist ja soeben dargestellt worden.

Quantität und Qualität, so macht Engels deutlich, existieren weder einzeln noch gemeinsam als solche - sind einzeln Abstraktionsprodukte - es gibt vielmehr nur Dinge mit Qualitäten in bestimmten Quantitäten.

Die dialektische Negation stellt wie der dialektische Widerspruch eine Erscheinung der gesamten Wirklichkeit dar. Jede Veränderung eines Zustandes ist die Vernichtung oder Negation des alten Zustandes. Entgegen aber der abstrakten, metaphysischen Anschauung bleibt die Dialektik bei diesem Ergebnis (Vernichtung des alten) nicht stehen, sondern sie weist darauf hin, daß jede Negation auch einen neuen Zustand, ein positives Ergebnis zur Folge hat.

Im Mittelpunkt der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang stehen bei Engels die „Hauptgesetze" der Dialektik. „Sie sind ... nichts anderes als die allgemeinsten Gesetze,"(70) die sich aus der Wirklichkeit abstrahieren lassen. „Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation."(71)

Das erste Gesetz stellt bei Aufrechterhaltung der jeweils besonderen Bedeutung von Quantität und Qualität einen Zusammenhang zwischen beiden her. An jeder Qualitäts-Quantitäts-Einheit eines jeden Gegenstandes gehen zu jeder Zeit Veränderungen vor sich - nach Qualität des Gegenstandes und Umständen unterschiedlich. Diese Veränderungen geschehen auf zwei Wegen:

Es ändert sich die Quantität, dann kann der Gegenstand bis zu einer bestimmten Grenze derselbe bleiben; von dieser Grenze an verändert er aber seine Qualität, d.h. er wird ein Gegenstand mit neuen Eigenschaften. Weiter verändert sich mit jeder qualitativen Veränderuag eines Gegenstandes auch die Seite der Quantität. (Zahlreiche Beispiele für diese und die anderen dialektischen Gesetze gibt Engels im „Anti-Dühring" und in der „Dialektik der Natur".)

„Das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze" geht von der Existenz von in sich widersprüchlichen bzw. gegensätzlichen Einheiten aus, nicht nur im Denken, sondern in der gesamten Wirklichkeit: „dialektische Widersprüche." Wir sahen bereits in der Bestimmung der antiken Dialektik, daß Engels in der Bewegung und wechselseitigen Einwirkung (Zusammenhang) der „Dinge" aufeinander die Quelle der dialektischen Widersprüche sieht. D.h. einerseits: „Die abstrakte Identität (= ein Ding kann nicht gleichzeitig und in derselben Hinsicht es selbst und ein anderes sein; d.V.) wie alle metaphysischen Kategorien, reicht aus für den Hausgebrauch"'(72) d.h. für die Untersuchung isolierter Verhältnisse, in denen das Bewegungsmoment vernachlässigt werden kann. Wo andererseits Zusammenhang und Bewegung berücksichtigt werden müssen, wird konkrete Identität untersucht, die „den Unterschied, die Veränderung in sich schließt."(73) Hier sind Identität und Unterschied also nicht unversöhnliche Gegensätze, sondern „einseitige Pole, die nur in ihrer Wechselwirkung, in der Einfassung des Unterschieds in die Identität Wahrheit haben."(74)

„Das Gesetz der Negation der Negation" schließlich baut auf der eben besprochenen „dialektischen Negation" auf. Über diese Kategorie hinaus bringt das Gesetz zum Ausdruck: Die Ergänzung der einfachen Negation zur Negation der Negation, die sich wiederum (beliebig) weiter ergänzen läßt, also eine permanente dialektische Negation. In dieser Form macht sie eine rationale und konkrete Fassung jeder Entwicklung als Zusammenhang von Veränderungen möglich. Über diese dialektisch Negation in Permanenz hinaus ist das Gesetz ein Tendenzgesetz, das ein Fortschreiten vom Niederen zum Höheren zum Ausdruck bringt. In der dialektischen Negation wird das jeweils Entwicklungsfähige, Fortschreitende usw. aufgehoben, als Resultat der Negation erhalten. Dadurch wird „(in der Geschichte teilweise, im Denken ganz) ... der ursprüngliche Ausgangspunkt, aber auf höherer Stufe wieder erreicht,"(75) ein Vorgang, den Engels im Bild der Spiralform der Entwicklung zu veranschaulichen sucht. Tendenzgesetz bedeutet dabei auch, daß es sich bei diesen Entwicklungen um keine einlinigen Mechanismen handelt, sondern diese Höher oder Aufwärtsentwicklungen insgesamt mit partiellen Stillständen und Rückentwicklungen verbunden sind.

An Hand dieses letzten Gesetzes macht Engels deutlich, daß die Gesetze wie alle sehr allgemeinen Inhalte der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang besondere Bestimmungen, Kategorien, Gesetze usw. nicht ersetzen können: Das Gesetz der Negation der Negation ist „... ein äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens"; aber, fährt Engels fort, „es versteht sich von selbst, daß ich über den besondern Entwicklungsprozeß, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation. Denn da die Integralrechnung ebenfalls Negation der Negation ist, würde ich mit der entgegengesetzten Behauptung nur den Unsinn behaupten, der Lebensprozeß eines Gerstenhalms sei Integralrechnung oder meinetwegen auch Sozialismus. ... Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation, so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse ebendeswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet."(76) Entsprechendes gilt von den anderen ebenso allgemeinen Inhalten dieser Wissenschaft.

Neben den Gesetzen der Dialektik soll abschließend auf Engels' „Theorie der Bewegungsformen" eingegangen werden. Denn sie macht sowohl die Radikalität seines Bewegungsbegriffes deutlich (und damit die Bedeutung der Dialektik als Wissenschaft der Bewegung), als sie auch die erste Konkretion der allgemeinsten dialektischen Inhalte, die für die gesamte Wirklichkeit Gültigkeit haben, zur besonderen Dialektik einzelner Wirklichkeitsbereiche darstellt: „Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben und kann es sie geben. ... Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene Bewegungsform."(77) Dabei ist die Bewegung nicht eine Daseinsweise der Materie neben anderen, sondern „die verschiedenen Formen und Arten des Stoffs selbst (sind) . .. nur durch die Bewegung zu erkennen, nur in ihr zeigen sich die Eigenschaften der Körper; . .. ergibt sich die Beschaffenheit der sich bewegenden Körper."(78) So schließt sich die Wirklichkeit für Engels aus verschiedenen Formen der Bewegung „von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken" zu einem unendlichen Verwandlungsprozeß zusammen. Ihm liegen nach Engels ünf Grundformen der Bewegung zugrunde, die aufeinander aufbauen; d.h. die nächste enthält die vorherige in sich, geht aber über diese hinaus, ist komplexer als diese. Die einzelnen Grundformen sind: die mechanische Bewegung, die Bewegung der Moleküle, der Atome, die Bewegung der Organismen und schließlich der Gesellschaft. Wissenschaftlich konstatiert, haben sich zumindest die letzteren historisch auseinander entwickelt und sind auch jetzt in dauernder Umwandlung begriffen.

Für Engels sind diese Grundformen jedoch keine endgültigen Festlegungen, sondern „rationelle Gruppierungen" auf einem bestimmten, nämlich dem damaligen Stand der Forschung. Daß es ihm hier um das Prinzip einer solchen Gruppierung geht, wird in einer Hegelkritik deutlich. Hegel hatte nämlich ebenfalls eine solche Gruppierung versucht, die Engels zwar kritisiert, aber dennoch sehr hoch schätzt, denn er sieht sie natürlich in Abhängigkeit von Hegels Zeit und deren Erkenntnisstand.

Die einzelnen Grundformen der Bewegung und ihre spezielle Dialektik werden von den einzelnen Wissenschaften bzw. Wissenschaftszweigen untersucht.

c. Die Dialektik spezieller Wissenschaftszweige und der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeitsbereiche

Einige kurze und auch mehr formale Bemerkungen zur besonderen Dialektik einzelner Wirklichkeitsbereiche (bzw. Grundformen der Bewegung) und den entsprechenden Wissenschaften sollen den Abschluß unserer Rekonstruktion bilden. Wir gehen dabei aus von der schon desöfteren zitierten Dreiteilung der Realität in Natur, Gesellschaft und Denken. Diese Dreiteilung läßt sich durch die Zusammenfassung der ersten vier Grundformen der Bewegung zum Bereich Natur bilden, wobei dann innerhalb der Grundform Gesellschaft, auf Grund der - ideellen - Besonderheit, das Denken gegenüber den anderen - materiellen - gesellschaftlichen Verhältnissen gesondert behandelt wird, was an seiner Zugehörigkeit zu diesem Bereich allerdings nichts ändert. (Durch die Zusammenfassung aller materiellen Gegebenheiten gegenüber dem Denken entsteht schließlich das Verhältnis: objektive und subjektive Dialektik bei Engels.)

Wir wenden uns in verkürzter Form den einzelnen Bereichen Natur, Gesellschaft und Denken zu, die durch die entsprechenden Wissenschaftsbereiche untersucht werden, deren Gegenstand nun benannt ist und die im wesentlichen mit denselben Methoden (Abstraktion und Verallgemeinerung) die einzelwissenschaftlichen Ergebnisse verarbeiten wie die Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang.

Dialektische Naturforschung und Dialektik der Naturentwicklung. Engels macht deutlich, daß nachdem die Naturforschung des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts die Historizität und den Zusammenhang der gesamten Naturerscheinungen nachgewiesen hat, eine dialektische Naturauffassung jedem, der sich mit der Natur auseinandersetzt, durch den dialektischen Charakter der Tatsachen geradezu aufgezwungen wird. Der weitere Erkenntnisfortschritt in der Naturforschung macht es erforderlich, daß „man dem dialektischen Charakter dieser Tatsachen das Bewußtsein der Gesetze des dialektischen Denkens entgegenbringt"(79) und ihre Inhalte von der Kosmogonie bis zum Leben und dem tierischen Zusammenleben unter dialektischen Gesichtspunkten wieder- und weiter untersucht. Der hauptsächliche Zweck dieser (theoretischen) Arbeit wurde bereits genannt: Optimierung des Stoffwechsels Mensch - Natur.

Dialektische Erforschung der Gesellschaft (Historischer Materialismus) und Dialektik der Geschichte der Menschheit. Ausgehend von der Untersuchung der Gesellschaft, deren dialektischer Charakter mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus immer deutlicher wurde, wurde eine zunehmende Zahl von Gesellschaftstheoretikern, schließlich Marx und Engels zu einer dialektischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung geführt, die bei den letzteren allerdings auch konsequent materialistisch war.

Der marxistische „historische Materialismus" untersucht unter historischem und systematischem Aspekt die besondere Dialektik der gesellschaftlichen Erscheinungen: die Arbeit, die durch sie bedingten Produktionsverhältnisse und die anderen sich darauf gründenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Erkenntnisse über daraus ableitbare Entwicklungstendenzen dienen als Grundlage zur Erarbeitung von konkreten Veränderungskonzepten und deren praktischer - ökonomischer, politischer und ideologischer - Umsetzung. Damit wird die Dialektik des Handelns und der Praxis in den Vordergrund gerückt. Im historischen Materialismus ist die Praxis die zentrale Kategorie, die menschliche Erkenntnistätigkeit ist als ihr Bestandteil zu bestimmen.

Dialektische Erforschung des Denkens und die Dialektik der Geschichte des Denkens. Die Geschichte des Denkens als integraler Bestandteil der menschlichen Geschichte insgesamt führt an dem „Punkt," an dem die Geschichte von Natur und Gesellschaft als dialektische reflektierbar geworden ist, zu der neuen materialistisch und systematisch begründeten Einsicht in den dialektischen Charakter des Denkens selbst.

Damit ist zunächst für Engels die Überwindung der traditionellen Logik verbunden, die nun als Spezialfall (analog dem metaphysischen Denken, dessen Logik sie ja darstellt) einer sie umgreifenden dialektischen Logik begriffen wird.

Die gewonnene Dialektiktheorie bildet die Grundlage für eine dialektische Methodik der Erkenntnis, die die Methodik des Handelns ergänzt.

Schließlich macht die Integration des - gesellschaftlichen wie individuellen - Erkenntnisprozesses in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß die vielfältige Verflochtenheit der Erkenntnis bzw. der Theorie mit der gesellschaftlichen Praxis deutlich (Praxis als Ausgangspunkt der Erkenntnis, als Wahrheitskriterium und Ziel der Erkenntnis).

Engels' Programm eines dialektischen Wisscnschaftssystems. Um den Engelsschen Systematisierungsansatz mindestens formal zu vervollständigen, bleiben auf einer weiteren Ebene der Konkretion die Einzelwissenschaften und ihre speziellen Gegenstände - Teile wiederum eines der drei Teilbereiche - kurz zu behandeln. Zu den zentralen Methoden der bisher geschilderten Wissenschaftsdisziplinen treten im wesentlichen die Methoden der empirischen Forschung hinzu.

Wir wollen hier nur das für die Dialektik des Engelsschen Wissenschaftssystems relevante Prinzip, das in dieser Wissenschaftsstruktur jetzt sichtbar gemacht werden kann, herausstellen: Einerseits ist durch den bisherigen Gang ein Zusammenhang zwischen der abstraktesten (Dialektik-)Theorie und der empirischen Forschung deutlich gemacht worden, der auf der theoretischen und methodischen Grundlegung der konkreteren Wissenschaftsteile durch die abstrakteren beruht. Andererseits sind die Inhalte dieser allgemeinen Disziplinen durch Abstraktion und Verallgemeinerung verarbeitete Ergebnisse der Empirie. D.h. neues empirisches Material und die Inhalte der allgemeinen Disziplinen sind wechselseitig Korrektiv füreinander. Dadurch wird eine kontrollierte Entwicklung in beiden Richtungen festgeschrieben, aus der auch die historische Stellung des Wissens bei Engels deutlich wird: „Man läßt die ... für jeden einzelnen unerreichbare .absolute

Wahrheit' laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens."(80) Dies Prinzip eines dialektisch-materialistischen Wissenschaftssystems scheint also gleichzeitig eine nicht spekulative „Philosophie," die empirisch fundiert ist und permanent empirisch überprüft wird, und eine nicht empiristische Einzelwissenschaft, die durch eben diese „Philosophie" geleitet wird, zu ermöglichen. Das hier für die gesamte dialektisch-materialistische Wissenschaft Gesagte gilt für die dialektischen Inhalte im einzelnen gleichermaßen. In diesem Sinne sagt Engels, daß die Natur - und sinngemäß ist zu ergänzen: die Gesellschaft - die Probe auf die Dialektik darstellen.

Schließlich beinhaltet seine Wissenschaftskonzeption für Engels: Die dialektisch-materialistische Wissenschaft (wie ihre Dialektik) sind nicht Selbstzweck, sondern haben eine praktisch-gesellschaftliche Aufgabe, im Kapitalismus eine primär politische. Insofern wandte sie sich „von vornherein vorzugsweise an die Arbeiterklasse"(81) als das geschichtliche Subjekt, das auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung in der Lage ist, mit Hilfe des wissenschaftlichen Sozialismus den sozialen Fortschritt zu erkämpfen.

D. SCHLUSSBEMERKUNG ZUM STELLENWERT DES HIER DARGESTELLTEN AUSSCHNITTS AUS DEM ENGELSSCHEN DIALEKTIK-MODELL

Am Ende dieses Rekonstruktionsversuches und zum Abschluß des Kapitels soll nicht nochmals auf die zu Anfang dargestellte Diskussion in der Sekundärliteratur eingegangen werden. Der Leser kann sich nun selbst ein erstes Urteil über Aussagen bilden wie die, daß die Dialektik bei Engels auf drei Grundgesetze „zusammenschrumpft," die zudem noch „hypostasiert" werden, und ähnliche Behauptungen, wie sie aus der Sekundärliteratur zitiert wurden. Auch eine Kritik an Engels' Dialektik-Modell wird hier nicht mehr folgen - der Anspruch beschränkte sich von vornherein auf die Rekonstruktion der Engelsschen Dialektikkonzeption in ihren Grundzügen. Zwei Schlußbemerkungen scheinen aber nützlich:

Um zumindest einen Teil neuer Mißverständnisse - an denen die Diskussion um Engels ja ohnehin nicht arm ist - zu vermeiden, sei nochmals auf die Ausschnitthaftigkeit dieser Darstellung hingewiesen. Es sind in der Tat nur Prinzipien der Engelsschen Dialektik dargestellt und, sehr im Ansatz verbleibend, erläutert worden. Allein in den hier zugrunde gelegten Schriften ist noch sehr Vieles - auch von Bedeutung - zu seinem Dialektikmodell zu finden. Um zu einem Urteil über den Dialektiker Engels zu kommen, wären daher zunächst seine theoretischen Schriften vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Dann aber müßten auch die übrigen, vor allem die praktischpolitischen Schriften, die Briefe und nicht zuletzt die Engelssche Praxis unter dem Gesichtspunkt materialistischer Dialektik analysiert werden.

Vergegenwärtigt man sich auf diese Weise den Gesamtrahmen, der bei einer umfassenden Analyse des Engelsschen Modells zu berücksichtigen wäre, stellt sich die Frage nach der Begründung der hier vorgenommenen Auswahl, also des Akzentes auf dem allgemeinsten und abstraktesten Teil des Modells. Der Verfasser sieht die Antwort darin, daß dieser Teil im Marx-Engelsschen Werk den einzigen systematischen Versuch einer theoretischen Grundlegung materialistischer Dialektik darstellt. Hier wird - zumindest im Selbstverständnis von Marx und Engels - der Versuch unternommen, die theoretische wie die die Methode betreffende Grundlage für alle ihre konkreteren Aussagen zu legen.

Darüber hinaus ist dieser Modellausschnitt für zahlreiche spätere Dialektiktheoretiker diese Grundlage geblieben. Deren spätere, hauptsächlich in die Richtung der Konkretisierung und Anwendung gehenden Weiterentwicklungsversuche sind Differenzierungen dieser Engelsschen Grundlegung und verstehen sich als solche. Dabei ist - wie wir teilweise sehen konnten - diese Richtung der Entwicklung von Engels durch seine praktische und theoretische Arbeit selbst gewiesen und vorbereitet worden

ANMERKUNGEN

1) Lukacs, „Was ist orthodoxer Marxismus?" in: Derselbe, Geschichte und Klassenbewußtsein.

2) Lukacs, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats," in: Derselbe, Geschichte und Klassenbewußtsein.

3) Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 14-17.

4) Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S. 66.

5)  Schmidt, Der Begriff dir Natur in der Lehre von Karl Marx.

6) a.a.O., S. 41-48.

7) Dudek, Engels und das Problem der Naturdialektik. Mchringer/Mergner, Debatte um Engels.

Netzsch, Dialektik und Naturwissenschaft: Friedrich Engels als naturwissenschaftlicher Erkenntnistheoretiker.
Frese, Teil des Artikels „Dialektik" über Engels, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie.
Negt, „Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie," in: Ders. (Hrsg.), Bucharin/Deborin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus.

8) Marx, „Das Kapital," MEW, vol. 23, S. 327.

9) Schmidt, Der Begriff der Natur, S. 42.

10) a.a.O., S. 45

11) Engels, Vorworte und Umleitung zu „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (= Anti-Dühring), MEW, vol. 20.

12) Engels, (Notizen und Fragmente) (Aus der Geschichte der Wissenschaft), in: „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20.

13) Schmidt, Der Begriff der Natur, S. 44.

14) Engels, Rezension zur „Kritik der politischen Ökonomie," MEW, vol. 13, S. 472-477. „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 125.

15) Lukacs, „Vorwort März 1967 zu Geschichte und Klassenbewußtsein," Lukacs Werke vol. 2, S. 11-41.

16) Als Vertreter unterschiedlicher Richtungen kommen zum Ergebnis einer Vereinbarkeit von Marxscher und Engelsscher Dialektik /..B.: E. Bloch, s. „Materialismusproblem." H. J. Sandkühler, s. „Praxis und Geschichtsbewußtsein." H. Fleischer, s. „Marx und Engels."

17) Negt, Überlegungen :u einer kritischen Lektüre der Schriften von Marx und Engels.

18) Engels, „Rezension," MEW, vol. 13, S. 472-477-

19) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 305-570.

20) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 1-303.

21) Engels, „Brief an Marx vom 30.5.1873," MEW, vol. 33, S. 80-81.

22) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 305-570.

23) Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft," MEW, vol. 19, S. 189-228.

24) Marx, (Vorbemerkung zur französischen Ausgabe (i 880)), der „Entwicklung," MEW, vol. 19,S. 181.

25) Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie," MEW, vol. 2i, S. 259-307.

26) Engels, „Vorwort" (zur zweiten, durchgesehenen Auflage „Zur Wohnungsfrage"), MEW, vol. 21,8.328.

27) Engels, „Die Entwicklung," MEW, vol. 19, S. 228.

28) Engels, „Vorwort" zur ersten Auflage (in deutscher Sprache (1882)) der „Entwicklung ..."MEW, vol. 19, S. 187-188.

29) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 307-308.

30) s. MEW, vol. 20, S. 764-765.

31) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 307.

32) Ebenda.

33) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 16-26.

34) Engels, „Rezension," MEW, vol. 13,8.475.

35) Engels, „Die Entwicklung," MEW, vol. 19, S. 202.

36) a.a.O., S. 202-203.

37) a.a.O., S. 202.

38) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 333. .

39) a.a.O., S. 458-

40) a.a.O., S. 451.

41) a.a.O., S. 499-

42) a.a.O., S. 499.

43) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 112.

44) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 348.

45) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20,S. 131-132.

46) a.a.O.. S. 22.

47) a.a.O.. S. 20.

48) Ebenda.

49) a.a.O., S. 21.

50) a.a.O., S. 20.

51) a.a.O., S. 19.

52)  a.a.O., S. 21-23.

53)Engels, „ Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 269.

54) Marx, „Nachwort" zur zweiten Auflage des „Kapital," MEW, vol. 23, S. 27.

55) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 334.

56) a.a.O., S. 335.

57) Engels, „Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 292.

58) a.a.O., S. 293.

59) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 334.

60) a.a.O., S. 335.

61) Engels, „Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 293.

62) a.a.O., S. 293.

63) a.a.O., S. 293.

64) a.a.O., S. 293.

65) a.a.O., S. 293.

66) a.a.O., S. 295.

67) a.a.O., S. 295-296.

68) Engels, „Materialien zum Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 578.

69) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 348.

70) a.a.O., S. 348.

71) Ebenda.

72) a.a.O., S. 485.

73) Ebenda.

74) Ebenda.

75) Engels, „Materalien zum Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 583-584. 74 Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 131.

77) a.a.O., S. 55.

78) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 513.

79 Engels, „Vorwort" zu der Auflage von 1894 des Anti-Dühring, MEW, vol. 20, S. 14.

80) Engels, „Ludwig Feucrbach," MEW, vol. 21, S. 270.

81) a.a.O., S. 307.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 3. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 55-84

OCR-Scan  red. trend